Anfang April 1913 erhielt Proust die ersten Druckbogen seines monumentalen Romans, der damals noch den Titel trug: »Flimmern des Herzens« (»Les Intermittences du Coeur«). Drei Verlage hatten das Buch abgelehnt - bis Bernard Grasset es schließlich in seinem noch unbekannten Verlag veröffentlichen wollte. Die Genfer Stiftung Bodmeriana beherbergt mit den Korrekturbögen der ersten Fassung eines der großen Rätsel der Literaturgeschichte: Statt bloß letzte Anpassungen vorzunehmen und Fehler zu beseitigen, entwarf Proust mitten auf den Druckfahnen handschriftlich ein neues Buch. Aus der »Verlorenen Zeit« wurde Auf der Seite von Swann, aus dem »Flimmern des Herzens« die Suche nach der verlorenen Zeit - nun kann man die verschollene Version zum ersten Mal in deutscher Übersetzung lesen und die Verwandlung in das Jahrhundertwerk Seite für Seite mitverfolgen. Die vorliegende Neuübersetzung des mehrfach ausgezeichneten Übersetzers Stefan Zweifel stellt die beiden Versionen des Romans gegenüber: Die Druckfahnen von 1913 und die endgültige Fassung unter dem Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Damals entwickelte Proust seine literarische Methode, sein Buch auf Grundlage der Druckfahnen ganz neu zu komponieren. Der vorliegende Band präsentiert auf spektakuläre Weise die Keimzelle seines Denkens und Schreibens: Das mit Lindenblütentee getränkte Gebäck Madeleine, aus der seine Kindheitserinnerungen aufsteigen, die sadistischen Rituale von Mlle de Vinteuil, die mit ihrer Geliebten das Porträt ihres toten Vaters entweiht, das endlose Ringen um einen Gutenachtkuss von Maman, die erste Liebe zu einem Mädchen zwischen Weißdornhecken und die an Claude Monet geschulte Beschreibung der Flusslandschaft von Combray.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2021Er studierte allein sich selbst und die Welt
Die Länge der "Suche nach der verlorenen Zeit" wäre eine Zumutung, wenn sie nicht tiefen Sinn hätte: Über Marcel Proust, das Gesellschaftstier und den phänomenalen Seelenzergliederer, der nie arbeiten musste.
Von Jürgen Kaube
Die Bedeutung eines Werkes erschließt sich meistens nicht durch einmalige Lektüre. Doch was machen wir, wenn der wiederholten Lektüre durch das Werk selbst Grenzen gesetzt sind? Kaum eine Erinnerung an das Romanwerk von Marcel Proust, die nicht zu den vielerlei Gründen, von ihm fasziniert zu sein, den Hinweis auf seine Länge hinzufügt. Der vor einhundertfünfzig Jahren geborene Autor hat mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" im Grunde nur ein einziges Buch geschrieben, in sieben Bänden und auf ungefähr viertausendfünfhundert Seiten. Ein Buch über einen Erzähler, das aus seiner Perspektive berichtet, wie er zum Schriftsteller wird, indem er seinen Kindheitserinnerungen nachgeht, den "Sensationen" der Natur und Kunst, der Liebe und der Eifersucht, der Interaktion in den adeligen und bürgerlichen Salons in Paris zwischen Belle Époque und Erstem Weltkrieg sowie der Erfahrung des eigenen Müßiggangs - auch das heißt "temps perdu", vertane Zeit. Viertausendfünfhundert Seiten zur Frage, woran sich geistige Weltwahrnehmung einer Zeit schult.
Alles andere aus Prousts Feder sind Vorarbeiten, Seitenwege, interessante Übungen, diesseits der Forschung aber unwichtig und wichtig allenfalls zum Verständnis der Entstehung des großen Romans. Das eine Werk wiederum, da ist nichts zu machen, erschließt sich allein durch vollständige Lektüre. Es hat keinen Sinn, nur die Kindheitserinnerungen des Erzählers im ersten Band zu lesen, die Beschreibungen der Pariser Partys in Band drei für ein eigenständiges Buch zu halten oder sich ganz den Fanatismen des masochistischen Eros in Band fünf zu widmen. Prousts Figuren kehren wieder, sie altern im Roman, sie haben überraschende Karrieren, oder es wiederholt sich in ihnen, was zuvor geschah.
Die Geliebte des ersten Protagonisten etwa, Charles Swann, zu dem und seiner Tochter der Erzähler in Band eins aufschaut, hält den Maler Vermeer für einen Zeitgenossen und verliert das Interesse an ihm, als sie erfahren muss, man wisse nicht einmal etwas über seine Frau. Drei Bände und zwanzig Jahre später denkt in "Sodom und Gomorrha" die Geliebte des Erzählers, Albertine, als von den Vermeers in Holland die Rede ist, es handele sich um eine dortige Familie, und verneint, sie zu kennen. So geht es ständig. Ein ganzes Kapitel widmet der Erzähler eingangs der These, in Ortsnamen sei die Essenz der Orte aufbewahrt, später himmelt er fast einen ganzen Band lang eine Herzogin nicht zuletzt aufgrund ihres Namens an, noch später tritt ein Professor auf, der die Geselligkeit ständig mit etymologischen Ableitungen von Eigennamen unterhält oder quält. Nichts geht verloren, vieles zeigt erst seine schöne, dann seine groteske oder böse Seite. Die "Recherche" existiert nur in der Einzahl. Das macht sie zu einem der längsten Romane der Literaturgeschichte.
Doch der Anatole France zugeschriebene Satz, das Leben sei zu kurz, Proust hingegen zu lang, bezog sich nicht so sehr auf den Umfang des Werks. Er meinte Prousts Sätze, deren Nebensatzverkettungen dem Dichter die Beschreibung eingetragen haben, er formuliere im Französischen deutsch.
Nehmen wir nur diesen über die bettlägerige Tante des Erzählers: "Sie liebte uns wirklich und wahrhaftig, es hätte ihr Genuß bereitet, uns innig zu beweinen, die etwa in einem Augenblick, da sie sich wohlfühlte und nicht an Schweißausbrüchen litt, eintreffende Nachricht, daß das Haus einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen und die ganze Familie dabei umgekommen sei, daß bald kein Stein mehr davon stehen werde, wobei ihr aber noch Zeit bleibe, sich ohne Eile in Sicherheit zu bringen, sofern sie auf der Stelle aufstehe, hat sicher als Möglichkeit in ihren Hoffnungen eine Rolle gespielt, besonders da sich hier zu dem nicht ganz so ins Gewicht fallenden Vorteil, ihre ganze Liebe zu uns in langer Wehmut auszukosten und zum grenzenlosen Staunen des ganzen Dorfes unseren Trauerzug anzuführen - mutig, wenn auch tiefgebeugt, todgeweiht, aber ungebrochen -, noch jene weit verlockendere gesellt hätte, daß sie dann gerade im richtigen Augenblick ohne enervierendes Zaudern den Sommer auf ihrem hübschen Landbesitz Mirougrain hätte verbringen können, wo es einen Wasserfall gab."
An dieser Stelle ist erkennbar, dass die Längen Prousts oft nicht solche der Hingabe an Reflexion sind, die dem Roman zunächst seine kontemplative Atmosphäre geben und später, wenn die Eifersucht mächtig wird, über Hunderte von Seiten zu so unerbittlichem wie sinnlosem Hin- und Herwenden von Verdächtigungen und taktischen Plänen führen. Proust ist vielmehr lang aus Genauigkeit, hier in der Schilderung einer maliziösen Seele. Er häuft ihre scheinheiligen Motive, um sie am Ende in die selbstgerechte Freude am Besitz eines Wasserfalls münden zu lassen. Aber Seebilder, Theaterabende, Blumen, Klaviersonaten und Gesichter behandelt er ganz genauso, mit unermüdlicher Aufmerksamkeit. Immer entdeckt er dabei etwas Vergleichbares. Wendungen, etwas sei "wie" etwas anderes, stehen auf jeder dritten Seite: "Er verkroch sich wie ein Reisender, der ohne Neugier, stumpf und starr, in der Eisenbahn im Halbschlaf seinen Hut über die Augen schiebt." Alles, was zum Hinsehen, Beschreiben und Denken zwingt, hängt bei ihm untereinander zusammen. Theaterlogen sind Meeresgrotten, Restaurants Aquarien, Liebe nur die Bedingung dafür, das Leid der Eifersucht auskosten zu können. Gilles Deleuze hat es so formuliert: Prousts Dichtung rivalisiere mit der Philosophie.
Warum also soll man sich auf den weiten Weg dieses Werks begeben, womöglich sogar mehrfach? Warum etwa, so hat ein früher Kritiker sinngemäß formuliert, einem Knaben sechzig Seiten lang bei seinem vergeblichen Versuch folgen, ohne Gutenachtkuss einzuschlafen? Eine Antwort darauf liegt im Arsenal der Figuren Prousts. Sie werden meistens ganz klar gezeichnet und bis in die Winkel ihrer Kleinlichkeit und Größe ausgeleuchtet. Und dann werden sie auf einmal ihr Gegenteil. Oder besser: Es wird deutlich, dass wir und oft auch der Erzähler etwas Entscheidendes an ihnen nicht bedacht haben. Schon die Angst des Knaben vor dem strengen Vater beispielsweise, der ihn bestimmt bestrafen wird, wenn er die mütterliche Zuwendung durch Wachbleiben zu erpressen versucht, geht völlig ins Leere. Swann hängt sein Leben an eine Frau, die ,nicht von seinem Genre' ist. Die schreckliche Salonbetreiberin Madame Verdurin, die wir tausend Seiten später fast vergessen haben, steigt am Ende durch eine dritte Ehe phantastisch auf. Den furchteinflößenden Baron Charlus, Inbegriff ältesten aristokratischen Selbstbewusstseins, finden wir zuletzt als masochistisches Opfer von bezahlten, für ihn also "unechten" Sadisten.
Überhaupt werden vor allem die Befürchtungen wahr, die man gar nicht hatte. Auch das führt zur Länge des Romans: Es gibt in ihm kaum Figuren, von denen feststeht, dass es Nebenfiguren bleiben werden. Zunächst auf drei Bände angelegt, hat ihn wohl nur Prousts Bewusstsein vom Schreiben gegen die eigene tödliche Krankheit davor bewahrt, noch weiter anzuwachsen.
Doch es ist nicht das hingebungsvoll wie polemisch gezeichnete geistige Tier- und Pflanzenreich, durch das Proust die Leser am meisten beschenkt. Und es sind auch nicht die Hunderte von Aphorismen im Stil der französischen Moralistik, auf die er seine Beschreibungen oft zulaufen lässt, von "Was man weiß, gehört nicht einem selbst" über "Sobald man zu zweit ist, verschwinden die Ideen" bis zum Satz über den Tod des Dichters Bergotte, in den Züge von Anatole France eingegangen sein sollen: "Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir mit der Bürde in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; die Umstände unseres Erdendaseins bedingen keineswegs, daß wir uns für verpflichtet halten, Gutes zu tun, zartfühlend, ja höflich zu sein."
Prousts Roman, so hat Ernst Robert Curtius in seiner soeben neu aufgelegten wunderbaren Studie von 1925 notiert, sei geschrieben von einem Menschen, der weder einen Beruf noch je die Sorge hatte, vom Romaneschreiben leben zu müssen. Der Erzähler studiert nur sich selbst und die Welt, kein Fach. Er hat keine Karriere, es sei denn, man bezeichnete seine Aufnahme in den Salon der Herzogin von Guermantes so. Man kann die Stellen leicht abzählen, an denen in der "Recherche" von Geld oder gar wirtschaftlichem Drangsal die Rede ist. Fast möchte man sagen: aber von allem anderen Drangsal schon. Jede Form von Leid - geschlechtliches, religiöses, intellektuelles, politisches - wird erkundet, um nicht zu sagen ausgekostet, so als bliebe der Kunst, die sich von glücklichen Erinnerungen nährt, ansonsten nur die Hohlform des Glücks. Das war sein Beruf, die Herstellung eines Messinstruments für Leid und Glück. Es ist aufgrund der Sachverhalte, die mit ihm gemessen werden sollen, ein Unikat. Das sekundäre Glück, diese Messung nachzuverfolgen, ist groß. Es gibt keinen Grund, sich den Roman kürzer zu wünschen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Länge der "Suche nach der verlorenen Zeit" wäre eine Zumutung, wenn sie nicht tiefen Sinn hätte: Über Marcel Proust, das Gesellschaftstier und den phänomenalen Seelenzergliederer, der nie arbeiten musste.
Von Jürgen Kaube
Die Bedeutung eines Werkes erschließt sich meistens nicht durch einmalige Lektüre. Doch was machen wir, wenn der wiederholten Lektüre durch das Werk selbst Grenzen gesetzt sind? Kaum eine Erinnerung an das Romanwerk von Marcel Proust, die nicht zu den vielerlei Gründen, von ihm fasziniert zu sein, den Hinweis auf seine Länge hinzufügt. Der vor einhundertfünfzig Jahren geborene Autor hat mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" im Grunde nur ein einziges Buch geschrieben, in sieben Bänden und auf ungefähr viertausendfünfhundert Seiten. Ein Buch über einen Erzähler, das aus seiner Perspektive berichtet, wie er zum Schriftsteller wird, indem er seinen Kindheitserinnerungen nachgeht, den "Sensationen" der Natur und Kunst, der Liebe und der Eifersucht, der Interaktion in den adeligen und bürgerlichen Salons in Paris zwischen Belle Époque und Erstem Weltkrieg sowie der Erfahrung des eigenen Müßiggangs - auch das heißt "temps perdu", vertane Zeit. Viertausendfünfhundert Seiten zur Frage, woran sich geistige Weltwahrnehmung einer Zeit schult.
Alles andere aus Prousts Feder sind Vorarbeiten, Seitenwege, interessante Übungen, diesseits der Forschung aber unwichtig und wichtig allenfalls zum Verständnis der Entstehung des großen Romans. Das eine Werk wiederum, da ist nichts zu machen, erschließt sich allein durch vollständige Lektüre. Es hat keinen Sinn, nur die Kindheitserinnerungen des Erzählers im ersten Band zu lesen, die Beschreibungen der Pariser Partys in Band drei für ein eigenständiges Buch zu halten oder sich ganz den Fanatismen des masochistischen Eros in Band fünf zu widmen. Prousts Figuren kehren wieder, sie altern im Roman, sie haben überraschende Karrieren, oder es wiederholt sich in ihnen, was zuvor geschah.
Die Geliebte des ersten Protagonisten etwa, Charles Swann, zu dem und seiner Tochter der Erzähler in Band eins aufschaut, hält den Maler Vermeer für einen Zeitgenossen und verliert das Interesse an ihm, als sie erfahren muss, man wisse nicht einmal etwas über seine Frau. Drei Bände und zwanzig Jahre später denkt in "Sodom und Gomorrha" die Geliebte des Erzählers, Albertine, als von den Vermeers in Holland die Rede ist, es handele sich um eine dortige Familie, und verneint, sie zu kennen. So geht es ständig. Ein ganzes Kapitel widmet der Erzähler eingangs der These, in Ortsnamen sei die Essenz der Orte aufbewahrt, später himmelt er fast einen ganzen Band lang eine Herzogin nicht zuletzt aufgrund ihres Namens an, noch später tritt ein Professor auf, der die Geselligkeit ständig mit etymologischen Ableitungen von Eigennamen unterhält oder quält. Nichts geht verloren, vieles zeigt erst seine schöne, dann seine groteske oder böse Seite. Die "Recherche" existiert nur in der Einzahl. Das macht sie zu einem der längsten Romane der Literaturgeschichte.
Doch der Anatole France zugeschriebene Satz, das Leben sei zu kurz, Proust hingegen zu lang, bezog sich nicht so sehr auf den Umfang des Werks. Er meinte Prousts Sätze, deren Nebensatzverkettungen dem Dichter die Beschreibung eingetragen haben, er formuliere im Französischen deutsch.
Nehmen wir nur diesen über die bettlägerige Tante des Erzählers: "Sie liebte uns wirklich und wahrhaftig, es hätte ihr Genuß bereitet, uns innig zu beweinen, die etwa in einem Augenblick, da sie sich wohlfühlte und nicht an Schweißausbrüchen litt, eintreffende Nachricht, daß das Haus einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen und die ganze Familie dabei umgekommen sei, daß bald kein Stein mehr davon stehen werde, wobei ihr aber noch Zeit bleibe, sich ohne Eile in Sicherheit zu bringen, sofern sie auf der Stelle aufstehe, hat sicher als Möglichkeit in ihren Hoffnungen eine Rolle gespielt, besonders da sich hier zu dem nicht ganz so ins Gewicht fallenden Vorteil, ihre ganze Liebe zu uns in langer Wehmut auszukosten und zum grenzenlosen Staunen des ganzen Dorfes unseren Trauerzug anzuführen - mutig, wenn auch tiefgebeugt, todgeweiht, aber ungebrochen -, noch jene weit verlockendere gesellt hätte, daß sie dann gerade im richtigen Augenblick ohne enervierendes Zaudern den Sommer auf ihrem hübschen Landbesitz Mirougrain hätte verbringen können, wo es einen Wasserfall gab."
An dieser Stelle ist erkennbar, dass die Längen Prousts oft nicht solche der Hingabe an Reflexion sind, die dem Roman zunächst seine kontemplative Atmosphäre geben und später, wenn die Eifersucht mächtig wird, über Hunderte von Seiten zu so unerbittlichem wie sinnlosem Hin- und Herwenden von Verdächtigungen und taktischen Plänen führen. Proust ist vielmehr lang aus Genauigkeit, hier in der Schilderung einer maliziösen Seele. Er häuft ihre scheinheiligen Motive, um sie am Ende in die selbstgerechte Freude am Besitz eines Wasserfalls münden zu lassen. Aber Seebilder, Theaterabende, Blumen, Klaviersonaten und Gesichter behandelt er ganz genauso, mit unermüdlicher Aufmerksamkeit. Immer entdeckt er dabei etwas Vergleichbares. Wendungen, etwas sei "wie" etwas anderes, stehen auf jeder dritten Seite: "Er verkroch sich wie ein Reisender, der ohne Neugier, stumpf und starr, in der Eisenbahn im Halbschlaf seinen Hut über die Augen schiebt." Alles, was zum Hinsehen, Beschreiben und Denken zwingt, hängt bei ihm untereinander zusammen. Theaterlogen sind Meeresgrotten, Restaurants Aquarien, Liebe nur die Bedingung dafür, das Leid der Eifersucht auskosten zu können. Gilles Deleuze hat es so formuliert: Prousts Dichtung rivalisiere mit der Philosophie.
Warum also soll man sich auf den weiten Weg dieses Werks begeben, womöglich sogar mehrfach? Warum etwa, so hat ein früher Kritiker sinngemäß formuliert, einem Knaben sechzig Seiten lang bei seinem vergeblichen Versuch folgen, ohne Gutenachtkuss einzuschlafen? Eine Antwort darauf liegt im Arsenal der Figuren Prousts. Sie werden meistens ganz klar gezeichnet und bis in die Winkel ihrer Kleinlichkeit und Größe ausgeleuchtet. Und dann werden sie auf einmal ihr Gegenteil. Oder besser: Es wird deutlich, dass wir und oft auch der Erzähler etwas Entscheidendes an ihnen nicht bedacht haben. Schon die Angst des Knaben vor dem strengen Vater beispielsweise, der ihn bestimmt bestrafen wird, wenn er die mütterliche Zuwendung durch Wachbleiben zu erpressen versucht, geht völlig ins Leere. Swann hängt sein Leben an eine Frau, die ,nicht von seinem Genre' ist. Die schreckliche Salonbetreiberin Madame Verdurin, die wir tausend Seiten später fast vergessen haben, steigt am Ende durch eine dritte Ehe phantastisch auf. Den furchteinflößenden Baron Charlus, Inbegriff ältesten aristokratischen Selbstbewusstseins, finden wir zuletzt als masochistisches Opfer von bezahlten, für ihn also "unechten" Sadisten.
Überhaupt werden vor allem die Befürchtungen wahr, die man gar nicht hatte. Auch das führt zur Länge des Romans: Es gibt in ihm kaum Figuren, von denen feststeht, dass es Nebenfiguren bleiben werden. Zunächst auf drei Bände angelegt, hat ihn wohl nur Prousts Bewusstsein vom Schreiben gegen die eigene tödliche Krankheit davor bewahrt, noch weiter anzuwachsen.
Doch es ist nicht das hingebungsvoll wie polemisch gezeichnete geistige Tier- und Pflanzenreich, durch das Proust die Leser am meisten beschenkt. Und es sind auch nicht die Hunderte von Aphorismen im Stil der französischen Moralistik, auf die er seine Beschreibungen oft zulaufen lässt, von "Was man weiß, gehört nicht einem selbst" über "Sobald man zu zweit ist, verschwinden die Ideen" bis zum Satz über den Tod des Dichters Bergotte, in den Züge von Anatole France eingegangen sein sollen: "Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir mit der Bürde in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; die Umstände unseres Erdendaseins bedingen keineswegs, daß wir uns für verpflichtet halten, Gutes zu tun, zartfühlend, ja höflich zu sein."
Prousts Roman, so hat Ernst Robert Curtius in seiner soeben neu aufgelegten wunderbaren Studie von 1925 notiert, sei geschrieben von einem Menschen, der weder einen Beruf noch je die Sorge hatte, vom Romaneschreiben leben zu müssen. Der Erzähler studiert nur sich selbst und die Welt, kein Fach. Er hat keine Karriere, es sei denn, man bezeichnete seine Aufnahme in den Salon der Herzogin von Guermantes so. Man kann die Stellen leicht abzählen, an denen in der "Recherche" von Geld oder gar wirtschaftlichem Drangsal die Rede ist. Fast möchte man sagen: aber von allem anderen Drangsal schon. Jede Form von Leid - geschlechtliches, religiöses, intellektuelles, politisches - wird erkundet, um nicht zu sagen ausgekostet, so als bliebe der Kunst, die sich von glücklichen Erinnerungen nährt, ansonsten nur die Hohlform des Glücks. Das war sein Beruf, die Herstellung eines Messinstruments für Leid und Glück. Es ist aufgrund der Sachverhalte, die mit ihm gemessen werden sollen, ein Unikat. Das sekundäre Glück, diese Messung nachzuverfolgen, ist groß. Es gibt keinen Grund, sich den Roman kürzer zu wünschen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2018Die Korrekturfahnen
als Festgirlande
Stefan Zweifel hat „Das Flimmern des Herzens“ übersetzt,
die Vorstufe zu Marcel Prousts großem Romanzyklus
VON JOSEPH HANIMANN
Es sei ihm unverständlich, wie jemand dreißig Seiten für die Beschreibung eines Monsieur aufwenden könne, der sich im Bett hin- und herwälzt, bevor er Schlaf findet, schrieb im Jahr 1913 der Pariser Verleger Ollendorff und lehnte Prousts Romanmanuskript ab. Dabei zählt heute gerade dieser Schwebezustand zwischen Schlaf und Wachsein gleich auf den ersten Romanseiten zu den unvergesslichen Stellen von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Wie einem im Kopf des Erzählers versenkten Nibelungenschatz entsteigen dem Dämmern zwischen Kopfkissen und Weltwissen langsam die ersten Motive des Buchs und zeigen an, wie tief der Autor hier in ganz neue Bereiche der Gattung Roman vorstieß.
Die Arbeit am Text war entsprechend kompliziert, von den ersten Skizzen 1908, über die immer neu umgeschriebenen Entwürfe, die Maschinenabschriften und die wiederum ganz neu zusammengeschnipselten Druckbogen, bis zum Erscheinen des ersten Bands im November 1913. Der lange Weg zum veröffentlichten Buch ist gut erforscht, doch fehlte bis vor Kurzem eine wichtige Etappe, deren Existenz man wie ein erloschenes Gestirn aus der Himmelskörperbewegung nur aus den vorhandenen Spuren der Textveränderung rekonstruieren konnte.
Im Jahr 2000 kam dann aus dem Nachlass ein zuvor ungesichtetes Konvolut von 51 vom Autor umgearbeiteten Druckfahnen, den sogenannten „Placards“ der ersten Romanteile „Combray“ und „Eine Liebe von Swann“, zur Versteigerung. Sie wurden von der Genfer Fondation Martin Bodmer erworben und als Faksimile beim Pariser Verlag Gallimard publiziert. Man findet darin ein Textstadium, in dem selbst in letzter Minute noch wichtige Figuren entstanden sind wie der aus dem Naturforscher Vington hervorgegangene Komponist Vinteuil, dessen Septett mit der berühmten Tonphrase später im Band „Die Gefangene“ den Erzähler so tief bewegen wird. Dank der Bienenarbeit des Literaturkritikers Stefan Zweifel und eines verlegerischen Großaufwands in der „Anderen Bibliothek“ liegt der „Combray“-Teil nun, minutiös aus den Korrekturfahnen übersetzt, auch auf Deutsch vor.
„Les Intermittences du cœur“ (Herzflattern – oder, wie Stefan Zweifel übersetzt: Das Flimmern des Herzens) hieß in jenen Fahnen noch der ursprünglich nur auf drei Bände angelegte Romanzyklus. Und wir tauchen auf diesem Tummelfeld der Streichungen und Hinzufügungen sofort ein in die letzte Entstehungsphase des endgültigen Texts. Vor unseren Augen bringt der Autor bis an die Seitenränder und darüber hinaus auf zusätzlich angeklebten Zetteln neue Formulierungen zu Papier, ersetzt lange Passagen durch andere, streicht auch diese wieder und kehrt mitunter zur ursprünglichen Fassung zurück.
Das im Band dankenswerterweise mitgelieferte Faksimile der ersten Fahne lässt uns das Satzgestöber auch visuell miterleben. Schon der berühmte Eingangssatz des Romans: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ verschwindet und wird durch den Satz „Während vielen Jahren habe ich jeden Abend beim Schlafengehen noch einige Seiten gelesen“ ersetzt, der seinerseits wieder gestrichen wird und dem handschriftlich zurückgekehrten ursprünglichen Anfangssatz weicht.
Konkret bietet sich die Sache im dicken Band der Anderen Bibliothek so dar, dass wir jeweils auf der rechten Seite die übersetzte Textfassung der Druckbogen lesen, mit den von Proust im Frühjahr 1913 vorgenommenen Streichungen, und auf der linken Seite den neuen, zur Veröffentlichung freigegebenen Text mit den Hinzufügungen. Mit dem Herz flimmert da allerdings zugleich auch der Blick. Man fühlt sich beim Blättern an frühere editorische Spiralnebelgebilde erinnert wie etwa die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe.
Die Einfügungen sind gegenüber den Streichungen weit in der Überzahl. Aus der Fahnen-Fassung wird der Erzählstrang des Erinnerns in immer neue Zeitfalten gelegt. So taucht an der Stelle, wo der Erzähler aus dem Geschmack des in Lindenblütentee getunkten Stücks Madeleine plötzlich das Haus und den Garten und die Wege und die Blumen und Leute seiner Kindheit aufsteigen sieht, ein in Klammern eingefügter Zusatz auf.
Der Blick greift da aus der Erinnerung kurz in die Zukunft voraus. Erst viel später, bemerkt der Erzähler, sollte ihm aufgehen, warum diese Erinnerung ihn damals so glücklich gemacht habe. Die Zeitschichten werden im Entstehungsprozess des Romans immer enger miteinander verflochten. Wäre es möglich gewesen, hätte Proust das Dreitausendseitenwerk wohl am liebsten in einem einzigen Satz niedergeschrieben. Warum tat er sich diese Mühe des Verdichtens durch Erweiterung an? Der Erklärungsversuch des Herausgebers Stefan Zweifel, der Autor habe vor allem die symbolistischen Einflüsse an seinem Text abstreifen wollen, überzeugt nicht ganz. Wichtiger dürfte die Proust’sche Manie des „aller plus loin“, des Immer-tiefer-Schürfens gewesen sein.
Der editorischen Leistung des Herausgebers tun die in Vorwort und Anmerkungen mitunter etwas forcierten Erklärungen keinen Abbruch. Stefan Zweifel hat sich zuvor schon als Herausgeber und Übersetzer von Raymond Roussel und de Sade betätigt, er ist für komplizierte Fälle zuständig. Nun, in seinem Proust-Projekt, übersetzt er in einer Art Tiefenbohrung den Text bis auf Punkt und Komma in all seinen Stadien, fügt im Anhang auch noch Varianten aus den handschriftlichen „Carnets“, den Notizheften Prousts, hinzu und legt wie nebenbei eine neue, eigene Übersetzung von „Combray“ vor.
Damit allerdings hat man mitunter seine Schwierigkeiten. Um die in „lautmalerischer Syntax“ sich türmenden Parataxen und einander jagenden Adjektiv-Salven nicht durch die nachgestellte deutsche Partizipialform zu stören, lässt Zweifel das unstabile Perfekt des Originals gern im Imperfekt erstarren. Wohlan. Wird dies dann aber doch wieder auf den französischen Satzbau festgeschraubt, entstehen seltsame Gebilde, gleich schon im Anfangssatz. Statt des schon zitierten „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ steht bei Zweifel für das „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“: „Lange Zeit, ging ich zu guter Stunde zu Bett.“ Vielleicht sollte man, um das Verwirrspiel mit dem Text vollkommen zu machen, zusätzlich zu Stefan Zweifels Text auch noch eine der anderen geläufigen deutschen Übersetzungen hinzuziehen.
„Liebe Céleste, ich bin ratlos“, rief Marcel Proust eines Tages der herbeigeklingelten Haushälterin – Zweifel benennt sie irrtümlich in Cécile um – entgegen: Alle Ränder auf den Papierseiten seien vollgeschrieben und er habe noch so viel hinzuzufügen. „Ganz einfach, Monsieur“, so erinnerte sich Céleste Albaret in ihrem Memoirenbuch „Monsieur Proust“ an ihre Antwort: „Sie schreiben auf fliegende Zettel, und ich klebe das dann an der richtigen Stelle ein.“ „Paperoles“ nannte die Haushälterin diese Papierstreifen, die bis zu fast zwei Meter lang werden konnten. Aus ihnen haben Stefan Zweifel und die Andere Bibliothek im Mehrfarbendruck nun eine wahre Festgirlande geflochten.
Proust hat in den Druckfahnen
sehr viel mehr Text
hinzugefügt als gestrichen
Was mache ich, wenn alle
Ränder vollgeschrieben sind,
fragte er seine Haushälterin
Marcel Proust um 1910, als er bereits an seinem großen Romanwerk arbeitete.
Foto: getty images
Vielleicht doch lieber ein anderer erster Satz? Eine Seite des Druckbogens von „Flimmern des Herzens“ mit Anmerkungen und Korrekturen von Marcel Proust.
Abb.: Die Andere Bibliothek
Marcel Proust: Das Flimmern des Herzens – Combray. Aus den französischen Druckbögen erstmals übersetzt, mit einem Anhang und einem Vorwort von Stefan Zweifel. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 696 Seiten, 42 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
als Festgirlande
Stefan Zweifel hat „Das Flimmern des Herzens“ übersetzt,
die Vorstufe zu Marcel Prousts großem Romanzyklus
VON JOSEPH HANIMANN
Es sei ihm unverständlich, wie jemand dreißig Seiten für die Beschreibung eines Monsieur aufwenden könne, der sich im Bett hin- und herwälzt, bevor er Schlaf findet, schrieb im Jahr 1913 der Pariser Verleger Ollendorff und lehnte Prousts Romanmanuskript ab. Dabei zählt heute gerade dieser Schwebezustand zwischen Schlaf und Wachsein gleich auf den ersten Romanseiten zu den unvergesslichen Stellen von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Wie einem im Kopf des Erzählers versenkten Nibelungenschatz entsteigen dem Dämmern zwischen Kopfkissen und Weltwissen langsam die ersten Motive des Buchs und zeigen an, wie tief der Autor hier in ganz neue Bereiche der Gattung Roman vorstieß.
Die Arbeit am Text war entsprechend kompliziert, von den ersten Skizzen 1908, über die immer neu umgeschriebenen Entwürfe, die Maschinenabschriften und die wiederum ganz neu zusammengeschnipselten Druckbogen, bis zum Erscheinen des ersten Bands im November 1913. Der lange Weg zum veröffentlichten Buch ist gut erforscht, doch fehlte bis vor Kurzem eine wichtige Etappe, deren Existenz man wie ein erloschenes Gestirn aus der Himmelskörperbewegung nur aus den vorhandenen Spuren der Textveränderung rekonstruieren konnte.
Im Jahr 2000 kam dann aus dem Nachlass ein zuvor ungesichtetes Konvolut von 51 vom Autor umgearbeiteten Druckfahnen, den sogenannten „Placards“ der ersten Romanteile „Combray“ und „Eine Liebe von Swann“, zur Versteigerung. Sie wurden von der Genfer Fondation Martin Bodmer erworben und als Faksimile beim Pariser Verlag Gallimard publiziert. Man findet darin ein Textstadium, in dem selbst in letzter Minute noch wichtige Figuren entstanden sind wie der aus dem Naturforscher Vington hervorgegangene Komponist Vinteuil, dessen Septett mit der berühmten Tonphrase später im Band „Die Gefangene“ den Erzähler so tief bewegen wird. Dank der Bienenarbeit des Literaturkritikers Stefan Zweifel und eines verlegerischen Großaufwands in der „Anderen Bibliothek“ liegt der „Combray“-Teil nun, minutiös aus den Korrekturfahnen übersetzt, auch auf Deutsch vor.
„Les Intermittences du cœur“ (Herzflattern – oder, wie Stefan Zweifel übersetzt: Das Flimmern des Herzens) hieß in jenen Fahnen noch der ursprünglich nur auf drei Bände angelegte Romanzyklus. Und wir tauchen auf diesem Tummelfeld der Streichungen und Hinzufügungen sofort ein in die letzte Entstehungsphase des endgültigen Texts. Vor unseren Augen bringt der Autor bis an die Seitenränder und darüber hinaus auf zusätzlich angeklebten Zetteln neue Formulierungen zu Papier, ersetzt lange Passagen durch andere, streicht auch diese wieder und kehrt mitunter zur ursprünglichen Fassung zurück.
Das im Band dankenswerterweise mitgelieferte Faksimile der ersten Fahne lässt uns das Satzgestöber auch visuell miterleben. Schon der berühmte Eingangssatz des Romans: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ verschwindet und wird durch den Satz „Während vielen Jahren habe ich jeden Abend beim Schlafengehen noch einige Seiten gelesen“ ersetzt, der seinerseits wieder gestrichen wird und dem handschriftlich zurückgekehrten ursprünglichen Anfangssatz weicht.
Konkret bietet sich die Sache im dicken Band der Anderen Bibliothek so dar, dass wir jeweils auf der rechten Seite die übersetzte Textfassung der Druckbogen lesen, mit den von Proust im Frühjahr 1913 vorgenommenen Streichungen, und auf der linken Seite den neuen, zur Veröffentlichung freigegebenen Text mit den Hinzufügungen. Mit dem Herz flimmert da allerdings zugleich auch der Blick. Man fühlt sich beim Blättern an frühere editorische Spiralnebelgebilde erinnert wie etwa die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe.
Die Einfügungen sind gegenüber den Streichungen weit in der Überzahl. Aus der Fahnen-Fassung wird der Erzählstrang des Erinnerns in immer neue Zeitfalten gelegt. So taucht an der Stelle, wo der Erzähler aus dem Geschmack des in Lindenblütentee getunkten Stücks Madeleine plötzlich das Haus und den Garten und die Wege und die Blumen und Leute seiner Kindheit aufsteigen sieht, ein in Klammern eingefügter Zusatz auf.
Der Blick greift da aus der Erinnerung kurz in die Zukunft voraus. Erst viel später, bemerkt der Erzähler, sollte ihm aufgehen, warum diese Erinnerung ihn damals so glücklich gemacht habe. Die Zeitschichten werden im Entstehungsprozess des Romans immer enger miteinander verflochten. Wäre es möglich gewesen, hätte Proust das Dreitausendseitenwerk wohl am liebsten in einem einzigen Satz niedergeschrieben. Warum tat er sich diese Mühe des Verdichtens durch Erweiterung an? Der Erklärungsversuch des Herausgebers Stefan Zweifel, der Autor habe vor allem die symbolistischen Einflüsse an seinem Text abstreifen wollen, überzeugt nicht ganz. Wichtiger dürfte die Proust’sche Manie des „aller plus loin“, des Immer-tiefer-Schürfens gewesen sein.
Der editorischen Leistung des Herausgebers tun die in Vorwort und Anmerkungen mitunter etwas forcierten Erklärungen keinen Abbruch. Stefan Zweifel hat sich zuvor schon als Herausgeber und Übersetzer von Raymond Roussel und de Sade betätigt, er ist für komplizierte Fälle zuständig. Nun, in seinem Proust-Projekt, übersetzt er in einer Art Tiefenbohrung den Text bis auf Punkt und Komma in all seinen Stadien, fügt im Anhang auch noch Varianten aus den handschriftlichen „Carnets“, den Notizheften Prousts, hinzu und legt wie nebenbei eine neue, eigene Übersetzung von „Combray“ vor.
Damit allerdings hat man mitunter seine Schwierigkeiten. Um die in „lautmalerischer Syntax“ sich türmenden Parataxen und einander jagenden Adjektiv-Salven nicht durch die nachgestellte deutsche Partizipialform zu stören, lässt Zweifel das unstabile Perfekt des Originals gern im Imperfekt erstarren. Wohlan. Wird dies dann aber doch wieder auf den französischen Satzbau festgeschraubt, entstehen seltsame Gebilde, gleich schon im Anfangssatz. Statt des schon zitierten „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ steht bei Zweifel für das „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“: „Lange Zeit, ging ich zu guter Stunde zu Bett.“ Vielleicht sollte man, um das Verwirrspiel mit dem Text vollkommen zu machen, zusätzlich zu Stefan Zweifels Text auch noch eine der anderen geläufigen deutschen Übersetzungen hinzuziehen.
„Liebe Céleste, ich bin ratlos“, rief Marcel Proust eines Tages der herbeigeklingelten Haushälterin – Zweifel benennt sie irrtümlich in Cécile um – entgegen: Alle Ränder auf den Papierseiten seien vollgeschrieben und er habe noch so viel hinzuzufügen. „Ganz einfach, Monsieur“, so erinnerte sich Céleste Albaret in ihrem Memoirenbuch „Monsieur Proust“ an ihre Antwort: „Sie schreiben auf fliegende Zettel, und ich klebe das dann an der richtigen Stelle ein.“ „Paperoles“ nannte die Haushälterin diese Papierstreifen, die bis zu fast zwei Meter lang werden konnten. Aus ihnen haben Stefan Zweifel und die Andere Bibliothek im Mehrfarbendruck nun eine wahre Festgirlande geflochten.
Proust hat in den Druckfahnen
sehr viel mehr Text
hinzugefügt als gestrichen
Was mache ich, wenn alle
Ränder vollgeschrieben sind,
fragte er seine Haushälterin
Marcel Proust um 1910, als er bereits an seinem großen Romanwerk arbeitete.
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Vielleicht doch lieber ein anderer erster Satz? Eine Seite des Druckbogens von „Flimmern des Herzens“ mit Anmerkungen und Korrekturen von Marcel Proust.
Abb.: Die Andere Bibliothek
Marcel Proust: Das Flimmern des Herzens – Combray. Aus den französischen Druckbögen erstmals übersetzt, mit einem Anhang und einem Vorwort von Stefan Zweifel. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 696 Seiten, 42 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann staunt, wie akribisch der Herausgeber und Übersetzer Stefan Zweifel diese erste Version von Prousts "Combray"-Teil aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" vorausgeht, ins Deutsche übertragen hat. Zweifel hat auch das winzigste Detail in Inhalt und Sprachführung nicht unterschlagen, notiert Hanimann, und die gesamten ausführlichen Randnotizen und angeklebten Zettel des Autors säuberlich aufgenommen und eingeordnet. Den Hut zieht der Rezensent auch vor dem Verlag Die Andere Bibliothek, der die Autorennotizen farblich erkennbar zu einem Puzzle zusammenfügt. "Mit dem Herz flimmert da allerdings zugleich auch der Blick", merkt er an, wenn die Fülle der Informationen ihn überwältigt. Seinem Respekt für die Leistung von Herausgeber und Verlag tut das jedoch keinen Abbruch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Zweifel arrangiert für den deutschen Leser nicht nur einen Blick in den Schaffensprozess, er liefert, gleichsam en passant, auch eine Neuübersetzung von "Combray". Jürgen Ritte Frankfurter Allgemeine Zeitung 20181220