Ein großer Familienroman, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Rüstem wächst in einem kleinen Dorf in den Bergen auf. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, er lebt mit seinem Vater und den älteren Geschwistern im Haus seiner Großeltern. Zwischen dem Vater und dem Großvater herrscht ständiger Streit, auch das Verhältnis zwischen den Großeltern ist angespannt. Doch sind sie Rüstems wichtigste Bezugspersonen in einer archaischen Welt, die geprägt ist von patriarchalischen Strukturen, religiösen Riten, Aberglaube, Gewalt und einem politischen Konflikt, der sich dem Jungen nur nach und nach erschließt: Sein ältester Bruder ist in die Berge gegangen, immer wieder durchsuchen Soldaten das Haus der Familie und in der Schule wird ihm verboten, seine Muttersprache Kurdisch zu sprechen. Als seine Großmutter im Sterben liegt, entdeckt Rüstem ein Familiengeheimnis, das viele Jahrzehnte zurückführt in eine Zeit, als in dem längst verfallenen Nachbardorf noch armenische Familien lebten. Zusammen mit seinem Vater macht Rüstem sich auf den Weg dorthin, um der Großmutter ihren letzten Wunsch zu erfüllen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Heimat wird zum Sperrgebiet." In diesem Satz lässt sich Amira El Ahls Rezension am besten zusammenfassen. Fast atemlos schildert sie das Gewaltpanorama dieses Generationenromans, in dem sowohl das armenische, als auch das kurdische Trauma verhandelt werden: Und dabei sind die einen durchaus auch die Mörder der anderen, und beide Gruppen brutal verfolgt von den Türken. Autor Yavuz Ekinci spiegelt das laut Rezensentin in den Hauptfiguren und deren inneren Monologen. Besonders beeindruckt ist sie von der Figur der Armenierin Almast, ursprünglich eine Christin. Sie kann nur als Hatice und als Muslimin unter Kurden überleben, die an der Verfolgung der Armenier beteiligt waren, bevor sie "selbst zu Gejagten" werden. Der Roman ist in der Türkei bereits 2012 erschienen, erläutert die Rezensentin, heute wäre das nicht mehr möglich. Der Autor lebt im deutschen Exil. El Ahl gibt eine eindringliche Leseempfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.12.2023Aufgefressen vom Schweigen
Yavuz Ekinci macht in „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ die Geschichte
des kurdischen Volks zum Thema. Jetzt ist der Roman auf Deutsch erschienen.
Solche Sätze bleiben hängen: „Wie die Kerne eines am Boden geplatzten Granatapfels lagen wir bald verstreut herum.“ Auch ohne den Kontext vermag man sich auszumalen, was hier beschrieben sein könnte. Es ist kein schönes Bild, aber der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci erzählt in seinem Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ selbst grauenhafte Szenen in einer sanften, bildhaften Sprache.
In einem Interview sagte er einmal: „Während ich einen Roman schreibe, lese ich Gedichte, so viele ich nur kann. Nichts ist so makellos, pur und nackt für mich wie ein Vers.“ Nackt und schonungslos ist auch die Geschichte, die Ekinci in seinem ursprünglich 2012 in der Türkei veröffentlichten Roman erzählt: Der kleine Rüstem wächst in den Achtzigerjahren im kurdischen Dorf Mişrîta nahe der Stadt Batman im Südosten der Türkei auf. Dort lebt er mit seiner Familie in Lehmhäusern, die einst die Urgroßeltern gebaut haben. So naiv der erste Teil des Romans aus der kindlichen Perspektive Rüstems geschrieben ist, erzählt er doch auch von Erlebnissen, die auf die damalige politische und gesellschaftliche Situation des Landes hinweisen.
Yavuz Ekinci wurde selbst 1979 in Mişrîta bei Batman geboren, wie sein Protagonist. In seinen Büchern macht er seine Heimat zum Schauplatz und die Geschichte des kurdischen Volks zum Thema. Als sein Roman „Rüyası Bölünenler“ (übersetzt etwa: „Die, deren Träume unterbrochen wurden“) 2014 in der Türkei erschien, fand er ein breites Publikum – zu der Zeit wurde in der Öffentlichkeit noch viel über Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert.
In jenem Roman macht sich ein in Deutschland lebender politischer Flüchtling auf den Weg nach Batman und von dort weiter in die Kandil-Berge. Er sucht dort seinen Bruder, der Guerillakämpfer einer kurdischen Miliz ist. Neun Jahre später, im März 2023, entschied ein Istanbuler Gericht dann allerdings , den Druck und Verkauf des Romans zu verbieten und Exemplare, die sich noch auf dem Markt befanden, zu beschlagnahmen. Der Vorwurf lautete: die erzählte Geschichte stelle Propaganda für die Terrororganisation PKK dar.
Außerdem droht dem Schriftsteller, der seit Juni 2023 mithilfe des PEN Berlin vorübergehend in Deutschland lebt, in der Türkei eine Gefängnisstrafe von bis zu siebeneinhalb Jahren – wegen acht Social-Media-Beiträgen aus den Jahren 2013 und 2014, die Jahre später ausgegraben und als „Terrorpropaganda“ gewertet wurden. Als Reaktion auf das Verbot seines Romans verwies er in einer Stellungnahme darauf, dass das Geschehen darin fiktiv sei: „Wird das Gericht auch die Protagonisten in ,Rüyası Bölünenler‘ verhaften und ins Gefängnis stecken?“
Nun erscheint im Verlag von Antje Kunstmann sein Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ auf Deutsch, das in derselben Gegend spielt. Von Ebubekir, dem älteren Bruder der Hauptfigur Rüstem heißt es, er sei in die Berge gegangen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Gemeint sind die Kandil-Berge im Nordirak, das Rückzugsgebiet der kurdischen PKK. Ebubekir ist Guerillakämpfer – oder war es – und die Familie weiß nicht, ob er noch lebt. Seitdem er verschwunden ist, stürmen immer wieder türkische Soldaten ihr Haus, verprügeln den Vater Mirza und wollen wissen, wo sein Sohn steckt.
Als er eingeschult wird, bemerkt Rüstem plötzlich, dass er den Lehrer nicht versteht. Ihm wird verboten, seine einzige Muttersprache Kurdisch zu sprechen; er soll Türkisch lernen, und wenn er dann doch mal bei einem kurdischen Wort erwischt wird, gibt es eine Rote Karte vom Lehrer.
Die Gründe für all das versteht der Junge noch nicht, beschäftigt sich aber auch nicht damit. Er wächst mit den religiösen Geschichten auf, die ihm sein Großvater Hasan erzählt. Als er zwölf ist, erfährt er von der dunklen Vergangenheit seines Dorfes: Die Bewohner haben vor mehr als 60 Jahren die christlichen Armenier aus dem Nachbardorf getötet und ihre Leichen in die Brunnen geworfen.
Obwohl er hier in erster Linie einen Familienroman schreibt, verbindet Ekinci zwei große Themen: Über die Hinweise auf den Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern legt sich der Kurdenkonflikt in der späteren Türkischen Republik. Blutige Ereignisse, über die in großen Teilen der türkischen Gesellschaft heute noch ungern gesprochen wird. Während die Generationen von Rüstems Urgroßvater und Großvater 1915 und 1916 Armenier umbrachten und glaubten, sich damit ihren Weg ins Paradies zu bahnen, wurden ihre Kinder und Enkel später selbst unterdrückt, weil sie Kurden waren. Insbesondere in den Achtziger- und Neunzigerjahren vertrieb das türkische Militär Kurden aus ihren Dörfern im Südosten der Türkei.
Seine ganze Wucht entwickelt der Roman im zweiten Teil, einem inneren Monolog der im Sterben liegenden Großmutter Hatice, die eigentlich gar nicht Hatice heißt, sondern Almast. Sie ist auch nicht wirklich Kurdin, sondern Armenierin, und hat 80 Jahre zuvor als einzige das Massaker in ihrem Dorf überlebt, während ihre Familie auf unmenschliche Weise niedergemetzelt wurde.
Es sind bildhaft detaillierte, bedrückende Zeilen, mit denen Ekinci dieses Trauma beschreibt. Rüstems Großvater hat Almast aufgenommen, ihr einen anderen Namen gegeben, sie geheiratet und ihr den Islam aufgezwungen. Aufgefressen von einem lebenslangen Schweigen, der Selbstverleugnung und dem Alleinsein mit unerträglichen Erinnerungen, spricht sie an ihrem Sterbebett ihren letzten Wunsch aus: Sie will in ihrem armenischen Dorf begraben werden.
Und so begeben sich Mirza und Rüstem mit ihrem Sarg auf den Weg an einen Ort, zu dem sie eigentlich nicht dürfen. Das türkische Militär hat das Gebiet unterhalb der Berge abgesperrt und vermint. Am Ende dieser verstörenden Reise bleibt nichts als Entsetzen und Schwere zurück.
Die verlorenen Leben dreier Generationen bringt dieser Roman zusammen, und so trifft der türkische Originaltitel „Cennetin Kayıp Toprakları“ („Die verlorene Erde des Paradieses“), sowohl den Kern der Geschichte als auch den bildhaften Stil, in der sie geschrieben ist. 2011 lieferte der dritte Teil des Romans noch vor seiner Erscheinung die Inspiration für den Film „İz-Rêç“ (türkisch und kurdisch für „Spur“) von Tayfur Aydın, der einen Sonderpreis des Istanbul Film Festivals gewann.
AYÇA BALCI
Yavuz Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag, München 2023. 325 Seiten, 26 Euro.
Dem Vorwurf der Terrorpropaganda ausgesetzt: der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci.
Foto: Muhsin Akgun
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Yavuz Ekinci macht in „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ die Geschichte
des kurdischen Volks zum Thema. Jetzt ist der Roman auf Deutsch erschienen.
Solche Sätze bleiben hängen: „Wie die Kerne eines am Boden geplatzten Granatapfels lagen wir bald verstreut herum.“ Auch ohne den Kontext vermag man sich auszumalen, was hier beschrieben sein könnte. Es ist kein schönes Bild, aber der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci erzählt in seinem Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ selbst grauenhafte Szenen in einer sanften, bildhaften Sprache.
In einem Interview sagte er einmal: „Während ich einen Roman schreibe, lese ich Gedichte, so viele ich nur kann. Nichts ist so makellos, pur und nackt für mich wie ein Vers.“ Nackt und schonungslos ist auch die Geschichte, die Ekinci in seinem ursprünglich 2012 in der Türkei veröffentlichten Roman erzählt: Der kleine Rüstem wächst in den Achtzigerjahren im kurdischen Dorf Mişrîta nahe der Stadt Batman im Südosten der Türkei auf. Dort lebt er mit seiner Familie in Lehmhäusern, die einst die Urgroßeltern gebaut haben. So naiv der erste Teil des Romans aus der kindlichen Perspektive Rüstems geschrieben ist, erzählt er doch auch von Erlebnissen, die auf die damalige politische und gesellschaftliche Situation des Landes hinweisen.
Yavuz Ekinci wurde selbst 1979 in Mişrîta bei Batman geboren, wie sein Protagonist. In seinen Büchern macht er seine Heimat zum Schauplatz und die Geschichte des kurdischen Volks zum Thema. Als sein Roman „Rüyası Bölünenler“ (übersetzt etwa: „Die, deren Träume unterbrochen wurden“) 2014 in der Türkei erschien, fand er ein breites Publikum – zu der Zeit wurde in der Öffentlichkeit noch viel über Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert.
In jenem Roman macht sich ein in Deutschland lebender politischer Flüchtling auf den Weg nach Batman und von dort weiter in die Kandil-Berge. Er sucht dort seinen Bruder, der Guerillakämpfer einer kurdischen Miliz ist. Neun Jahre später, im März 2023, entschied ein Istanbuler Gericht dann allerdings , den Druck und Verkauf des Romans zu verbieten und Exemplare, die sich noch auf dem Markt befanden, zu beschlagnahmen. Der Vorwurf lautete: die erzählte Geschichte stelle Propaganda für die Terrororganisation PKK dar.
Außerdem droht dem Schriftsteller, der seit Juni 2023 mithilfe des PEN Berlin vorübergehend in Deutschland lebt, in der Türkei eine Gefängnisstrafe von bis zu siebeneinhalb Jahren – wegen acht Social-Media-Beiträgen aus den Jahren 2013 und 2014, die Jahre später ausgegraben und als „Terrorpropaganda“ gewertet wurden. Als Reaktion auf das Verbot seines Romans verwies er in einer Stellungnahme darauf, dass das Geschehen darin fiktiv sei: „Wird das Gericht auch die Protagonisten in ,Rüyası Bölünenler‘ verhaften und ins Gefängnis stecken?“
Nun erscheint im Verlag von Antje Kunstmann sein Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ auf Deutsch, das in derselben Gegend spielt. Von Ebubekir, dem älteren Bruder der Hauptfigur Rüstem heißt es, er sei in die Berge gegangen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Gemeint sind die Kandil-Berge im Nordirak, das Rückzugsgebiet der kurdischen PKK. Ebubekir ist Guerillakämpfer – oder war es – und die Familie weiß nicht, ob er noch lebt. Seitdem er verschwunden ist, stürmen immer wieder türkische Soldaten ihr Haus, verprügeln den Vater Mirza und wollen wissen, wo sein Sohn steckt.
Als er eingeschult wird, bemerkt Rüstem plötzlich, dass er den Lehrer nicht versteht. Ihm wird verboten, seine einzige Muttersprache Kurdisch zu sprechen; er soll Türkisch lernen, und wenn er dann doch mal bei einem kurdischen Wort erwischt wird, gibt es eine Rote Karte vom Lehrer.
Die Gründe für all das versteht der Junge noch nicht, beschäftigt sich aber auch nicht damit. Er wächst mit den religiösen Geschichten auf, die ihm sein Großvater Hasan erzählt. Als er zwölf ist, erfährt er von der dunklen Vergangenheit seines Dorfes: Die Bewohner haben vor mehr als 60 Jahren die christlichen Armenier aus dem Nachbardorf getötet und ihre Leichen in die Brunnen geworfen.
Obwohl er hier in erster Linie einen Familienroman schreibt, verbindet Ekinci zwei große Themen: Über die Hinweise auf den Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern legt sich der Kurdenkonflikt in der späteren Türkischen Republik. Blutige Ereignisse, über die in großen Teilen der türkischen Gesellschaft heute noch ungern gesprochen wird. Während die Generationen von Rüstems Urgroßvater und Großvater 1915 und 1916 Armenier umbrachten und glaubten, sich damit ihren Weg ins Paradies zu bahnen, wurden ihre Kinder und Enkel später selbst unterdrückt, weil sie Kurden waren. Insbesondere in den Achtziger- und Neunzigerjahren vertrieb das türkische Militär Kurden aus ihren Dörfern im Südosten der Türkei.
Seine ganze Wucht entwickelt der Roman im zweiten Teil, einem inneren Monolog der im Sterben liegenden Großmutter Hatice, die eigentlich gar nicht Hatice heißt, sondern Almast. Sie ist auch nicht wirklich Kurdin, sondern Armenierin, und hat 80 Jahre zuvor als einzige das Massaker in ihrem Dorf überlebt, während ihre Familie auf unmenschliche Weise niedergemetzelt wurde.
Es sind bildhaft detaillierte, bedrückende Zeilen, mit denen Ekinci dieses Trauma beschreibt. Rüstems Großvater hat Almast aufgenommen, ihr einen anderen Namen gegeben, sie geheiratet und ihr den Islam aufgezwungen. Aufgefressen von einem lebenslangen Schweigen, der Selbstverleugnung und dem Alleinsein mit unerträglichen Erinnerungen, spricht sie an ihrem Sterbebett ihren letzten Wunsch aus: Sie will in ihrem armenischen Dorf begraben werden.
Und so begeben sich Mirza und Rüstem mit ihrem Sarg auf den Weg an einen Ort, zu dem sie eigentlich nicht dürfen. Das türkische Militär hat das Gebiet unterhalb der Berge abgesperrt und vermint. Am Ende dieser verstörenden Reise bleibt nichts als Entsetzen und Schwere zurück.
Die verlorenen Leben dreier Generationen bringt dieser Roman zusammen, und so trifft der türkische Originaltitel „Cennetin Kayıp Toprakları“ („Die verlorene Erde des Paradieses“), sowohl den Kern der Geschichte als auch den bildhaften Stil, in der sie geschrieben ist. 2011 lieferte der dritte Teil des Romans noch vor seiner Erscheinung die Inspiration für den Film „İz-Rêç“ (türkisch und kurdisch für „Spur“) von Tayfur Aydın, der einen Sonderpreis des Istanbul Film Festivals gewann.
AYÇA BALCI
Yavuz Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag, München 2023. 325 Seiten, 26 Euro.
Dem Vorwurf der Terrorpropaganda ausgesetzt: der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci.
Foto: Muhsin Akgun
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2024Heimat wird zum Sperrgebiet
Beraubt all dessen, was einen Menschen ausmacht: Yavuz Ekincis großer Roman "Das ferne Dorf meiner Kindheit" erzählt vom türkisch-
kurdischen Konflikt.
Über dieser Geschichte liegt ein Schmerz, der sich wie eine dunkle Wolke über das Leben ihrer Protagonisten legt und sich aus Verlust speist. Verlust der Heimat, der eigenen Identität, der Selbstbestimmtheit, der Liebe. Und der tief sitzende Schmerz, im eigenen Verlust nicht verstanden zu werden.
Der kurdische Schriftsteller Yavuz Ekinci hat mit "Das ferne Dorf meiner Kindheit" einen großen Familienroman geschrieben, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Im Kleinen wird hier von einem der längsten und ältesten Konflikte erzählt, den die Weltgemeinschaft nicht befrieden kann. Im Original lautet der Titel des bereits 2012 in der Türkei erschienenen Werks "Die verlorene Erde des Paradieses", und dieser Titel trifft es genauer, denn Verlust ist es, was den Roman treibt - auch wenn sich manche Trauer erst nach und nach erschließt.
Ekinci erzählt die Geschichte mehrerer Generationen, die unterschiedliche Traumata zu verarbeiten haben: Vertreibung, Mord, Schuld, Verleugnung. Es geht um die bittere Geschichte der Türkei und Kurdistans im zwanzigsten Jahrhundert. Plastisch beschreibt Ekinci die Brutalität türkischer Soldaten gegenüber kurdischen Dorfbewohnern, ihre gefühlte Überlegenheit, die sich in jedem Tritt in die Magengrube der am Boden Liegenden ausdrückt.
Ekinci wurde 1979 in Batman im kurdischen Südosten der Türkei geboren. Seine Geschichte spielt dort, wo er aufgewachsen ist. Als er begann, den Roman zu schreiben, war er gerade Anfang zwanzig und sehr wütend, wie er in einem Gespräch mit dem "Tagesspiegel" erzählt hat: "Ich fand, dass dieser Stoff eine harte, eine realistische, aber auch zerstörerische Sprache erfordert. Das Land ist in eine Art Hölle verwandelt worden, in einen verfluchten Ort. Seit hundert Jahren gibt es Gewalt mit unglaublich vielen Toten und schrecklichem Leid."
Der erste Teil des Romans erzählt aus der kindlichen Perspektive Rüstems, des jüngsten Mitglieds der Familie, vom Aufwachsen im Südosten der Türkei in den Achtzigerjahren. Es sind Bilder einer noch nicht verstehenden Kinderseele, durch deren Augen wir den Alltag in einem Dorf in den Bergen erleben. Traditionen, Riten, Märchen, Magie, Religion und Aberglaube mischen sich in dieser patriarchalen Gesellschaft zu einem sich immer wiederholenden Rhythmus der Jahreszeiten. Doch Rüstems Kindheit ist nicht nur unbeschwert. Sein älterer Bruder Ebubekir ist als Guerillakämpfer in die Berge geflüchtet, der Vater Mirza trauert und bangt um den Sohn, nie wissend, ob dieser noch lebt und kämpft oder schon längst von einer der vielen Granaten der Armee, die in den nahen Bergen einschlagen, zerfetzt wurde. Als der Sohn einmal für Sekunden im Fernsehen zu sehen ist, wird von da an alles in einer Zeitrechnung vor und nach diesen Fernsehbildern gemessen. Gleichzeitig leidet Mirza unter seinem patriarchalen Vater Hasan, der ein dunkles Geheimnis hütet, für Rüstem jedoch ein liebevoller Großvater ist.
Die Unterdrückung, die auf den Menschen lastet, erfährt Rüstem zum ersten Mal am eigenen Leib, als er eingeschult wird. Hier wird ihm die eigene und einzige Sprache genommen, die er spricht. Rüstem erinnert sich so: "Der Lehrer baute sich vor uns auf und sagte: 'Ihr redet von jetzt an nur noch Türkisch, ob zu Hause, in der Schule oder auf dem Feld. Kurdisch ist verboten. Und wer sich nicht daran hält, kriegt eine Tracht Prügel von mir. Ein paar von euch bekommen von mir den Auftrag, jeden zu melden, der weiterhin Kurdisch spricht.'" Unterdrückung mit System, Freunde werden zu Spitzeln der Obrigkeit.
Im zweiten Teil des Romans wechselt nicht nur die Perspektive der erzählenden Person, sondern hier eröffnet sich dem Leser auch eine weitere Dimension des Konflikts: Es ist der wuchtige innere Monolog von Hatice, der im Sterben liegenden Großmutter Rüstems. Sie ist verstummt, aber innerlich leidet sie Seelenqualen. "Mir war meine Religion genommen worden, mein Name, mein Dorf war geplündert worden, meine Angehörigen niedergemetzelt und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, und ich stand da und schwieg, als hätte ich geschworen, nie wieder zu sprechen."
Sie, die eigentlich Armenierin und gläubige Christin ist, überlebte als Einzige das Massaker an ihrer Familie, ihrem Dorf. Gefunden wurde sie von Hasan, der sie aufnahm, doch damit verlor sie das Letzte, was ihr geblieben war aus dem alten Leben: ihre Identität. Es ist ein Schmerz, der sie nie verlässt.
Aus der Christin Almast wird die Muslimin Hatice, und ihr wird nicht nur der Name genommen, sondern Vergangenheit und Seele. Sie lebt unter den Mördern, und die Ironie der Geschichte ist, dass jene, die sich schuldig an der Vertreibung und den Massakern an den Armeniern gemacht haben, später selbst zu Gejagten werden, die ihrer Identität und Heimat beraubt werden sollen. "Wenn ich an die Täler dachte, in denen man Frauen und Kindern den Bauch und die Kehle durchtrennt hatte, und daran, dass ich unter dem gleichen Himmel mit Menschen zusammenlebte, die den Opfern, die sie abgeschlachtet hatten, noch nicht einmal ein Grab gönnten." Noch auf dem Sterbebett hadert Hatice mit diesem Schicksal.
Als Mirza den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen will, wird deutlich, wie unbarmherzig die türkische Regierung den Menschen eine Rückkehr in ihre Heimat verwehrt und damit deren Identität und Geschichte auszulöschen versucht. Ihre Wurzeln werden aus dem Boden gerissen und dürfen nie wieder den Boden dieser Gegend berühren. Noch nicht einmal die Toten dürfen in dieser Erde begraben werden. Heimat wird zum Sperrgebiet.
Ekinci erzählt diese oft brutale Geschichte in sehr poetischer und bildlicher Sprache, die oft märchenhaft und rätselhaft erscheint. Der Schriftsteller lebt seit Juni 2023 in Deutschland, PEN Berlin unterstützt ihn. In der Türkei stand der Autor mehrfach vor Gericht, ihm wird "terroristische Propaganda" vorgeworfen, weil er sich in Social-Media-Beiträgen von 2013 und 2014 solidarisch mit den Kurden gezeigt hatte, ihm drohen mehrere Jahre Gefängnis. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass dieser düstere, brutale Roman 2012 in der Türkei erscheinen konnte.
Damals sei in der Türkei viel über die Notwendigkeit einer Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert worden, sagte Ekinci. Davon ist heute in der Türkei unter Präsident Erdogan längst nichts mehr zu spüren. Umso wichtiger ist ein Werk wie "Das ferne Dorf meiner Kindheit", um den Schmerz und das erlittene Unrecht nicht zu vergessen. Für Ekinci sollte die "Schriftstellerei uns helfen, Menschen zu verstehen, uns einzufühlen auch in jene, mit denen wir gar nicht einverstanden sind". AMIRA EL AHL
Yavuz Ekinci : "Das ferne Dorf meiner Kindheit". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag, München 2023. 325 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beraubt all dessen, was einen Menschen ausmacht: Yavuz Ekincis großer Roman "Das ferne Dorf meiner Kindheit" erzählt vom türkisch-
kurdischen Konflikt.
Über dieser Geschichte liegt ein Schmerz, der sich wie eine dunkle Wolke über das Leben ihrer Protagonisten legt und sich aus Verlust speist. Verlust der Heimat, der eigenen Identität, der Selbstbestimmtheit, der Liebe. Und der tief sitzende Schmerz, im eigenen Verlust nicht verstanden zu werden.
Der kurdische Schriftsteller Yavuz Ekinci hat mit "Das ferne Dorf meiner Kindheit" einen großen Familienroman geschrieben, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Im Kleinen wird hier von einem der längsten und ältesten Konflikte erzählt, den die Weltgemeinschaft nicht befrieden kann. Im Original lautet der Titel des bereits 2012 in der Türkei erschienenen Werks "Die verlorene Erde des Paradieses", und dieser Titel trifft es genauer, denn Verlust ist es, was den Roman treibt - auch wenn sich manche Trauer erst nach und nach erschließt.
Ekinci erzählt die Geschichte mehrerer Generationen, die unterschiedliche Traumata zu verarbeiten haben: Vertreibung, Mord, Schuld, Verleugnung. Es geht um die bittere Geschichte der Türkei und Kurdistans im zwanzigsten Jahrhundert. Plastisch beschreibt Ekinci die Brutalität türkischer Soldaten gegenüber kurdischen Dorfbewohnern, ihre gefühlte Überlegenheit, die sich in jedem Tritt in die Magengrube der am Boden Liegenden ausdrückt.
Ekinci wurde 1979 in Batman im kurdischen Südosten der Türkei geboren. Seine Geschichte spielt dort, wo er aufgewachsen ist. Als er begann, den Roman zu schreiben, war er gerade Anfang zwanzig und sehr wütend, wie er in einem Gespräch mit dem "Tagesspiegel" erzählt hat: "Ich fand, dass dieser Stoff eine harte, eine realistische, aber auch zerstörerische Sprache erfordert. Das Land ist in eine Art Hölle verwandelt worden, in einen verfluchten Ort. Seit hundert Jahren gibt es Gewalt mit unglaublich vielen Toten und schrecklichem Leid."
Der erste Teil des Romans erzählt aus der kindlichen Perspektive Rüstems, des jüngsten Mitglieds der Familie, vom Aufwachsen im Südosten der Türkei in den Achtzigerjahren. Es sind Bilder einer noch nicht verstehenden Kinderseele, durch deren Augen wir den Alltag in einem Dorf in den Bergen erleben. Traditionen, Riten, Märchen, Magie, Religion und Aberglaube mischen sich in dieser patriarchalen Gesellschaft zu einem sich immer wiederholenden Rhythmus der Jahreszeiten. Doch Rüstems Kindheit ist nicht nur unbeschwert. Sein älterer Bruder Ebubekir ist als Guerillakämpfer in die Berge geflüchtet, der Vater Mirza trauert und bangt um den Sohn, nie wissend, ob dieser noch lebt und kämpft oder schon längst von einer der vielen Granaten der Armee, die in den nahen Bergen einschlagen, zerfetzt wurde. Als der Sohn einmal für Sekunden im Fernsehen zu sehen ist, wird von da an alles in einer Zeitrechnung vor und nach diesen Fernsehbildern gemessen. Gleichzeitig leidet Mirza unter seinem patriarchalen Vater Hasan, der ein dunkles Geheimnis hütet, für Rüstem jedoch ein liebevoller Großvater ist.
Die Unterdrückung, die auf den Menschen lastet, erfährt Rüstem zum ersten Mal am eigenen Leib, als er eingeschult wird. Hier wird ihm die eigene und einzige Sprache genommen, die er spricht. Rüstem erinnert sich so: "Der Lehrer baute sich vor uns auf und sagte: 'Ihr redet von jetzt an nur noch Türkisch, ob zu Hause, in der Schule oder auf dem Feld. Kurdisch ist verboten. Und wer sich nicht daran hält, kriegt eine Tracht Prügel von mir. Ein paar von euch bekommen von mir den Auftrag, jeden zu melden, der weiterhin Kurdisch spricht.'" Unterdrückung mit System, Freunde werden zu Spitzeln der Obrigkeit.
Im zweiten Teil des Romans wechselt nicht nur die Perspektive der erzählenden Person, sondern hier eröffnet sich dem Leser auch eine weitere Dimension des Konflikts: Es ist der wuchtige innere Monolog von Hatice, der im Sterben liegenden Großmutter Rüstems. Sie ist verstummt, aber innerlich leidet sie Seelenqualen. "Mir war meine Religion genommen worden, mein Name, mein Dorf war geplündert worden, meine Angehörigen niedergemetzelt und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, und ich stand da und schwieg, als hätte ich geschworen, nie wieder zu sprechen."
Sie, die eigentlich Armenierin und gläubige Christin ist, überlebte als Einzige das Massaker an ihrer Familie, ihrem Dorf. Gefunden wurde sie von Hasan, der sie aufnahm, doch damit verlor sie das Letzte, was ihr geblieben war aus dem alten Leben: ihre Identität. Es ist ein Schmerz, der sie nie verlässt.
Aus der Christin Almast wird die Muslimin Hatice, und ihr wird nicht nur der Name genommen, sondern Vergangenheit und Seele. Sie lebt unter den Mördern, und die Ironie der Geschichte ist, dass jene, die sich schuldig an der Vertreibung und den Massakern an den Armeniern gemacht haben, später selbst zu Gejagten werden, die ihrer Identität und Heimat beraubt werden sollen. "Wenn ich an die Täler dachte, in denen man Frauen und Kindern den Bauch und die Kehle durchtrennt hatte, und daran, dass ich unter dem gleichen Himmel mit Menschen zusammenlebte, die den Opfern, die sie abgeschlachtet hatten, noch nicht einmal ein Grab gönnten." Noch auf dem Sterbebett hadert Hatice mit diesem Schicksal.
Als Mirza den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen will, wird deutlich, wie unbarmherzig die türkische Regierung den Menschen eine Rückkehr in ihre Heimat verwehrt und damit deren Identität und Geschichte auszulöschen versucht. Ihre Wurzeln werden aus dem Boden gerissen und dürfen nie wieder den Boden dieser Gegend berühren. Noch nicht einmal die Toten dürfen in dieser Erde begraben werden. Heimat wird zum Sperrgebiet.
Ekinci erzählt diese oft brutale Geschichte in sehr poetischer und bildlicher Sprache, die oft märchenhaft und rätselhaft erscheint. Der Schriftsteller lebt seit Juni 2023 in Deutschland, PEN Berlin unterstützt ihn. In der Türkei stand der Autor mehrfach vor Gericht, ihm wird "terroristische Propaganda" vorgeworfen, weil er sich in Social-Media-Beiträgen von 2013 und 2014 solidarisch mit den Kurden gezeigt hatte, ihm drohen mehrere Jahre Gefängnis. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass dieser düstere, brutale Roman 2012 in der Türkei erscheinen konnte.
Damals sei in der Türkei viel über die Notwendigkeit einer Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert worden, sagte Ekinci. Davon ist heute in der Türkei unter Präsident Erdogan längst nichts mehr zu spüren. Umso wichtiger ist ein Werk wie "Das ferne Dorf meiner Kindheit", um den Schmerz und das erlittene Unrecht nicht zu vergessen. Für Ekinci sollte die "Schriftstellerei uns helfen, Menschen zu verstehen, uns einzufühlen auch in jene, mit denen wir gar nicht einverstanden sind". AMIRA EL AHL
Yavuz Ekinci : "Das ferne Dorf meiner Kindheit". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag, München 2023. 325 S., geb., 26,- Euro.
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