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Wie dachten die Menschen des Mittelalter? Inwiefern waren sie wie wir und wo uns fremd? Es sind diese Fragen, die den Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher interessieren. In seinem neuen Buch fasst er im wahrsten Sinn des Wortes"ein heißes Eisen"an. Denn diese Redewendung kommt von einem Rechtsbrau, den man anwandte, wenn die irdische Justiz nicht mehr weiter wusste: dem Gottesurteil. Mit verschiedenen Mitteln wie dem Hexenbad oder glühenden Eisenstücken wurde der oder die Angeklagte auf die Probe gestellt. Noch seltsamer muten uns die Tierprozesse an, in denen zum Beispiel Mäuse verurteilt…mehr

Produktbeschreibung
Wie dachten die Menschen des Mittelalter? Inwiefern waren sie wie wir und wo uns fremd? Es sind diese Fragen, die den Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher interessieren. In seinem neuen Buch fasst er im wahrsten Sinn des Wortes"ein heißes Eisen"an. Denn diese Redewendung kommt von einem Rechtsbrau, den man anwandte, wenn die irdische Justiz nicht mehr weiter wusste: dem Gottesurteil. Mit verschiedenen Mitteln wie dem Hexenbad oder glühenden Eisenstücken wurde der oder die Angeklagte auf die Probe gestellt. Noch seltsamer muten uns die Tierprozesse an, in denen zum Beispiel Mäuse verurteilt wurden, weil sie ein Feld kahlgefressen hatten. Man gab ihnen drei Tage, den Ort zu verlassen - schwangere und Jungtiere hatten etwas mehr Zeit. Dieses Buch soll helfen zu verstehen, warum die Menschen des Mittelalters solche Praktiken anwandten. Erst wenn wir uns dem Mittelalter als einer anderen Kultur nähern und die Fremdheit dieser Epoche nicht ausblenden, entfaltet sie ihre ganze Faszination.
Autorenporträt
Dr. phil. habil. Peter Dinzelbacher, geb. 1948, Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten in Deutschland, Österreich, Italien und Dänemark, seit 1998 Honorarprofessor für Mentalitätsgeschichte an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen, speziell zur Religiosität und Mentalität des Mittelalters.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2007

Klären Sie den Hund über seine Rechte auf!
Peter Dinzelbacher besichtigt den Tierprozess, ein bisher wenig beachtetes Tribunal des Mittelalters

Der Bischof von Lausanne sah sich dem Spott mancher Zeitgenossen ausgesetzt, als er Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts einer Insektenplage mit den Mitteln des geistlichen Gerichts zu begegnen suchte. Er hatte die Schädlinge kurzerhand dem Exorzismus unterworfen, ihnen aber auch als Geschöpfen Gottes ein verlassenes Wäldchen angewiesen, wo sie ihre Nahrung finden sollten; dies war mit der Auflage verbunden, dort zu bleiben und nie wieder benachbarte Landstriche heimzusuchen. Für seine Maßnahme fand der Oberhirte neben der Kritik auch viel Unterstützung; tätig geworden war er schon, weil die Landbewohner selbst das Ungeziefer durch drei Edikte vor das Provinzialgericht zitiert hatten. Das Verfahren war formal korrekt verlaufen, sogar Prokuratoren und Advokaten hatte man den Insekten zur Seite gestellt. Noch wichtiger war, was die Gelehrten dachten. Ein Züricher Kirchenrechtler verteidigte den Diözesan, es gehöre zu den Geheimnissen des Herrn, dass auch die unverständigen Tiere gesegnet und verflucht werden dürften, und fügte als Argument hinzu: "Alle Doktoren der Heidelberger Universität, die diese Riten sahen und lasen, stimmten ihm bei."

Tierprozesse wie der vor dem Bischof von Lausanne sind im westlichen Europa nicht selten bezeugt. Neben geistlichen wurden auch weltliche Gerichte tätig, und zwar dann, wenn es um Nutztiere ging, die Menschen geschädigt oder zu Tode gebracht hatten; der erste Fall, 1266/68 in Fontenay bei Paris, betraf schon das Todesurteil gegen ein Schwein, das auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde. Tierprozesse blieben aber keine Erscheinung des Mittelalters; denn noch 1789 verfiel in Brabant ein Stier der Todesstrafe, und 1916 sind analoge Fälle aus den Vereinigten Staaten, aus Kentucky und Tennessee, belegt.

Von Anfang an wurden gegen die Tierprozesse Einwände erhoben. So schrieb der Jurist Philipp de Beaumanoir schon 1283: "Die stummen Tiere haben kein Verständnis von dem, was gut und böse ist, und daher ist rechtliches Vorgehen vergebens, denn dieses muss zur Vergeltung einer Untat geschehen, und der, der die Untat begangen hat, muss wissen und verstehen, dass er für eine bestimmte Untat eine bestimmte Strafe davonträgt. Aber ein solches Verständnis gibt es nicht unter den stummen Tieren." Andererseits waren es gerade Rechtsgelehrte, die die uns so bizarr anmutende Praxis bis zuletzt verteidigten. Mindestens sechs Auflagen erreichte eine juristische Abhandlung bis 1638, in der die Möglichkeit, Tiere vor Gericht zu stellen und zu exkommunizieren, eingehend erörtert wurde, und noch 1688 veröffentlichte ein französischer Advokat in Savoyen ein Musterformular für Tierprozesse vor geistlichen Gerichten.

Das frühe Mittelalter hatte hingegen Gerichtsverfahren gegen Tiere nicht gekannt. Offenkundig in der Tradition des römischen Rechts, nach dem Tiere kein Unrecht tun können, da sie des Verstandes entbehren (Digesten 9,1,3), dekretierte beispielsweise der Langobardenkönig Rothari im Jahr 643, der von einem Tier angerichtete Schaden sei kein Grund für eine Fehde, "weil es eine stumme Sache tat, und nicht menschliche Absicht". Befremdlich ist hingegen eine andere Rechtspraxis jener Zeit. Wenn immer Zeugenaussagen und Eidesleistungen nicht zur Lösung eines Falls vor Gericht führten, konnte als Ultima Ratio ein Gottesurteil eingeholt werden. Wer als Beklagter ein heißes Eisen eine bestimmte Wegstrecke tragen konnte, ohne nach drei Tagen eitrige Wunden aufzuweisen, wer in kaltem Wasser unterging und nicht an die Oberfläche getragen wurde, aus einem Kessel heißkochenden Wassers einen winzigen Ring fischen konnte oder im Zweikampf obsiegte, dem bewies Gott an seinem Körper die Unschuld und setzte die Gegenpartei ins Unrecht.

Die "iuditia Dei" fanden von Anfang an prominente Fürsprecher. Karl der Große erließ 809 sogar ein Gesetz, "dass alle (Untertanen) ohne Zweifel dem Gottesurteil Glauben schenken müssen", und sein Sohn, Kaiser Ludwig, wollte ein gerichtliches Patt von Eideshelfern durch den Zweikampf überwunden sehen: Von beiden Parteien "sollen zwei ausgewählt werden, das heißt aus jeder Partei einer, die mit Schilden und Knüppeln am Kampffeld ausfechten sollen, welche Partei der Unwahrheit und welche der Wahrheit folgt. Und dem Kämpen, der besiegt wird, soll die rechte Hand abgeschnitten werden wegen des Meineids, den er vor dem Kampf beging. Die übrigen Zeugen derselben Partei, die sich als falsch erwiesen haben, sollen ihre Hände erkaufen." Die Kirche nahm zu den Gottesurteilen lange eine schwankende Haltung sein, verbot aber immer wieder den gerichtlichen Zweikampf, bevor das vierte Laterankonzil von 1215 allen Geistlichen untersagte, an jeder Form von Ordalien teilzunehmen. Die weltlichen Gewalten taten sich schwer, das Verbot zu übernehmen und durchzusetzen; wenn auch die Geltung des Beweisverfahrens seither gebrochen war, haben zumindest die Duelle zur Lösung von Ehrkonflikten bis ins vorige Jahrhundert überlebt.

Gottesurteile und Tierprozesse stellen aus moderner Sicht unzulässige juristische Grenzüberschreitungen dar. Im einen Fall wird Gott als oberster Gerichtsherr in die Pflicht genommen, wo menschliche Richter mit ihren Mitteln am Ende sind, im anderen soll die Fauna der Zuständigkeit einer Obrigkeit und eines juristischen Apparats unterworfen werden, die, gestützt vom Aufbruch der hochmittelalterlichen Wissenschaft, die ganze Welt hoheitlich und systematisch ordnen wollten. Über solche politischen und juristischen Omnipotenzträume kann sich nur mokieren, wer schon vergessen hat, dass noch vor kurzem die Machbarkeit der modernen Welt durch ökonomische und technologische Entwicklung verkündet und geglaubt wurde.

Der Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher hat sich ein großes Verdienst erworben, indem er die Gottesurteile und die bisher nur wenig beachteten Tierprozesse in einem neuen Buch nebeneinander behandelt und die Frage nach ihrer gegenläufigen Chronologie gestellt hat. Dinzelbacher will das Mittelalter als eine uns fremde Welt vor Augen führen, was die Gefahr mit sich bringt, das alte Vorurteil einer dunklen Epoche des Aberglaubens vor der Folie einer angeblich lichthellen Moderne zu bedienen. Dem sucht er mit dem Nachweis einer anderen inneren Logik der Epoche zu begegnen. Auch Gottesurteile und Tierprozesse seien nicht als irrational zu bewerten, wenn man die vernünftigen Kausalverknüpfungen anerkenne, die sich aus dem andersartigen Weltbild ergäben: "Wenn Gott allmächtig ist und auf die Bitten der Menschen achtet, dann kann man von ihm ein Wunder auch in der Rechtssphäre erwarten. Er kann bewirken, dass die verbrannte Hand auch gegen die Natur heilt oder sich schädliche Insekten an den Befehl eines Exorzisten halten."

Von den beiden Erscheinungen des Rechtslebens ausgehend, entwickelt Dinzelbacher überdies ein umfassendes Bild des Mittelalters von beachtlicher Kohärenz. Obwohl die Theologen zur Abwertung des Leibes tendierten, sei die ganze Epoche unter anderem von einer intensiven Körperlichkeit geprägt gewesen. Gott selbst mache wenigstens im frühen Mittelalter den Körper zum Zeichen seines Urteils und greife nicht, wie seit späteren Zeiten, in die Seele ein. Die Menschen hätten sich wesentlich deutlicher durch ihren Körper und ihre Handlungen als durch Geistiges und Seelisches definiert. Das herrschende ethische Konzept fragte nicht nach den Motiven, sondern nach den Wirkungen einer Tat. Im reichen Repertoire der Gesten brachten die Menschen ihre Emotionen spontan zum Ausdruck, nicht aber benutzten sie Rituale, wie manche neuere Forscher behaupten, zweckrational als politische Instrumente.

Neben Lücken bleiben Widersprüche. So beschreibt Dinzelbacher eindrucksvoll die mittelalterliche Religiosität als die Präsenzerfahrung einer anderen, einer nicht oder nur gelegentlich sichtbaren Welt von Teufel, Dämonen und Heiligen, deren Einwirkung auf den "realen" Alltag ständig dechriffriert wurde. Wie diese "polytheistische" Deutung von Transzendenz mit dem Glauben an den einen Schöpfer-, Herrscher- und Richtergott vermittelt wurde, lässt der Autor beiseite. Zwar stellt er zu Recht fest, dass die frühmittelalterliche Auffassung der stummen und vernunftlosen Tiere unserer Weltdeutung näher stehe und sich das Spätmittelalter unter dem Aspekt der Tierprozesse als Retardation auf dem Weg in die Moderne darstelle, doch hält er an dem obsoleten Entwicklungsschema fest, wonach auf ein archaisches Frühmittelalter ein Aufbruch zur Moderne im hohen Mittelalter gefolgt sei.

Dinzelbacher sieht wohl die Widersprüche der einzelnen Epochen, setzt sie aber historiographisch nicht mit der gebotenen Deutlichkeit um. Immerhin ist er nicht dem Fehler erlegen, Aufkommen und Verbreitung von Gottesurteilen und Tierprozessen kurzschlüssig zu erklären; die Frage, wie gelehrte Juristen glauben konnten, dass Tiere im Prozess die menschliche Sprache verstehen konnten (man schickte zu ihnen sogar eigene Boten, die das Urteil zu verkünden hatten), musste er offenlassen. So verstand der Autor sein Buch zu Recht nicht als Abschluss, sondern als Eröffnung einer wissenschaftlichen Debatte, aus der über die Menschen des Mittelalters ebenso viel gelernt werden kann wie über die der Gegenwart.

MICHAEL BORGOLTE

Peter Dinzelbacher: "Das fremde Mittelalter". Gottesurteil und Tierprozess. Magnus Verlag, Essen 2006. 287 S., br., 14,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr lehrreich scheint Rezensent Michael Borgolte diese Arbeit über das "fremde Mittelalter" von Peter Dinzelbacher. Dass der Autor neben den Gottesurteilen im Mittelalter die bislang kaum erforschte heute bizarr anmutende Praxis der Tierprozesse in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt, findet er überaus verdienstvoll. Die Intention Dinzelbachers, das Mittelalter als eine uns fremde Welt vorzustellen, birgt für Borgolte die Gefahr, "das alte Vorurteil einer dunklen Epoche des Aberglaubens vor der Folie einer angeblich lichthellen Moderne zu bedienen." Eine Gefahr, der der Autor nach Einschätzung Borgoltes entgeht, indem er die spezifische "innere Logik" der Epoche aufzuzeigen sucht, die eben nicht als irrational einzustufen sei. Schließlich ließen sich Tierprozesse und Gottesurteile aus dem Weltbild des Mittelalters durchaus vernünftig erschließen, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass es natürlich von Anfang an auch unterschiedliche Meinungen über beide Gerichtspraktiken gab. Borgolte bescheinigt Dinzelbacher, trotz einiger Lücken und unaufgelöster Widersprüche ein kohärentes Bild des Mittelalters zu zeichnen.

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