Zum ersten Mal werden hier die Akten des Prozesses gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt vollständig herausgegeben. Die Akten sind ein einzigartiges Dokument der Sozial- und Rechtsgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts und zugleich eine literaturgeschichtliche Quelle von großer Bedeutung: Die Gretchenszenen des "Faust" sind von diesem Prozeß inspiriert.
Im Jahre 1771/72 fand in Frankfurt am Main der Prozeß gegen die Magd Susanna Margaretha Brandt statt. Sie wurde wegen Kindsmord verurteilt und mit dem Schwert hingerichtet. - Zum ersten Mal werden hier die Prozeßakten, die ungewöhnlich gut überliefert sind, vollständig herausgegeben.
Die Akten sind ein einzigartiges Dokument der Sozialgeschichte: Selten bekommt man so tiefe Einblicke in das Leben einer Magd im ausgehenden 18. Jahrhundert. Sie sind zugleich rechtshistorisch von großer Bedeutung. Die Gerichtsprotokolle, das Gutachten der Ärzte, die Stellungnahmen der Rechtsgelehrten, die Verteidigungsschrift und die zuweilen erschreckend detaillierten Hinrichtungsberichte geben überraschende Einblicke in die Rechtspraxis der Zeit.
Der Prozeß hatte überdies literaturgeschichtliche Wirkungen: Goethe, zu dieser Zeit in Frankfurt als Jurist tätig, hat ihn genau verfolgt. Vieles spricht dafür, daß er sich durch ihn bei der Gestaltung der Gretchenrolle seines "Faust" hat anregen lassen. Eine besondere Bedeutung erhält der Prozeß schließlich, weil die besonders in Aufklärungskreisen heftig geführten Debatten über solche Verfahren mit dazu geführt haben, daß sich ein neuer Begriff von Verbrechen und Strafe herausbildete.
Zum Autor/Herausgeber: Rebekka Habermas, geb. 1959, Dr. phil., habilitierte sich 1998 im Fach Neue Geschichte. Veröffentlichungen u. a. "Wallfahrt und Aufruhr" (1991), "Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte 1750-1850" (1999).Tanja Hommen, geb. 1962, Dr. phil. Veröffentlichungen u. a. "Verbrechen wider die Sittlichkeit. Sexuelle Gewalt in der Gesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs" (1999).
Im Jahre 1771/72 fand in Frankfurt am Main der Prozeß gegen die Magd Susanna Margaretha Brandt statt. Sie wurde wegen Kindsmord verurteilt und mit dem Schwert hingerichtet. - Zum ersten Mal werden hier die Prozeßakten, die ungewöhnlich gut überliefert sind, vollständig herausgegeben.
Die Akten sind ein einzigartiges Dokument der Sozialgeschichte: Selten bekommt man so tiefe Einblicke in das Leben einer Magd im ausgehenden 18. Jahrhundert. Sie sind zugleich rechtshistorisch von großer Bedeutung. Die Gerichtsprotokolle, das Gutachten der Ärzte, die Stellungnahmen der Rechtsgelehrten, die Verteidigungsschrift und die zuweilen erschreckend detaillierten Hinrichtungsberichte geben überraschende Einblicke in die Rechtspraxis der Zeit.
Der Prozeß hatte überdies literaturgeschichtliche Wirkungen: Goethe, zu dieser Zeit in Frankfurt als Jurist tätig, hat ihn genau verfolgt. Vieles spricht dafür, daß er sich durch ihn bei der Gestaltung der Gretchenrolle seines "Faust" hat anregen lassen. Eine besondere Bedeutung erhält der Prozeß schließlich, weil die besonders in Aufklärungskreisen heftig geführten Debatten über solche Verfahren mit dazu geführt haben, daß sich ein neuer Begriff von Verbrechen und Strafe herausbildete.
Zum Autor/Herausgeber: Rebekka Habermas, geb. 1959, Dr. phil., habilitierte sich 1998 im Fach Neue Geschichte. Veröffentlichungen u. a. "Wallfahrt und Aufruhr" (1991), "Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte 1750-1850" (1999).Tanja Hommen, geb. 1962, Dr. phil. Veröffentlichungen u. a. "Verbrechen wider die Sittlichkeit. Sexuelle Gewalt in der Gesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs" (1999).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.1999Gretchenfrage in der Historiographie
"Am Abend des 2. August 1771 erschien die Ehefrau des Tambours König beim Jüngeren Bürgermeister der Stadt Frankfurt und teilte ihm mit, dass ihre Schwester, die Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt, einer verheimlichten Geburt verdächtig erscheine. Sofort begannen die Mühlen der Justiz zu mahlen." Mit diesen Worten leitet die Herausgeberin der Strafakten den Gang der Dinge ein ("Das Frankfurter Gretchen". Der Prozess gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Herausgegeben von Rebekka Habermas in Verbindung mit Tanja Hommen. Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 1999. 304 S, geb., 48,- DM). Ja, eine verheimlichte Geburt ist etwas Schwerwiegendes, das gilt auch heute noch in manchem Bereich. Am vergangenen Donnerstag wurde das Buch in Frankfurt vorgestellt und als große Leistung gefeiert.
1771 wurde die Kindsleiche bald gefunden, die Wirtin des Gasthauses zum Einhorn, wo Susanna arbeitete, befragt, eine Untersuchungskommission gebildet, ein Steckbrief ging hinaus, und schon am Nachmittag des 3. August wurde Susanna am Bockenheimer Tor verhaftet. Sie war in ihrer Angst nach Mainz geflohen und dann wieder umgekehrt. Die Behörden ermittelten zügig und sorgfältig. Die Befragungen aller im Umfeld der Dienstmagd tätigen Personen kamen zu den Akten, ebenso die Sektionsprotokolle. Die Beschuldigte legte schließlich ein umfassendes Geständnis ab. Ja, sie habe das Kind gleich nach der Geburt umgebracht. Vater des Kindes sei ein längst entschwundener Holländer, der erste Mann im Leben der Vierundzwanzigjährigen. Susanna hatte die Schwangerschaft weder sich noch ihren Schwestern eingestanden. Der Satan, sagte sie, habe ihr das Maul zugehalten. Er habe ihr auch eingeflüstert, sie könne in dem großen Haus das Kind heimlich gebären und es umbringen.
Für die Juristen war es ein einfacher Fall. Nach Art. 131 der im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit 1532 geltenden Constitutio Criminalis Carolina war die vorsätzliche Tötung eines lebendig geborenen ausgetragenen Kindes ein todeswürdiges Kapitalverbrechen. Der wackere Verteidiger, der Advokat Schaaf, gab sich große Mühe. Seine Verteidigungsschrift vom 23. November enthielt alles, was gesagt werden konnte, die Unerfahrenheit der Person, die Überraschung durch die Geburt, die Verstörung und weiter, das Kind habe vielleicht nicht mehr gelebt, das Geständnis sei aus Angst vor der Folter gemacht worden, Susanna sei ein anständiges Mädchen, der Verführer, der sie betrunken gemacht habe, sei der eigentliche Bösewicht und so weiter. Alles war vergebens. Der Rat der Stadt beschloss - keineswegs überraschend - die Todesstrafe, gab sie der Delinquentin am 10. Januar 1772 bekannt und setzte die Hinrichtung auf den 14. Januar an. Sie wurde ein großes Ereignis.
Bis die letzten Aktenstücke zusammen kamen, war es April. Der Verteidiger war schließlich entlohnt, die Akten konnten geschlossen werden. Ein bewegender Fall, der aus den Ermittlungen der reichsstädtischen Justiz ans Licht tritt. Ein Fall unter vielen freilich, und schon Susanna musste hören, sie sei nicht die Erste und werde nicht die Letzte sein. Aber natürlich geht es mindestens ebenso sehr um Goethe.
Als Tat und Strafe aufeinander folgten, war der junge Lizentiat der Rechte gerade aus Straßburg zurückgekommen und hatte einen Antrag auf Zulassung als Advokat gestellt. Die Beziehung zu Friederike Brion lag hinter ihm. Er konnte sich vorstellen, was es hieß, ein Mädchen "ins Unglück zu bringen". Der Fall der Susanna "Gretchen" Brandt rollte nun vor seinen Augen ab, zumal engste Kontakte zu den beteiligten Ratsherren und Ärzten bestanden. Gewiss war man sozial weit auseinander, und es müssen der reale Fall und der Text der Akten, der Kindsmord im achtzehnten Jahrhundert und seine vielen literarischen Bearbeitungen analytisch voneinander getrennt werden, wie die Herausgeberinnen mit Recht betonen, aber das verführte Frankfurter Gretchen, über das die anderen hämisch tuscheln, das die Schwangerschaft bis zuletzt leugnet, an den Satan glaubt, vor der Schande zittert und schließlich sein Kind umbringt, während der Verführer auf Mephistos Zaubermantel eine Erlebnisreise macht, das war der Stoff, der sich mit dem Volksbuch und dem Puppenspiel zusammenfügte.
Die Akten befinden sich im Institut für Stadtgeschichte (Stadtarchiv) Frankfurt. Diese 334 Blatt nun in einer exakten Transkription und Edition mit Übersetzungsfußnoten, Glossar und stadthistorisch interessanten biographischen Notizen herausgebracht und mit einer rundum informierenden Einleitung versehen zu haben ist gewiss ein Verdienst der beiden Historikerinnen Rebekka Habermas und Tanja Hommen. Aber ihre Behauptung: "Erstmals wird hier die vollständige Akte . . . für ein breites Publikum veröffentlicht", grenzt an Irreführung. Das Licht der Öffentlichkeit erblickte sie viel früher. Denn Siegfried Birkner hat ebendiese Akten schon 1979, abermals 1989 und natürlich noch einmal in diesem August im Insel Verlag publiziert, sogar als Taschenbuch, und sachkundig und einfühlsam kommentiert. Ganz "vollständig" war diese Publikation zwar nicht. Aber Birkners Kürzungen der Verhörprotokolle sowie die Modernisierungen von Orthographie und Interpunktion betrafen keine wesentlichen Punkte. Neu ist also nur das korrekt sitzende historiographische Kleid des bekannten Falles. Als ärgerliche Spurenverwischung einer verheimlichten publizistischen Geburt muss gelten, dass weder Verlag noch die Herausgeberinnen es für nötig halten, das Buch von Birkner auch nur in einer einzigen Fußnote zu erwähnen. Unerfahrenheit der beteiligten Personen dürfte als Entschuldigung ausfallen.
MICHAEL STOLLEIS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Am Abend des 2. August 1771 erschien die Ehefrau des Tambours König beim Jüngeren Bürgermeister der Stadt Frankfurt und teilte ihm mit, dass ihre Schwester, die Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt, einer verheimlichten Geburt verdächtig erscheine. Sofort begannen die Mühlen der Justiz zu mahlen." Mit diesen Worten leitet die Herausgeberin der Strafakten den Gang der Dinge ein ("Das Frankfurter Gretchen". Der Prozess gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Herausgegeben von Rebekka Habermas in Verbindung mit Tanja Hommen. Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 1999. 304 S, geb., 48,- DM). Ja, eine verheimlichte Geburt ist etwas Schwerwiegendes, das gilt auch heute noch in manchem Bereich. Am vergangenen Donnerstag wurde das Buch in Frankfurt vorgestellt und als große Leistung gefeiert.
1771 wurde die Kindsleiche bald gefunden, die Wirtin des Gasthauses zum Einhorn, wo Susanna arbeitete, befragt, eine Untersuchungskommission gebildet, ein Steckbrief ging hinaus, und schon am Nachmittag des 3. August wurde Susanna am Bockenheimer Tor verhaftet. Sie war in ihrer Angst nach Mainz geflohen und dann wieder umgekehrt. Die Behörden ermittelten zügig und sorgfältig. Die Befragungen aller im Umfeld der Dienstmagd tätigen Personen kamen zu den Akten, ebenso die Sektionsprotokolle. Die Beschuldigte legte schließlich ein umfassendes Geständnis ab. Ja, sie habe das Kind gleich nach der Geburt umgebracht. Vater des Kindes sei ein längst entschwundener Holländer, der erste Mann im Leben der Vierundzwanzigjährigen. Susanna hatte die Schwangerschaft weder sich noch ihren Schwestern eingestanden. Der Satan, sagte sie, habe ihr das Maul zugehalten. Er habe ihr auch eingeflüstert, sie könne in dem großen Haus das Kind heimlich gebären und es umbringen.
Für die Juristen war es ein einfacher Fall. Nach Art. 131 der im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit 1532 geltenden Constitutio Criminalis Carolina war die vorsätzliche Tötung eines lebendig geborenen ausgetragenen Kindes ein todeswürdiges Kapitalverbrechen. Der wackere Verteidiger, der Advokat Schaaf, gab sich große Mühe. Seine Verteidigungsschrift vom 23. November enthielt alles, was gesagt werden konnte, die Unerfahrenheit der Person, die Überraschung durch die Geburt, die Verstörung und weiter, das Kind habe vielleicht nicht mehr gelebt, das Geständnis sei aus Angst vor der Folter gemacht worden, Susanna sei ein anständiges Mädchen, der Verführer, der sie betrunken gemacht habe, sei der eigentliche Bösewicht und so weiter. Alles war vergebens. Der Rat der Stadt beschloss - keineswegs überraschend - die Todesstrafe, gab sie der Delinquentin am 10. Januar 1772 bekannt und setzte die Hinrichtung auf den 14. Januar an. Sie wurde ein großes Ereignis.
Bis die letzten Aktenstücke zusammen kamen, war es April. Der Verteidiger war schließlich entlohnt, die Akten konnten geschlossen werden. Ein bewegender Fall, der aus den Ermittlungen der reichsstädtischen Justiz ans Licht tritt. Ein Fall unter vielen freilich, und schon Susanna musste hören, sie sei nicht die Erste und werde nicht die Letzte sein. Aber natürlich geht es mindestens ebenso sehr um Goethe.
Als Tat und Strafe aufeinander folgten, war der junge Lizentiat der Rechte gerade aus Straßburg zurückgekommen und hatte einen Antrag auf Zulassung als Advokat gestellt. Die Beziehung zu Friederike Brion lag hinter ihm. Er konnte sich vorstellen, was es hieß, ein Mädchen "ins Unglück zu bringen". Der Fall der Susanna "Gretchen" Brandt rollte nun vor seinen Augen ab, zumal engste Kontakte zu den beteiligten Ratsherren und Ärzten bestanden. Gewiss war man sozial weit auseinander, und es müssen der reale Fall und der Text der Akten, der Kindsmord im achtzehnten Jahrhundert und seine vielen literarischen Bearbeitungen analytisch voneinander getrennt werden, wie die Herausgeberinnen mit Recht betonen, aber das verführte Frankfurter Gretchen, über das die anderen hämisch tuscheln, das die Schwangerschaft bis zuletzt leugnet, an den Satan glaubt, vor der Schande zittert und schließlich sein Kind umbringt, während der Verführer auf Mephistos Zaubermantel eine Erlebnisreise macht, das war der Stoff, der sich mit dem Volksbuch und dem Puppenspiel zusammenfügte.
Die Akten befinden sich im Institut für Stadtgeschichte (Stadtarchiv) Frankfurt. Diese 334 Blatt nun in einer exakten Transkription und Edition mit Übersetzungsfußnoten, Glossar und stadthistorisch interessanten biographischen Notizen herausgebracht und mit einer rundum informierenden Einleitung versehen zu haben ist gewiss ein Verdienst der beiden Historikerinnen Rebekka Habermas und Tanja Hommen. Aber ihre Behauptung: "Erstmals wird hier die vollständige Akte . . . für ein breites Publikum veröffentlicht", grenzt an Irreführung. Das Licht der Öffentlichkeit erblickte sie viel früher. Denn Siegfried Birkner hat ebendiese Akten schon 1979, abermals 1989 und natürlich noch einmal in diesem August im Insel Verlag publiziert, sogar als Taschenbuch, und sachkundig und einfühlsam kommentiert. Ganz "vollständig" war diese Publikation zwar nicht. Aber Birkners Kürzungen der Verhörprotokolle sowie die Modernisierungen von Orthographie und Interpunktion betrafen keine wesentlichen Punkte. Neu ist also nur das korrekt sitzende historiographische Kleid des bekannten Falles. Als ärgerliche Spurenverwischung einer verheimlichten publizistischen Geburt muss gelten, dass weder Verlag noch die Herausgeberinnen es für nötig halten, das Buch von Birkner auch nur in einer einzigen Fußnote zu erwähnen. Unerfahrenheit der beteiligten Personen dürfte als Entschuldigung ausfallen.
MICHAEL STOLLEIS
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