Das Überraschungsdebüt 2019: Shortlist Deutscher Buchpreis, Shortlist Österreichischer Buchpreis, ausgezeichnet mit Theodor-Körner-Preis.
Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist ...
Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2019Ein Tropfen Blut für den Abgrund
Wenn die Zeit in sich zusammenfällt: In Raphaela Edelbauers Roman "Das flüssige Land" reist eine junge Physikerin in das Heimatdorf ihrer Eltern und trifft dort auf eine alte Schuld.
Ob es diese Siedlung "Groß-Einland" wirklich gibt? Sie taucht auf keiner Karte auf, das Navi kennt sie nicht, kein Straßenschild weist dorthin, so dass die Physikerin Ruth Schwarz, die unbedingt nach Groß-Einland will und nur die ungefähre Richtung von Wien aus kennt, eine Weile lang in Niederösterreich herum, wo sie die Gemeinde vermutet. Als sie schließlich verzweifelt bei der Landesregierung anruft, teilt man ihr auch dort mit, dass Groß-Einland nicht existiere.
Dagegen steht allerdings die Erinnerung an ihre Eltern, die wenige Tage zuvor bei einem Autounfall in den Bergen zu Tode gekommen sind. Denn die beiden stammen aus jener Siedlung, sie sind dort sogar im selben Haus aufgewachsen, weil die Familie der Mutter den Vater noch als Knaben aufgenommen hat - seine alleinerziehende Mutter sei zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr dazu in der Lage gewesen, den kleinen Jungen zu versorgen. Unterwegs zu der Siedlung, die es angeblich nicht gibt, führt sich Ruth Schwarz also vor Augen, was ihre Eltern von der aufgegebenen Heimat erzählt haben und was nun ihr helfen kann, den Weg zu finden: die ungefähre Größe der Gemeinde, beiläufige Details, irgendwann einmal erwähnte Ausflugsziele und dergleichen mehr. Schließlich, die Physikerin will schon aufgeben, stößt sie in der Nähe des Hochwechsels auf zwei Männer, die sich über Groß-Einland unterhalten. Sie folgt ihnen mit ihrem klapprigen Ford über schlechte Wege und schließlich sogar durch einen dichten Wald, bis sie tatsächlich in der gesuchten Siedlung ankommt - einen Ort von makelloser Schönheit, wie die Besucherin findet, ein bisschen wie aus der Zeit gefallen und mit Sitten und Umgangsformen, an die man sich erst gewöhnen muss.
Dass es der Autorin Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien und aufgewachsen in Niederösterreich, in ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Das flüssige Land" nicht auf ein klar umrissenes äußerliches Handlungsgerüst ankommt, wird sehr rasch klar, denn zu den verschwimmenden Angaben, die den Ort betreffen, kommen auch die sehr widersprüchlichen zur Zeit.
Und je mehr die Ich-Erzählerin den Anschein erweckt, in dieser Hinsicht präzise zu agieren (der Roman beginnt mit den Worten: "In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007"), umso größer ist die Irritation, die ihre Angaben zum Ablauf der Geschichte untereinander erzeugen, weil sie nicht zueinander passen. Der Aufenthalt in Groß-Einland sollte nur ein paar Tage dauern, dann sind es aber, nach vorausdeutender Auskunft der Erzählerin, drei Jahre. Oder doppelt so viel, wie aus einem Telefonat mit ihrer in Wien gebliebenen Tante hervorgeht ("Sechs, Ruth, du bist seit sechs Jahren weg")?
Dass auf die Zeit kein Verlass ist, schon gar nicht im Bericht dieser Psychopharmaka schluckenden, sehr leicht zu irritierenden Erzählerin, teilt sich mit, und dass die Physikerin Ruth, die mit noch ganz anderen Zeitkonzepten vertraut ist, dies gar nicht so seltsam finden mag, auch. Wer an den Gedanken gewöhnt ist, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins fallen, wird sich nicht lange mit Chronologie aufhalten, vor allem nicht in einer Gemeinde, die mit ganz anderen Problemen kämpft: Unter Groß-Einland tut sich als Resultat von ungeregeltem Schürfen ein riesiges Loch auf, das sich offenbar weiter vergrößert und Teile der Altstadt zu verschlingen droht. Die Bewohner leben damit seit Jahrzehnten, sie schütten mal tonnenweise Zement in den Abgrund, ohne damit etwas zu bewirken, oder sie praktizieren Rituale des Aberglaubens, indem sie ihre Sorgen auf einen Fetzen Papier schreiben, mit Blut besiegeln und den dann im Hohlraum plazieren.
Ruth also bleibt in Groß-Einland, sie bezieht das ehemalige Wohnhaus ihrer Eltern und nimmt eine Arbeit bei der Gräfin an, die in einem Schloss hoch über der Gemeinde lebt, alles mitbekommt, was irgendeiner der Bewohner unternimmt, und Ruth mal überwacht, mal für sich einspannen will, meist wahrscheinlich beides. Die junge Physikerin soll jedenfalls eine Methode finden, das weitere Absacken Groß-Einlands zu verhindern, und als sie damit tatsächlich Erfolg hat, stellt sie fest, dass im Gegenzug die Vegetation der betreffenden Stelle abstirbt, was bei einer Injektion auf Benzinbasis in die Erde auch nicht anders zu erwarten ist.
Dass der Roman spannend, amüsant und gekonnt erzählt ist, steht auf der Habenseite, dass er die Unzuverlässigkeit der Erzählerin von der ersten Seite an ausstellt und sie dann doch immer wieder vergessen lässt, ebenso. Auch dass die Autorin sprachlich einige Abwege aus dem Vertrauten einschlägt, wird man schätzen, selbst wenn manchmal Stilblüten sprießen wie "Der ganze Raum zitterte glückselig vor Neid wie ein trotziger Block Aspik." Die Autorin wirft überdies mit ihrer aus der Zeit gefallenen Geschichte auch einen Blick auf unsere Gegenwart, wenn sie über die Sehnsucht der Protagonistin nach Zugehörigkeit und Geborgenheit ebenso schreibt wie über die Abgründe, die jene Idylle bereithält - hier sind das Hunderte Opfer aus der Endphase des Nationalsozialismus, Zwangsarbeiter, die, so scheint es wenigstens, von den Bewohnern Groß-Einlands erschlagen und im Loch vergraben worden sind.
Dass der physische Abgrund mit dem moralischen so eng verknüpft ist, dass im Untergrund flüssig bleibt, was sich nicht wie anderes Sediment verfestigen will, so wie die alte Schuld sich eben nicht auslöschen lässt, indem man sie vertuscht und alle Hinweise darauf aus den Quellen entfernt, dass die Auswirkungen der Tuberkulose im Körper eines Protagonisten an die geologischen Vorgänge im Berg erinnern und dass schließlich der Ausweg, Ruths Benzin-Injektion, exakt dem Verfahren entspricht, mit dem damals die Zwangsarbeiter ermordet wurden - all das erscheint als etwas zu viel des Guten im Hinweissystem des Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 350 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Zeit in sich zusammenfällt: In Raphaela Edelbauers Roman "Das flüssige Land" reist eine junge Physikerin in das Heimatdorf ihrer Eltern und trifft dort auf eine alte Schuld.
Ob es diese Siedlung "Groß-Einland" wirklich gibt? Sie taucht auf keiner Karte auf, das Navi kennt sie nicht, kein Straßenschild weist dorthin, so dass die Physikerin Ruth Schwarz, die unbedingt nach Groß-Einland will und nur die ungefähre Richtung von Wien aus kennt, eine Weile lang in Niederösterreich herum, wo sie die Gemeinde vermutet. Als sie schließlich verzweifelt bei der Landesregierung anruft, teilt man ihr auch dort mit, dass Groß-Einland nicht existiere.
Dagegen steht allerdings die Erinnerung an ihre Eltern, die wenige Tage zuvor bei einem Autounfall in den Bergen zu Tode gekommen sind. Denn die beiden stammen aus jener Siedlung, sie sind dort sogar im selben Haus aufgewachsen, weil die Familie der Mutter den Vater noch als Knaben aufgenommen hat - seine alleinerziehende Mutter sei zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr dazu in der Lage gewesen, den kleinen Jungen zu versorgen. Unterwegs zu der Siedlung, die es angeblich nicht gibt, führt sich Ruth Schwarz also vor Augen, was ihre Eltern von der aufgegebenen Heimat erzählt haben und was nun ihr helfen kann, den Weg zu finden: die ungefähre Größe der Gemeinde, beiläufige Details, irgendwann einmal erwähnte Ausflugsziele und dergleichen mehr. Schließlich, die Physikerin will schon aufgeben, stößt sie in der Nähe des Hochwechsels auf zwei Männer, die sich über Groß-Einland unterhalten. Sie folgt ihnen mit ihrem klapprigen Ford über schlechte Wege und schließlich sogar durch einen dichten Wald, bis sie tatsächlich in der gesuchten Siedlung ankommt - einen Ort von makelloser Schönheit, wie die Besucherin findet, ein bisschen wie aus der Zeit gefallen und mit Sitten und Umgangsformen, an die man sich erst gewöhnen muss.
Dass es der Autorin Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien und aufgewachsen in Niederösterreich, in ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Das flüssige Land" nicht auf ein klar umrissenes äußerliches Handlungsgerüst ankommt, wird sehr rasch klar, denn zu den verschwimmenden Angaben, die den Ort betreffen, kommen auch die sehr widersprüchlichen zur Zeit.
Und je mehr die Ich-Erzählerin den Anschein erweckt, in dieser Hinsicht präzise zu agieren (der Roman beginnt mit den Worten: "In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007"), umso größer ist die Irritation, die ihre Angaben zum Ablauf der Geschichte untereinander erzeugen, weil sie nicht zueinander passen. Der Aufenthalt in Groß-Einland sollte nur ein paar Tage dauern, dann sind es aber, nach vorausdeutender Auskunft der Erzählerin, drei Jahre. Oder doppelt so viel, wie aus einem Telefonat mit ihrer in Wien gebliebenen Tante hervorgeht ("Sechs, Ruth, du bist seit sechs Jahren weg")?
Dass auf die Zeit kein Verlass ist, schon gar nicht im Bericht dieser Psychopharmaka schluckenden, sehr leicht zu irritierenden Erzählerin, teilt sich mit, und dass die Physikerin Ruth, die mit noch ganz anderen Zeitkonzepten vertraut ist, dies gar nicht so seltsam finden mag, auch. Wer an den Gedanken gewöhnt ist, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins fallen, wird sich nicht lange mit Chronologie aufhalten, vor allem nicht in einer Gemeinde, die mit ganz anderen Problemen kämpft: Unter Groß-Einland tut sich als Resultat von ungeregeltem Schürfen ein riesiges Loch auf, das sich offenbar weiter vergrößert und Teile der Altstadt zu verschlingen droht. Die Bewohner leben damit seit Jahrzehnten, sie schütten mal tonnenweise Zement in den Abgrund, ohne damit etwas zu bewirken, oder sie praktizieren Rituale des Aberglaubens, indem sie ihre Sorgen auf einen Fetzen Papier schreiben, mit Blut besiegeln und den dann im Hohlraum plazieren.
Ruth also bleibt in Groß-Einland, sie bezieht das ehemalige Wohnhaus ihrer Eltern und nimmt eine Arbeit bei der Gräfin an, die in einem Schloss hoch über der Gemeinde lebt, alles mitbekommt, was irgendeiner der Bewohner unternimmt, und Ruth mal überwacht, mal für sich einspannen will, meist wahrscheinlich beides. Die junge Physikerin soll jedenfalls eine Methode finden, das weitere Absacken Groß-Einlands zu verhindern, und als sie damit tatsächlich Erfolg hat, stellt sie fest, dass im Gegenzug die Vegetation der betreffenden Stelle abstirbt, was bei einer Injektion auf Benzinbasis in die Erde auch nicht anders zu erwarten ist.
Dass der Roman spannend, amüsant und gekonnt erzählt ist, steht auf der Habenseite, dass er die Unzuverlässigkeit der Erzählerin von der ersten Seite an ausstellt und sie dann doch immer wieder vergessen lässt, ebenso. Auch dass die Autorin sprachlich einige Abwege aus dem Vertrauten einschlägt, wird man schätzen, selbst wenn manchmal Stilblüten sprießen wie "Der ganze Raum zitterte glückselig vor Neid wie ein trotziger Block Aspik." Die Autorin wirft überdies mit ihrer aus der Zeit gefallenen Geschichte auch einen Blick auf unsere Gegenwart, wenn sie über die Sehnsucht der Protagonistin nach Zugehörigkeit und Geborgenheit ebenso schreibt wie über die Abgründe, die jene Idylle bereithält - hier sind das Hunderte Opfer aus der Endphase des Nationalsozialismus, Zwangsarbeiter, die, so scheint es wenigstens, von den Bewohnern Groß-Einlands erschlagen und im Loch vergraben worden sind.
Dass der physische Abgrund mit dem moralischen so eng verknüpft ist, dass im Untergrund flüssig bleibt, was sich nicht wie anderes Sediment verfestigen will, so wie die alte Schuld sich eben nicht auslöschen lässt, indem man sie vertuscht und alle Hinweise darauf aus den Quellen entfernt, dass die Auswirkungen der Tuberkulose im Körper eines Protagonisten an die geologischen Vorgänge im Berg erinnern und dass schließlich der Ausweg, Ruths Benzin-Injektion, exakt dem Verfahren entspricht, mit dem damals die Zwangsarbeiter ermordet wurden - all das erscheint als etwas zu viel des Guten im Hinweissystem des Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 350 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2019Brüchiger nie
Die Idylle ist wieder da, in der Literatur deutscher Debütanten. Dass da etwas
nicht stimmen kann, zeigt Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“
VON HANNA ENGELMEIER
Eher ruhig war es in der Literatur lange Zeit um die Idylle – wenig überraschend hinsichtlich der Großwetterlage, aber auch dessen, was literarisch interessant zu verarbeiten ist. Was soll man schon erzählen, wenn alles in schönster Ordnung ist? Zuletzt stand ein Roman in der Kritik, der eine mit Idylle garnierte Geschichte wenig überraschend als verdrehte Dystopie erzählt: In Karen Köhlers „Miroloi“ (Hanser-Verlag) widerfahren der Protagonistin auf einer sogenannten „Schönen Insel“ schreckliche Dinge. Die Welt des Romans ist ebenso archaisch gewaltvoll wie anheimelnd strukturiert. Zur Diskussion stand besonders Köhlers betont schlichter, fast kindlicher Manierismus sowie die Frage, ob das die geeignete Form für eine emanzipatorische Selbstfindungsgeschichte sei.
Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“ verhält sich in vieler Hinsicht komplementär zu „Miroloi“. Die Erzählerin ist keine 15-jährige Unschuld von der Insel, sondern eine 35-jährige, mit diversen Psychopharmaka gedopte Hochleistungsphysikerin, die kurz vor der Habilitation steht. Nachdem Ruth Schwarz’ Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, möchte sie zur Vorbereitung einer Ansprache bei ihrer Beerdigung deren Biografien besser verstehen. Zu diesem Zweck macht sie sich von Wien aus auf in die österreichische Provinz, um in eine Region namens Groß-Einland zu gelangen, in der ihre Eltern aufwuchsen.
Tief in den Wäldern eines nicht näher bezeichneten Teils des doch eigentlich nicht so unübersichtlichen Österreichs stößt sie schließlich auf ein Städtchen, dessen Flair sie sich nicht entziehen kann: „Groß-Einland war von unfassbarer Schönheit, ähnlich der Kulisse eines Mittelalterfilms, in dem die Hochphase des Handwerks an makellosen Fassaden entlang ausgewiesen wird.“ Hier bleibt Ruth nun für sie selbst überraschend mehrere Jahre, denn nicht nur ästhetisch bewegt sie sich scheinbar in der besten aller denkbaren Welten. Auch sozial ist auf den ersten Blick alles in Butter: „Jeder Bewohner besaß eine genau bezifferte Bedeutsamkeit in diesem sozialen Gefüge, die man mit Händen greifen konnte, denn sie war hierarchisch und wurde ihren Bedingungen nach meist offengelegt. Die einfachsten Verrichtungen hatten etwas Magisches an sich.“
Weil wir uns aber in einem Roman für die Großen und nicht in einem Pixie-Buch für die Kleinen befinden, stellt sich heraus, dass die Heimeligkeit schwer zu übersehende Risse hat. Praktischerweise darf das ganz wörtlich aufgefasst werden: Unter Groß-Einland befindet sich ein riesiger Hohlraum namens „das Loch“, der den Boden destabilisiert, auf dem dieser unheimlich schöne Teil Österreichs erbaut ist. Ab dem Moment, in dem das Ausmaß des metaphorologischen Interesses Edelbauers an diesem Loch deutlich wird, erhält auch die Grenze zwischen Roman und Pixie-Buch Groß-Einland-mäßige Risse.
Denn dieses Loch dient nicht nur den Bewohnern als Halde, auf der sie ihren Bauschutt verklappen, es dient auch dem Buch dazu, seinen Plot in Richtung Vergangenheitsbewältigung auszudehnen. Es kommt heraus, dass Groß-Einland, das von einer schrecklich-jovialen Gräfin beherrscht wird („Ich bin die Ulrike“, stellt sie sich irgendwann vor), eine düstere Vergangenheit hat. Der Reichtum der Gräfin beruht nämlich nicht zuletzt auf der Arbeit ungarischer Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs für die Industriellenfamilie, der die Gräfin entstammt, ausgebeutet und dann ermordet wurden. Das Loch ist der Ort, an dem Groß-Einland seine Gewaltgeschichte verscharrt.
Wer Idylle sagt, muss Verdrängung meinen: Dieser nicht ganz taufrische Gedanke spielt sowohl bei Edelbauer, als auch in Köhlers „Miroloi“ eine zentrale Rolle. Köhler greift auf einen nervtötenden Simplizissimus, Edelbauer auf einen ins Schnörkelige driftenden Stil zurück, um die Unerreichbarkeit einer heilen Welt angemessenen poetisch abzubilden. Der Abstand zum unterstellten Alltagserleben des Publikums ist damit geschaffen. Es fragt sich aber, ob ein Publikum, das den Weg zu diesem Buch gefunden hat, aufklärungsbedürftig beispielsweise hinsichtlich der Tatsache ist, dass es leider doch keine Welt gibt, die frei von überzogenen Ansprüchen an Habilitandinnen ist, dafür aber voller sozialen Friedens und in gutem Einvernehmen mit der historischen Verantwortung für den Faschismus.
Dass ihre Welt so gut nicht ist, erfährt Ruth, als ihre Fähigkeiten als Physikerin in Dienst genommen werden, um den Hohlraum mithilfe eines Füllmaterials zu befestigen, das sie selbst erfindet. So erhält sie Zugang zu Unterlagen über die Geschichte des Ortes, in denen sie etwas über die unmittelbare Vorgeschichte des Todes ihrer Eltern erfährt. Diese waren ebenfalls nach Groß-Einland zurückgekehrt, um mehr über dessen verleugnete Vergangenheit herauszufinden, die offenbar stark mit ihrer eigenen Biografie zusammenhängt. Anhand der Tagebuchaufzeichnungen eines weiteren Groß-Einländers rekonstruiert Ruth, dass es sich bei ihren Großeltern um Juden handelte.
Spätestens an dieser Stelle wird der Roman, der von fiktiven Auszügen aus Ruths Habilitation und Archivmaterialien durchsetzt ist, zu einer Zumutung selbst für gutgläubige und zugewandte Leserinnen und Leser: Nun gut, es gibt da also dieses Loch – unklar, wie das statisch gehen soll, und warum die fast habilitierte Physikerin so zugeknöpft ist, was statische Details angeht. Nun gut, schuld an allem ist unter anderem „die Ulrike“, und ja, vermutlich, weil ihre Familie mit den Nazis zusammengearbeitet hat, schlimm genug, man kennt das, die Hoffnung auf nähere Ausführungen dazu gibt man spät auf. Und okay, die Risse in der Erde symbolisieren die Risse in den Gewissheiten der Erzählerin, viel Halt scheint sie bei ihrem Codein-Konsum nicht gehabt zu haben. Ihr nun aber auch noch jüdische Großeltern zu verpassen, die das Ausmaß an Involviertheit in die Geschichte Groß-Einlands steigern, wirkt plotstrategisch wohlfeil und historisch frivol.
Sowohl die Anbindung des Romans an die Gegenwart, als auch an die Geschichte ist äußerst lose gestrickt: Gegenwart wird er durch seine eskapistische Grundanlage los. Unter anderem stellt sich nach Ruths Ankunft heraus, dass herrlichste Glasfaserkabel unter Groß-Einland befindlich sind, die aber niemand nutzen möchte. Kein Interesse am Internet, ihr Handy vernichtet Ruth schon auf der Hinfahrt. Ein Supermarkt im Ort und ein Fernseher hingegen stören keinen großen Geist, der Roman schreitet antiquiert tönend voran. Die reale Vergangenheit, insbesondere die des Austrofaschismus und der Shoah, ist mit den Stichworten Mauthausen, KZ, Zwangsarbeiter abgesteckt, der Rest sind von Edelbauer selbst erdachte Spezialmythen ihres im verwunschenen Wald gelegenen Horrorörtchens. Während es einerseits erfrischend ist, dass es hier jemand mit dem Ausdenken so ernst nimmt, wäre es auf der anderen Seite erleichternd, wenn der Eindruck entstünde, dass es sich mit der historischen Recherche ebenso verhält.
Dass die einzige Heimat, die Ruth je gekannt hat, nur als eine Art Albtraum Realität hat, wird ihr deutlich, als sie schließlich den Absprung schafft und nach Wien zurückkehrt: „Ich würde schon abends, dachte ich, am Donaukanal sitzen, in dieser schnurgeraden Betoneinfassung des Flusses, und Menschen aus allen Nationen würden mit Lautsprechern und Dosenbier in der Hand an mir vorbeirinnen. Groß-Einland wäre mir nichts mehr als ein merkwürdiger Traum, wenn ich den Faden, wo ich ihn verloren hatte, wieder ergriffe.“
Eine von vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Traditionen und Ethnien mehr oder weniger friedlich bewohnte Großstadt ist hier die eigentliche Insel der Seligen. Viel spricht dafür, dass dieser am Ende angerufene Ort die Gegenwelt und sogar das Gegengift zu der Homogenisierungsfantasie ist, die Edelbauer mit Groß-Einland entworfen hat. Mühsam ist jedoch die Beflissenheit, mit der das Buch auf das Publikum einhämmert, dass der feste Grund, auf dem wir auch an solchen Orten zu stehen glauben, längst ein flüssiges Land geworden ist. Dass es sich bei unserer Gegenwart um eine immer schon instabile Welt handelt, die auf Fiktionen beruht.
Diese Botschaft wurde offenbar für so überzeugend gehalten, dass Edelbauers Debüt wie Köhlers „Miroloi“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelandet ist. Die Mischung von zeitgeistigen Themen mit Archaik und Fantastik scheint einen Nerv zu treffen. Möglicherweise auch, weil sich die Autorinnen die Mühe machen, den Blick vom eigenen Nabel abzuwenden, die Perspektive zu erweitern – und im Fall von „Das flüssige Land“ mit einer Reflexion auf den (österreichischen) Umgang mit der Geschichte zu verbinden. Allerdings arbeiten sowohl Edelbauers, als auch Köhlers Versuche, eine brüchige Idylle als Genre zu aktivieren, in dem sich der Verlust von Eindeutigkeit gut modellieren lässt, unablässig mit Vereindeutigungen. Unschuldige Frauen gegen böse Männer, hübsche Fassaden gegen düstere Löcher, Erinnern gegen Vergessen, multikulturelle Großstädte gegen homogene Dörfer, der Zeit entrückte Inseln gegen stressige Moderne. So entsteht zumindest in diesen Romanen ideologische Übersichtlichkeit, offene Fragen, Mischzustände, Uneindeutigkeit bieten sie nicht an. Es ist sehr schade, dass zwei mit zeitgenössischen Konflikten so vollgesogene Bücher so weltarm geraten sind.
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 350 Seiten, 22 Euro.
Ein Hohlraum destabilisiert den
Boden, auf dem dieser unheimlich
schöne Teil Österreichs erbaut ist
Selbst für gutgläubige und
zugewandte Leserinnen wird der
Roman da zur Zumutung
Die Botschaft gilt offenbar als
überzeugend: Der Roman steht
auf der Longlist des Buchpreises
Die Autorin Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien.
Foto: dpa / Victoria Herbig
Loch in der Heimat: Höhlen und Stollen in der österreichischen Landschaft dienen Raphaela Edelbauer als Metaphern für Abgründe, die sich in der Idylle auftun können. Hier der Eingang zu einem Triftstollen in Niederösterreich.
Foto: imago
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Die Idylle ist wieder da, in der Literatur deutscher Debütanten. Dass da etwas
nicht stimmen kann, zeigt Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“
VON HANNA ENGELMEIER
Eher ruhig war es in der Literatur lange Zeit um die Idylle – wenig überraschend hinsichtlich der Großwetterlage, aber auch dessen, was literarisch interessant zu verarbeiten ist. Was soll man schon erzählen, wenn alles in schönster Ordnung ist? Zuletzt stand ein Roman in der Kritik, der eine mit Idylle garnierte Geschichte wenig überraschend als verdrehte Dystopie erzählt: In Karen Köhlers „Miroloi“ (Hanser-Verlag) widerfahren der Protagonistin auf einer sogenannten „Schönen Insel“ schreckliche Dinge. Die Welt des Romans ist ebenso archaisch gewaltvoll wie anheimelnd strukturiert. Zur Diskussion stand besonders Köhlers betont schlichter, fast kindlicher Manierismus sowie die Frage, ob das die geeignete Form für eine emanzipatorische Selbstfindungsgeschichte sei.
Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“ verhält sich in vieler Hinsicht komplementär zu „Miroloi“. Die Erzählerin ist keine 15-jährige Unschuld von der Insel, sondern eine 35-jährige, mit diversen Psychopharmaka gedopte Hochleistungsphysikerin, die kurz vor der Habilitation steht. Nachdem Ruth Schwarz’ Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, möchte sie zur Vorbereitung einer Ansprache bei ihrer Beerdigung deren Biografien besser verstehen. Zu diesem Zweck macht sie sich von Wien aus auf in die österreichische Provinz, um in eine Region namens Groß-Einland zu gelangen, in der ihre Eltern aufwuchsen.
Tief in den Wäldern eines nicht näher bezeichneten Teils des doch eigentlich nicht so unübersichtlichen Österreichs stößt sie schließlich auf ein Städtchen, dessen Flair sie sich nicht entziehen kann: „Groß-Einland war von unfassbarer Schönheit, ähnlich der Kulisse eines Mittelalterfilms, in dem die Hochphase des Handwerks an makellosen Fassaden entlang ausgewiesen wird.“ Hier bleibt Ruth nun für sie selbst überraschend mehrere Jahre, denn nicht nur ästhetisch bewegt sie sich scheinbar in der besten aller denkbaren Welten. Auch sozial ist auf den ersten Blick alles in Butter: „Jeder Bewohner besaß eine genau bezifferte Bedeutsamkeit in diesem sozialen Gefüge, die man mit Händen greifen konnte, denn sie war hierarchisch und wurde ihren Bedingungen nach meist offengelegt. Die einfachsten Verrichtungen hatten etwas Magisches an sich.“
Weil wir uns aber in einem Roman für die Großen und nicht in einem Pixie-Buch für die Kleinen befinden, stellt sich heraus, dass die Heimeligkeit schwer zu übersehende Risse hat. Praktischerweise darf das ganz wörtlich aufgefasst werden: Unter Groß-Einland befindet sich ein riesiger Hohlraum namens „das Loch“, der den Boden destabilisiert, auf dem dieser unheimlich schöne Teil Österreichs erbaut ist. Ab dem Moment, in dem das Ausmaß des metaphorologischen Interesses Edelbauers an diesem Loch deutlich wird, erhält auch die Grenze zwischen Roman und Pixie-Buch Groß-Einland-mäßige Risse.
Denn dieses Loch dient nicht nur den Bewohnern als Halde, auf der sie ihren Bauschutt verklappen, es dient auch dem Buch dazu, seinen Plot in Richtung Vergangenheitsbewältigung auszudehnen. Es kommt heraus, dass Groß-Einland, das von einer schrecklich-jovialen Gräfin beherrscht wird („Ich bin die Ulrike“, stellt sie sich irgendwann vor), eine düstere Vergangenheit hat. Der Reichtum der Gräfin beruht nämlich nicht zuletzt auf der Arbeit ungarischer Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs für die Industriellenfamilie, der die Gräfin entstammt, ausgebeutet und dann ermordet wurden. Das Loch ist der Ort, an dem Groß-Einland seine Gewaltgeschichte verscharrt.
Wer Idylle sagt, muss Verdrängung meinen: Dieser nicht ganz taufrische Gedanke spielt sowohl bei Edelbauer, als auch in Köhlers „Miroloi“ eine zentrale Rolle. Köhler greift auf einen nervtötenden Simplizissimus, Edelbauer auf einen ins Schnörkelige driftenden Stil zurück, um die Unerreichbarkeit einer heilen Welt angemessenen poetisch abzubilden. Der Abstand zum unterstellten Alltagserleben des Publikums ist damit geschaffen. Es fragt sich aber, ob ein Publikum, das den Weg zu diesem Buch gefunden hat, aufklärungsbedürftig beispielsweise hinsichtlich der Tatsache ist, dass es leider doch keine Welt gibt, die frei von überzogenen Ansprüchen an Habilitandinnen ist, dafür aber voller sozialen Friedens und in gutem Einvernehmen mit der historischen Verantwortung für den Faschismus.
Dass ihre Welt so gut nicht ist, erfährt Ruth, als ihre Fähigkeiten als Physikerin in Dienst genommen werden, um den Hohlraum mithilfe eines Füllmaterials zu befestigen, das sie selbst erfindet. So erhält sie Zugang zu Unterlagen über die Geschichte des Ortes, in denen sie etwas über die unmittelbare Vorgeschichte des Todes ihrer Eltern erfährt. Diese waren ebenfalls nach Groß-Einland zurückgekehrt, um mehr über dessen verleugnete Vergangenheit herauszufinden, die offenbar stark mit ihrer eigenen Biografie zusammenhängt. Anhand der Tagebuchaufzeichnungen eines weiteren Groß-Einländers rekonstruiert Ruth, dass es sich bei ihren Großeltern um Juden handelte.
Spätestens an dieser Stelle wird der Roman, der von fiktiven Auszügen aus Ruths Habilitation und Archivmaterialien durchsetzt ist, zu einer Zumutung selbst für gutgläubige und zugewandte Leserinnen und Leser: Nun gut, es gibt da also dieses Loch – unklar, wie das statisch gehen soll, und warum die fast habilitierte Physikerin so zugeknöpft ist, was statische Details angeht. Nun gut, schuld an allem ist unter anderem „die Ulrike“, und ja, vermutlich, weil ihre Familie mit den Nazis zusammengearbeitet hat, schlimm genug, man kennt das, die Hoffnung auf nähere Ausführungen dazu gibt man spät auf. Und okay, die Risse in der Erde symbolisieren die Risse in den Gewissheiten der Erzählerin, viel Halt scheint sie bei ihrem Codein-Konsum nicht gehabt zu haben. Ihr nun aber auch noch jüdische Großeltern zu verpassen, die das Ausmaß an Involviertheit in die Geschichte Groß-Einlands steigern, wirkt plotstrategisch wohlfeil und historisch frivol.
Sowohl die Anbindung des Romans an die Gegenwart, als auch an die Geschichte ist äußerst lose gestrickt: Gegenwart wird er durch seine eskapistische Grundanlage los. Unter anderem stellt sich nach Ruths Ankunft heraus, dass herrlichste Glasfaserkabel unter Groß-Einland befindlich sind, die aber niemand nutzen möchte. Kein Interesse am Internet, ihr Handy vernichtet Ruth schon auf der Hinfahrt. Ein Supermarkt im Ort und ein Fernseher hingegen stören keinen großen Geist, der Roman schreitet antiquiert tönend voran. Die reale Vergangenheit, insbesondere die des Austrofaschismus und der Shoah, ist mit den Stichworten Mauthausen, KZ, Zwangsarbeiter abgesteckt, der Rest sind von Edelbauer selbst erdachte Spezialmythen ihres im verwunschenen Wald gelegenen Horrorörtchens. Während es einerseits erfrischend ist, dass es hier jemand mit dem Ausdenken so ernst nimmt, wäre es auf der anderen Seite erleichternd, wenn der Eindruck entstünde, dass es sich mit der historischen Recherche ebenso verhält.
Dass die einzige Heimat, die Ruth je gekannt hat, nur als eine Art Albtraum Realität hat, wird ihr deutlich, als sie schließlich den Absprung schafft und nach Wien zurückkehrt: „Ich würde schon abends, dachte ich, am Donaukanal sitzen, in dieser schnurgeraden Betoneinfassung des Flusses, und Menschen aus allen Nationen würden mit Lautsprechern und Dosenbier in der Hand an mir vorbeirinnen. Groß-Einland wäre mir nichts mehr als ein merkwürdiger Traum, wenn ich den Faden, wo ich ihn verloren hatte, wieder ergriffe.“
Eine von vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Traditionen und Ethnien mehr oder weniger friedlich bewohnte Großstadt ist hier die eigentliche Insel der Seligen. Viel spricht dafür, dass dieser am Ende angerufene Ort die Gegenwelt und sogar das Gegengift zu der Homogenisierungsfantasie ist, die Edelbauer mit Groß-Einland entworfen hat. Mühsam ist jedoch die Beflissenheit, mit der das Buch auf das Publikum einhämmert, dass der feste Grund, auf dem wir auch an solchen Orten zu stehen glauben, längst ein flüssiges Land geworden ist. Dass es sich bei unserer Gegenwart um eine immer schon instabile Welt handelt, die auf Fiktionen beruht.
Diese Botschaft wurde offenbar für so überzeugend gehalten, dass Edelbauers Debüt wie Köhlers „Miroloi“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelandet ist. Die Mischung von zeitgeistigen Themen mit Archaik und Fantastik scheint einen Nerv zu treffen. Möglicherweise auch, weil sich die Autorinnen die Mühe machen, den Blick vom eigenen Nabel abzuwenden, die Perspektive zu erweitern – und im Fall von „Das flüssige Land“ mit einer Reflexion auf den (österreichischen) Umgang mit der Geschichte zu verbinden. Allerdings arbeiten sowohl Edelbauers, als auch Köhlers Versuche, eine brüchige Idylle als Genre zu aktivieren, in dem sich der Verlust von Eindeutigkeit gut modellieren lässt, unablässig mit Vereindeutigungen. Unschuldige Frauen gegen böse Männer, hübsche Fassaden gegen düstere Löcher, Erinnern gegen Vergessen, multikulturelle Großstädte gegen homogene Dörfer, der Zeit entrückte Inseln gegen stressige Moderne. So entsteht zumindest in diesen Romanen ideologische Übersichtlichkeit, offene Fragen, Mischzustände, Uneindeutigkeit bieten sie nicht an. Es ist sehr schade, dass zwei mit zeitgenössischen Konflikten so vollgesogene Bücher so weltarm geraten sind.
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 350 Seiten, 22 Euro.
Ein Hohlraum destabilisiert den
Boden, auf dem dieser unheimlich
schöne Teil Österreichs erbaut ist
Selbst für gutgläubige und
zugewandte Leserinnen wird der
Roman da zur Zumutung
Die Botschaft gilt offenbar als
überzeugend: Der Roman steht
auf der Longlist des Buchpreises
Die Autorin Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien.
Foto: dpa / Victoria Herbig
Loch in der Heimat: Höhlen und Stollen in der österreichischen Landschaft dienen Raphaela Edelbauer als Metaphern für Abgründe, die sich in der Idylle auftun können. Hier der Eingang zu einem Triftstollen in Niederösterreich.
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»[...] sperrig und gefällig, avanciert und nonchalant.« Christina Pfeiffer-Ulm, Büchereiperspektiven, Dezember 2020 Christina Pfeiffer-Ulm Büchereiperspektiven 20201201