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Produktdetails
  • Verlag: Mohr Siebeck
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 196
  • Deutsch
  • Abmessung: 237mm x 175mm x 13mm
  • Gewicht: 335g
  • ISBN-13: 9783161466854
  • ISBN-10: 3161466853
  • Artikelnr.: 05589765
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.1995

Die Vermittlung des Gebets
Schriftauslegung und Seelsorge an der Zeit: Ein Alterswerk des großen Neutestamentlers Oscar Cullmann

Die Frage nach dem Gebet stand in der protestantischen Theologie seit der Aufklärung in der Regel nicht mehr allzu hoch im Kurs. Schon Kant, dieser Kirchenvater des Neuprotestantismus, hat darüber voller Zorn und Verachtung den Stab gebrochen. Nicht beten, sondern tugendhaft handeln, lautete seine Devise. Er (und seine Nachfolger) hätten aber mehr Luther lesen sollen: "Qui non orat (wer nicht betet), mit der Zeit wird er fidem verlieren." Man rechnete das Gebet zu den Formen der Frömmigkeit und nicht zu den großen Themen des theologischen Denkens und unterschied häufig zwischen dem erlaubten Dank- und dem fragwürdigen Bittgebet. Am Ende stand schließlich das meditative Selbstgespräch als eine tiefere Form der Selbstbestätigung.

Im Alten Testament nötigt der Psalter, das Gebetbuch Israels und der Alten Kirche und seine Verbindung mit dem Tempelkult, zu einem intensiveren Nachdenken über Formen und Inhalte des Gebets. Im Neuen Testament ist es nicht so einfach. Hier besitzen wir zwar eine Fülle von Hinweisen auf dieses elementare Ausdrucksmittel religiösen Lebens, aber nur wenige ausführliche Texte. Denn was mit innerer Notwendigkeit ständig geschieht, ist gerade nicht auf die literarische Gestalt angewiesen. Und weil die neutestamentliche Disziplin immer schon etwas verspätet war, gilt ihr das Thema nach wie vor weithin als theologisch wenig relevant. Dabei wird gerade im Gebet sowohl der scheinbar fast bruchlose Übergang von der jüdischen zur christlichen Liturgie sichtbar - wie auch der grundlegende Unterschied.

Um so bemerkenswerter ist es, wenn der Nestor der protestantischen neutestamentlichen Wissenschaft im deutschen und französischen Sprachraum, Oscar Cullmann, eine exegetische Monographie über "Das Gebet im Neuen Testament" vorlegt. Sie schließt, wie der Untertitel zeigt, auch systematisch-seelsorgerliche Fragen mit ein, ja sie ist auf diese Fragen hin angelegt. Der Landsmann Albert Schweitzers, der, 1902 in Straßburg geboren, am 25. Februar 1995 sein 93. Lebensjahr vollendet, übergibt dem Leser so etwas wie ein theologisches Vermächtnis, das auf die Quelle urchristlicher Lebenskraft zurückweisen will - in einer Zeit, da sich auch in der Kirche selbst ein bisweilen hemmungsloser Säkularismus, um nicht zu sagen Defätismus, breitmacht.

Der bis heute wissenschaftlich arbeitende Emeritus, der seit 1938 in Basel und seit 1953 gleichzeitig an der Sorbonne in Paris lehrte, bringt damit ein Thema zum Abschluß, das ihn, der auch eine wichtige Monographie zum urchristlichen Gottesdienst verfaßte, sein Leben lang beschäftigt hat. Denn das Gebet im Neuen Testament gehört zu den grundlegenden ökumenischen Themen, das nicht nur alle Kirchen verbindet, sondern auch (etwa beim Vaterunser, das jeder Jude mitbeten kann) Israel miteinschließt - wie umgekehrt der Siddur, das jüdische Gebetbuch, auf dem Schreibtisch jedes Pfarrers stehen sollte. Cullmann ist einer der führenden Ökumeniker unseres Jahrhunderts, der auch als Gast und Beobachter am II. Vatikanischen Konzil teilnahm und als Vierundachtzigjähriger ein Bändchen "Einheit durch Vielfalt" verfaßte. Man muß hinzufügen, daß er, durch seine großen Arbeiten zum urchristlichen Zeitverständnis, zur Heilsgeschichte und Eschatologie, unter den deutschsprachigen Neutestamentlern nach dem Zweiten Weltkrieg der eigentliche Antipode Rudolf Bultmanns wurde und dem Programm der Entmythologisierung nachdrücklich widersprach.

Das alles gilt es mitzubedenken, wenn man dieses in schlichtem, klaren Altersstil geschriebene Werk angemessen würdigen will. Denn es möchte mehr sein als nur eine wissenschaftliche Monographie über ein vernachlässigtes Thema; es versucht auch auf die Nöte und Einwände der Gegenwart zu antworten. Darum stehen am Anfang die Schwierigkeiten mit dem Gebet und der Widerspruch dagegen von Rousseau und Kant bis Bernet und Dorothee Sölle, die er - als Kontrahentin - am häufigsten zitiert und der er damit vielleicht doch etwas zu viel Ehre antut. Aber die ganze Studie durchzieht bei aller Bestimmtheit eine irenische Dialogbereitschaft, und das ist dem Thema angemessen.

Die Darstellung konzentriert sich in ihrem Hauptteil auf die drei wichtigsten Textcorpora: Die synoptischen Evangelien, die Paulusbriefe und Johannes, wobei Cullmann bei den Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas in der Regel nach Jesus selbst zurückfragt. Mittel- und Höhepunkt ist die Auslegung des Vaterunsers. Die knappe, aber sorgfältige Einzelexegese führt in die Probleme des Textes ein, verzichtet aber auf alles unnötige gelehrte Beiwerk, so daß auch der interessierte Nichttheologe ohne Mühe folgen kann; die vereinzelten griechischen Begriffe in den Anmerkungen brauchen ihn nicht zu stören.

Bei Paulus wird hinter dem originellen Denker und Missionar der charismatische Beter gerne übersehen. Der Autor entdeckt ihn neu und insistiert auf dem untrennbaren Zusammenhang von Gebet und Geist, der den Höhepunkt des Römerbriefs in Kapitel 8 beherrscht. Bei Johannes geht es vor allem um drei Texte: Die Formel vom "Beten im Geist und in der Wahrheit" im Gespräch mit der Samariterin (4, 23 f.), die Abschiedsreden (Kap. 13-16) des scheidenden Christus, der die Jünger auffordert, den Vater in seinem Namen zu bitten, und ihnen das Kommen des Geistes als "Tröster" und "Fürsprecher" verheißt, und schließlich das abschließende "hohepriesterliche Gebet" (Kap. 17), d. h. die Fürbitte Jesu für die Seinen, die mit der Bitte um die Einheit in der Liebe, die Vater, Sohn und Jüngergemeinde umschließt, endet. Cullmann spricht nicht aus der Distanz des Gelehrten zu einem entfernten Gegenstand, sondern bemüht sich, den Leser und seine Fragen in das Gespräch, das er mit den biblischen Autoren führt, einzubeziehen.

Der Versuch der seelsorgerlich ausgerichteten Synthese im Schlußteil nimmt die in der Einleitung aufgeführten Schwierigkeiten und Einwände wieder auf und stellt sie in das Licht der aus den neutestamentlichen Texten gesammelten Beobachtungen. Dabei gewinnt die Frage der "Nichterhörung", dargestellt am Gethsemanegebet Jesu und der Bitte des Apostels um Befreiung von quälender Krankheit (2. Kor. 12), exemplarische Bedeutung. Das Gebet führt zur Gottesfrage hin, zur Erfahrung seiner Transzendenz und Gegenwart, seiner Allmacht und Freiheit, zur Frage von Gericht und Gnade.

Die Aporien, die heute die Frage nach dem Gebet oft beherrschen, werden nicht ausgeblendet, die Gefahren des Mißbrauchs nicht verschwiegen. Die vielfältige Anfechtung, die sich damit verbindet, durchzieht das ganze Buch, hat aber nicht das letzte Wort. Gewiß könnte man dies und jenes kritisieren: daß die enge Verbindung zwischen Urchristentum und Judentum zu wenig deutlich hervortritt und noch mehr, daß der uns fremd erscheinende, bergeversetzende und himmelstürmende eschatologische Enthusiasmus der Urkirche um der Verbindung zur Gegenwart willen zu sehr abgeschwächt, daß der "garstige breite Graben" vielleicht in etwas zu einfacher Weise überbrückt wurde.

Doch dieses Buch hat Bekenntnischarakter. Darin mag seine Grenze liegen, aber vielleicht noch mehr seine Stärke. Denn hinter ihm steht Erfahrung, der Ertrag eines reichen Lebens: als theologischer Lehrer, der wegen der Geradlinigkeit seines Weges von Kollegen viel Widerspruch erfahren hat, wie auch als europäischer Zeitgenosse, der in einem Raum wirkte, in dem politische Spannung und geistige Ausstrahlung aufs engste miteinander verbunden waren. Zu diesem Ertrag gehören auch die Brücken, die er zwischen Ländern, Sprachen, kirchlich-theologischen Gruppen und Konfessionen geschlagen hat. Er überschaut dabei ein Jahrhundert, das siegesgewiß begann, in unbeschreibliche Katastrophen hineinführte und an dessen Ende die christlichen Konfessionen - nicht ohne eigene Schuld - in einer schweren Krise stehen. Seine am Gegenstand dieses Buches gewonnene Erfahrung, die innere Gewißheit, aus der heraus er sein Vermächtnis niederschrieb, kann dem Leser Mut machen, die beschriebene Sache neu zu üben, sie neu zu lernen: denn nach Dietrich Bonhoeffer ist unser Gebet "vermitteltes Gebet, vermittelt durch Christus den Mittler". MARTIN HENGEL

Oscar Cullmann: "Das Gebet im Neuen Testament". Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1994. 194 S., br., 54,-DM.

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