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Seit Martin Luther in seiner wortgewaltigen Bibelübersetzung die deutsche Sprache auf das Niveau der heiligen Sprachen des Mittelalters gebracht hat, sind Spiritualität und Sprache im Deutschen nur schwer voneinander zu trennen. Die Frömmigkeit steht an der Wiege deutscher Literatur und ihrer Sprache. Das in Literatur verwandelte und so bewahrte Gedächtnis reicht weit über die Aufklärung und ihre sprachliche Säkularisation hinaus in die Moderne. In fünfzehn Kapiteln zeichnet das Buch den Entwicklungsweg deutscher Literatur am Beispiel unterschiedlicher Stationen der Frömmigkeit nach. Sie…mehr

Produktbeschreibung
Seit Martin Luther in seiner wortgewaltigen Bibelübersetzung die deutsche Sprache auf das Niveau der heiligen Sprachen des Mittelalters gebracht hat, sind Spiritualität und Sprache im Deutschen nur schwer voneinander zu trennen. Die Frömmigkeit steht an der Wiege deutscher Literatur und ihrer Sprache. Das in Literatur verwandelte und so bewahrte Gedächtnis reicht weit über die Aufklärung und ihre sprachliche Säkularisation hinaus in die Moderne. In fünfzehn Kapiteln zeichnet das Buch den Entwicklungsweg deutscher Literatur am Beispiel unterschiedlicher Stationen der Frömmigkeit nach. Sie handeln von Friedrich Spee von Langenfeld, dem Beichtvater der Hexen, von der Empfindsamkeit der Sophie von La Roche, von der "Hausfrömmigkeit" des Matthias Claudius und der "Weltfrömmigkeit" Goethes. Sie folgen dem Weg sprachlicher Säkularisation in der Romantik; die Ästhetik übernimmt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Funktionen, die noch in der Aufklärungszeit der Religion vorbehalten waren. Von der Romantik führt der Weg zu den Frömmigkeitsformen der Moderne: zur Erfahrung Gottes im Schmerz bei Adalbert Stifter, zum religiösen Sozialismus Alfred Döblins, zu Elisabeth Langgässers Versuch, Mythos und Frömmigkeit zu verbinden, zu der Gebetshoffnung Reinhold Schneiders, aus der er die Kraft zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Barbarei gewonnen hat. Schließlich zur Gestaltung menschlicher Passionen bei Horst Bienek, Peter Huchel und Tankred Dorst bis zur Neuformulierung der Psalmensprache bei Arnold Stadler.
Autorenporträt
Frühwald, WolfgangWolfgang Frühwald, geboren 1935, war Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 1982 bis 1987 war er Mitglied des Wissenschaftsrates und von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Von 1994 bis 1998 war Frühwald Mitglied des Rates für Forschung, Technologie und Innovation und von 1999 bis 2007 Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Zahlreiche Arbeiten über Mystik und Frömmigkeitsgeschichte vom Mittelalter bis zur Moderne. Wolfgang Frühwald ist am 18. Januar 2019 verstorben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2008

Die süßen Schmerzen der Wehmut
Wolfgang Frühwald führt uns in literarische Werkstätten der Frömmigkeitsgestaltung
Friedrich Schleiermacher verliebte sich 1798 in Eleonore Grunow – eine verhängnisvolle Affäre, war sie doch mit einem Kollegen des Berliner Theologen verheiratet. Obwohl Schleiermacher auch öffentlich das Recht auf Scheidung propagierte, wurde der Ehemann in diesem Fall nicht verlassen. Eines Abends im September 1802 schrieb der Zurückgesetzte an die Verehrte, dass er sich die christliche Frömmigkeit „immer als schmerzerregend” gedacht habe, aber es seien „die süßen Schmerzen der Wehmuth”. Entschieden weist er die von seiner Briefpartnerin aufgestellte Vermutung zurück, dass Frömmigkeit und Witz selten beisammen seien. „Ernst und Spiel durchdringen sich nirgends inniger, als in einer frommen Seele, und ist das nicht die stärkste Anreizung zum Witz?” Schleiermacher, Meister romantischer Ironie und ein grandioser Prediger, wurde von Georg Ludwig Spalding 1804 als „aufrichtig fromm” beschrieben und zugleich von „der Würde und der Innigkeit des denkenden Glaubens” bestimmt. So präsentiert sich der religiöse Virtuose Schleiermacher als religionsintellektueller Charakter spezifisch modernen Zuschnitts, als Glaube und Wissen individuell einende Geniegestalt.
Wer aber konnte ein ähnlich faszinierendes Profil ausprägen in Werk und Leben, zumal unter deutschen Dichtern? Einige Kandidaten aus vier Jahrhunderten zwischen Barock und Gegenwart portraitiert Wolfgang Frühwald in seinem souverän inszenierten Streifzug durch „Religion, Kirche und Literatur in Deutschland”. Nachdem Martin Luther das literarisch eher krude Alltagsidiom seiner Zeit wortgewaltig und farbenreich in den Strahlungsraum des Heiligen hineingeschrieben hatte, ließen sich Spiritualität und Sprachkunstwerk auch im Deutschen kaum mehr trennen. Und so lautet die Kernthese des kleinen Bandes: „Die Frömmigkeit steht an der Wiege deutscher Literatur und ihrer Sprache.”
Für Luther war entscheidend, dass Frömmigkeit mehr bezeichnete als ein gottgefälliges Leben des Gerechten: Der Begriff umfasste in reformatorischer Perspektive auch die standhafte Ergebung in den göttlichen Willen. Goethe wiederum wusste, dass Gebet und Meditation, Handeln und Tatendrang einander nicht ausschließen. Werde Frömmigkeit zu einem bloßen Zweck und nicht zum „Mittel, um durch die reinste Gemüthsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen”, münde sie meist in Heuchelei. Demnach scheint die „anthropologische Konstante” Frömmigkeit Ausdruck einer bestimmten Haltung zu sein, die nach der Einheit von Theorie und Praxis, Glaubensleben und Weltgestaltung strebt.
Diese integrative Tendenz wurzelt, behauptet Frühwald, gerade auch in denjenigen Bereichen menschlicher Selbstwahrnehmung, die den sprachlichen Weltzugang übersteigen und etwa in Mythen, Gesten und Ritualen gründen. Und es sind seit jeher Schriftsteller, Dichter, die diese nicht-sprachlichen Sphären menschlicher Lebensführung suggestiv zu erschließen wissen. Uralter, im Menschheitsgedächtnis verankerter, nicht notwendig christlicher Glaube will artikuliert werden. Nur: Wer die Geister beschwört, auch Aberglauben stützt und manch religiöse Verirrung protegiert, provoziert zugleich Gegenkräfte, die das Entgrenzte eindämmen und normieren.
Es ist das Glück der Literatur, dass sie sich über die Folgen ihres Auftritts keine Gedanken machen muss. Diese Aufgabe haben immer wieder andere Ordnungsmächte übernommen – mit langfristig bescheidenem Erfolg. Die Subjektivität des Menschen und mit ihr die Frömmigkeit entzieht sich der Reglementierung, zersplittert sich in eine unendliche Vielfalt. So bleibt die Vernunft das einzige Kriterium für das bewertende Urteil, doch gerade die Frömmigkeit verweigert sich oft diesem Zugriff, postuliert ihr eigenes Recht auf Wahrheit und Autonomie.
Bis in die Gegenwart feiert dezidiert vernunftwidrige Spiritualität ihre Triumphe und lässt sich, wenn überhaupt, dann nur höchst unwillig, auf kirchlich sanktionierte Modelle eines dem Wesen der göttlichen Wahrheit entsprechenden Verhältnisses von Glaube und Vernunft ein. Insbesondere die institutionelle Unfähigkeit, Glaube, Erfahrung und Erlebnistiefe angemessen zu verbinden, wird vom frommen Individuum als empfindliche Störung seiner Integrität wahrgenommen. Im diffusen Unbehagen an der approbierten Glaubenskultur wird existentielle Wahrhaftigkeit eingefordert.
In fünfzehn lose verknüpften Kapiteln, die zumeist schon früher als Aufsätze publiziert worden sind, gibt Frühwald Einblicke in literarische Werkstätten der Frömmigkeitsgestaltung. Die Auswahl muss auf den ersten Blick willkürlich wirken, gewinnt bei fortschreitender Lektüre aber eine eigene Dramatik und Konsequenz. Vorgeführt werden Typen der Frömmigkeitsbearbeitung: Sophie von La Roche präsentiert etwa die empfindsame Form, Matthias Claudius die Hausfrömmigkeit; Goethe wendet sich der Welt zu, die Kunst der Romantik sucht Lebenssinn in Ästhetik; Clemens Brentano säkularisiert die Sprache, Joseph von Eichendorff vertieft sich in Naturfrömmigkeit und Erinnerung; Adalbert Stifter erschreibt sich die Nähe Gottes im Schmerz, Alfred Döblin spiegelt Frömmigkeit und Religiösen Sozialismus; Elisabeth Langgässer und Cordelia Edvardson bemühen sich um den Mythos; Reinhold Schneider findet Kraft für den Widerstand im Glauben, Albrecht Goes entfaltet Frömmigkeit im Krieg; Passionserfahrung formen Horst Bienek, Peter Huchel und Tankred Dorst.
Von der behaglichen Einrichtung des Einzelnen im Alltag gelebten Glaubens bis hin zur Destruktion und Vernichtung menschlicher Existenz im Nationalsozialismus wird die Frömmigkeit als Kraft des Menschen beschrieben, seine Humanität sogar im absoluten Widerspruch zu wahren – und sei es um den Preis des selbstgewählten Todes.
Frühwalds empathiestarke Portraitstudien lassen sich in all ihren subtilen Schattierungen als eine Ehrenrettung der Frömmigkeit lesen – gegen alle Kritik, die in ihr vor allem den oft allzu beredten Ausdruck religiös verbrämter gesellschaftlicher Verblendung, bürgerlicher Spießigkeit und Selbstgefälligkeit sehen will. Protestanten und Katholiken, postuliert der Verfasser, könnten aus ihren eigenen Konfliktgeschichten lernen, wie im Einwanderungsland Deutschland den sich ausprägenden Parallelgesellschaften so zu begegnen sei, dass Anerkennung und Anerkenntnis von Differenz halbwegs harmonisch zusammenlaufen, ohne dabei in einem Synkretismus nordamerikanischer Provenienz zu münden.
Damit die von Frühwald eingeklagte Leistung aber auch erbracht werden kann, braucht die Frömmigkeit Wissenschaft und Vernunft – eben einen denkenden Glauben. Schleiermachers großer Antipode Georg Wilhelm Friedrich Hegel fand in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion”, als er über die „Form des Gefühls” räsonierte, die letzte Grenze frommer Wünsche und markierte sie scharf: „Ich kann von allem abstrahieren, aber vom Denken, vom Ich nicht.” ALF CHRISTOPHERSEN
WOLFGANG FRÜHWALD: Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland vom Barock bis zur Gegenwart. Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main 2008. 378 Seiten, 22,80 Euro.
Durch die reinste Gemütsruhe gelange man zur höchsten Kultur
Ich kann von allem abstrahieren, vom Denken nicht
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ausgesprochen enttäuscht hat Rezensent Rolf-Bernhard Essig dieses Buch des "angesehenen Germanisten und Wissenschaftsfunktionärs" wieder zugeklappt, das er so hoffnungsfroh aufgeschlagen hatte. Denn er hatte hier von höchst kompetenter Stelle eine "kämpferisch erhellende Studie" erwartet, die sich mit dem Generalverdacht befasst, unter den hierzulande eine "fromme, gar eine katholische" Literatur gestellt werde. Stattdessen aber musste er feststellen, dass Wolfgang Frühwald hier lediglich "Aufsatzweiterverwertung" betrieben habe, deren einzelne Beiträge dann zum Bedauern des Rezensenten ihr Thema nur höchst unscharf ins Visier nehmen und, obschon für die Publikation überarbeitet, inhaltlich keine "durchgehenden Bezüge" herstellten. Schon der "unsachliche Grundton" der meisten Texte stört ihn sehr. Auch fehlt ihm eine begriffliche Festlegung, was nun genau in Bezug auf die Literatur unter Frömmigkeit verstanden werden könne. Hier ärgert sich der Rezensent oft auch über eine gewisse Dreistigkeit, mit der der Wissenschaftler aus Essigs Sicht Bekanntes als Neuigkeit präsentiert, und dabei in seinen Untersuchungen höchst spekulativ oder sogar fehlerhaft argumentiert.

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