Die Geschichte einer unmöglichen Liebe
Mit bewundernswerter Konsequenz erzählt Marica Bodrozic von einer ebenso unbedingten wie widersprüchlichen Liebe. Und von einer Frau, die Abschied nehmen muss von ihren Illusionen über ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann. Und die sich fragen muss, wer sie am Ende ohne ihre Liebe ist.
Noch sind die Tage ungetrübt. Die junge Nadeshda fährt nach Amsterdam, um dort ihren Geliebten Ilja zu treffen. Sie hat Schuhe mit den höchsten Absätzen an und phantasiert sich Iljas Küssen entgegen. Doch was als lustvolle Reise beginnt, wirft Nadeshda völlig aus dem Gleichgewicht, bringt sie an ihre Grenzen und verändert ihre ganze Wahrnehmung von ihrer Liebe und sich selbst. Denn Nadeshda muss erkennen, dass sie in ihre Träume, Sehnsüchte und merkwürdig robusten Hoffnungen verstrickt ist, obwohl sie es besser hätte wissen können. Obwohl sie hätte sehen müssen, dass ihr Wunsch, den verheirateten Ilja ganz für sich zu gewinnen, nie in Erfüllung gehen wird. Denn Ilja hat sie nie hinters Licht geführt: Von der ersten Begegnung an sprach er davon, dass ihre Liebe keine Zukunft haben könne. Das hindert ihn aber keineswegs daran, Nadeshda dennoch weiterhin seine Liebe zu erklären.
Marica Bodrozic hat den Roman einer ebenso unbedingten wie ausweglosen Liebe geschrieben. Einen Roman, der zugleich die Geschichte eines beispiellosen Verlusts erzählt. Denn Nadeshda muss am Ende nicht nur Abschied nehmen von dem Mann, den sie, das hatte sie sich geschworen, nie aufgeben würde. Sie muss vor allen Dingen auch Abschied nehmen von sich als der Liebenden dieses Mannes. Es ist ein Abschied, der sie zurückführt auf sich selbst, auf ihre Vergangenheit und den Libellen sammelnden Vater. Und all diese Abschiede wiegen deshalb so schwer, weil Nadeshda nicht absehen kann, wer sie ohne ihre Liebe ist.
Mit bewundernswerter Konsequenz erzählt Marica Bodrozic von einer ebenso unbedingten wie widersprüchlichen Liebe. Und von einer Frau, die Abschied nehmen muss von ihren Illusionen über ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann. Und die sich fragen muss, wer sie am Ende ohne ihre Liebe ist.
Noch sind die Tage ungetrübt. Die junge Nadeshda fährt nach Amsterdam, um dort ihren Geliebten Ilja zu treffen. Sie hat Schuhe mit den höchsten Absätzen an und phantasiert sich Iljas Küssen entgegen. Doch was als lustvolle Reise beginnt, wirft Nadeshda völlig aus dem Gleichgewicht, bringt sie an ihre Grenzen und verändert ihre ganze Wahrnehmung von ihrer Liebe und sich selbst. Denn Nadeshda muss erkennen, dass sie in ihre Träume, Sehnsüchte und merkwürdig robusten Hoffnungen verstrickt ist, obwohl sie es besser hätte wissen können. Obwohl sie hätte sehen müssen, dass ihr Wunsch, den verheirateten Ilja ganz für sich zu gewinnen, nie in Erfüllung gehen wird. Denn Ilja hat sie nie hinters Licht geführt: Von der ersten Begegnung an sprach er davon, dass ihre Liebe keine Zukunft haben könne. Das hindert ihn aber keineswegs daran, Nadeshda dennoch weiterhin seine Liebe zu erklären.
Marica Bodrozic hat den Roman einer ebenso unbedingten wie ausweglosen Liebe geschrieben. Einen Roman, der zugleich die Geschichte eines beispiellosen Verlusts erzählt. Denn Nadeshda muss am Ende nicht nur Abschied nehmen von dem Mann, den sie, das hatte sie sich geschworen, nie aufgeben würde. Sie muss vor allen Dingen auch Abschied nehmen von sich als der Liebenden dieses Mannes. Es ist ein Abschied, der sie zurückführt auf sich selbst, auf ihre Vergangenheit und den Libellen sammelnden Vater. Und all diese Abschiede wiegen deshalb so schwer, weil Nadeshda nicht absehen kann, wer sie ohne ihre Liebe ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2010Die Schönheit der Zehen
Ein Buch von großer, origineller Humanität: „Das Gedächtnis der Libellen“ von Marica Bodrozics
In der Diskussion um die Zukunft der deutschen Sprache spielt die Angst vor Überfremdung eine zentrale Rolle: Als ob das Deutsche, nicht wachsam und wehrhaft genug, sich von frechen Eindringlingen überrumpeln und um das Seinige bringen ließe. Darüber pflegt vergessen zu werden, dass es auch die gegenläufige Bewegung gibt, dass unsere Sprache ihrerseits bei den Anderen ein höchst fruchtbares Befremden auszulösen vermag. Nicht von außen tragen sie etwas herein, vielmehr finden sie etwas, das als Möglichkeit immer da war, obwohl es keiner der Alteingesessenen gesehen und genutzt hat, Bilder, Bezüge, Satzkonstruktionen, Wortfügungen, alles völlig aus dem Vorrat genommen und doch so noch nie dagewesen.
Vielleicht die interessanteste unter diesen Autoren ist Marica Bodrozic, die, 1973 geboren, als schon älteres Gastarbeiterkind von Kroatien nach Deutschland kam und sich anfangs mit der neuen Sprache sehr schwertat. In ihrem Prosaband „Sterne färben, Sterne erben. Meine Ankunft in Wörtern“ hat sie vor drei Jahren die Geschichte dieser Aneignung erzählt. Nunmehr also legt sie einen Roman vor, „Das Gedächtnis der Libellen“.
Linien der Hände des Vaters
Es ist der lange innere Monolog einer Frau, die sich selbst den Namen Nadeshda gegeben hat, in Herkunft, Alter und Lebensgeschichte ihrer Autorin wohl nicht ganz unähnlich. Ihre Erinnerung kreist um die dalmatinische Heimat und die frühzeitige Abwesenheit der Eltern, die bei ihrer Auswanderung nach Amerika die Tochter bei der Tante zurückließen; um die Freundin Arjeta, mit der sie symbiotisch zusammenlebt; vor allem aber um den so hinreißenden wie unzuverlässigen Ilja, die große Liebe ihres Lebens, von dem sie einen Sohn hat, Ezra, der seinen Vater nicht kennt.
Ein solches Buch könnte, da es vorzugsweise von Verlorenem spricht und dies in einer einfachen linearen Form tut, leicht langweilig werden. Dass dies nicht geschieht, liegt an der Sprache der Erzählerin, in der sich Sehnsucht, Schmerz und ein hartnäckiger Erkenntniswille zu einem gleichmäßig starken Strang verflechten. Man kann geradezu von einer liebesgeleiteten Sprach-Intelligenz reden, die sich niemals mit bereitliegenden Mustern zufriedengibt. Wie etwa sehen Hände aus? Die Beschreibungen von Händen tendieren in der Literatur ja sonst ein wenig zur Schablone, es scheint sehr schwer, die Hände einer Person so zu charakterisieren, dass sie sich mit niemands anderen Händen verwechseln ließen. Nicht so bei Nadeshda: „Ilja hat zarte Hände, weiche Hände, viel zu zart und viel zu weich für einen Mann, der einen Krieg überlebt hat, noch ein Junge war, als plötzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Straße lebensgefährliche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen stehen merkwürdig hervor, und die Daumen haben eine ganze Landschaft von unauflösbar verlaufenden Linien in sich aufgesogen, wie um den Blick auf sie zu lenken oder um genau damit in die Irre zu führen. Ilja sagt, das habe er von seinem Vater, so seien auch seine Hände, mit diesen vielen Linien, genau so seien die Hände des Vaters, die Hände eines gesamtjugoslawischen Matrosen, sagt er und zieht an seiner Zigarette.“
Mit dieser zärtlichen Insistenz, einer versonnenen Liebes-Pedanterie geradezu, umkreist der Text Gestalt und Wesen des Anderen und erlöst ihn durch seine erstaunte Sachlichkeit aus der Schufterei – denn es bleiben wenig Zweifel, dass es sich bei diesem Ilja um einen ziemlichen Liebesschuft handelt, von dem Nadeshda allseits entschieden abgeraten wird. Dass Ilja von solchem Liebesdienst gar nichts weiß, davon lässt sie sich nicht beirren. Wenn sie sagt, „In der Liebe dient man nur“, so steckt in dieser Feststellung keinerlei Vorwurf, sondern ein höchst präziser Sinn: „Wir wünschen uns Dinge, die über uns hinausgehen, wir wünschen uns, dass die Liebe diese große Rolle in unserem Leben spielt, sonst, da wir alle nicht mehr glauben können, gäbe es keinen anderen guten, keinen richtigen Grund zu leben.“ Woraus folgt: „Diese Art Dienst ist freiwillig und er macht schön.“
Man hätte den Text nicht unbedingt einen Roman nennen müssen, dieses Allerweltswort, unter dem heute jedes Stück Prosa von achtzig Seiten Länge an aufwärts firmiert, da es sonst offenbar unverkäuflich wäre. Eher handelt es sich um einen Essay über Liebe, Erinnerung und Glück, durchgespielt anhand des konkreten Falles. Diese Liebe beglaubigt sich nicht so sehr in der Begegnung – die Begegnungen mit Ilja trugen eher episodischen Charakter – als in der Reflexion, die das Erlebnis zum Sprungbrett nimmt, um sich in die ganze Welt hinauszuschwingen. Nur unglückliche Menschen, so meint die Erzählerin, setzten auf die Ewigkeit als einen kommenden dauernden Zustand, während alles Glück in der erlebten Präsenz des in der Erinnerung unvergänglichen Augenblicks liegt.
Die so begründete Metaphysik des Physischen trägt freilich sehr fragile Züge, sie wird zur Glückssache im eigentlichen Sinn; so verwundert es nicht, dass das Glück magnetisch den Aberglauben anzieht, einen Aberglauben, dem die ironische Färbung nur wenig von seiner Schicksalskraft nimmt. Natürlich weiß Nadeshda, dass unmöglich, wie sie behauptet, jede Zahl Glück bringen kann, denn dann dürfte es ja nur Glück auf der Welt geben, was augenscheinlich nicht zutrifft; sie hofft es trotzdem inständig und bleibt dabei.
Eine treue Gefährtin ihrer Gedanken hat sie in Arjeta. „Ich verstand Arjeta auf Anhieb, warum, weiß ich selbst nicht. Sie ist der einzige Mensch, mit dem ich über die Liebe und über den Tod auf diese Weise und in dieser Lautstärke reden kann. Wir sprachen darüber wie über einen Obstkauf, wie man über das Kehren einer Straße spricht oder etwa über Pünktchengeschirr, das, davon war Arjeta überzeugt, aus unerfindlichen Gründen glücklich macht. Auch das glaubte ich ihr, denn sie hatte in der Zeit unserer langen Freundschaft nur diese eine Überzeugung entwickelt. Es tat gut, sie als Verteidigerin des harmlosen Glücks am harmlosen Beispiel des ebenso harmlosen Pünktchengeschirrs zu wissen. Alle anderen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe, trieben Handel und Überzeugungen ganz anderer Art.“
Was sich auf Anhieb nur verschroben ausnimmt, hat doch seine Logik. Vor allem hat es sie im Zusammenhang mit jenen gehandelten Überzeugungen anderer Art, von denen Nadeshda hier nichts weiter sagen will, deren Schrecken sie aber andeutet. Nie ist der jugoslawische Krieg weit weg von der Oberfläche dieses Erzählens. In den Armen Arjetas, die aus Sarajewo nach Paris geflohen ist, starb ihr kleiner Bruder, nachdem eine Granate ihm die Füße weggerissen hatte. Arjeta meint, erst in diesem Augenblick sei ihr aufgegangen, wie schön die Füße und die Zehen von Menschen seien; Nadeshda erstarrt vor Entsetzen, fügt jedoch sogleich an: „ (. . .) aber ich wollte mir wünschen, dass es auch andere Wege gab, die Schönheit des menschlichen Körpers zu erkennen.“
Dieser Wunsch ist stark, er beherrscht das Buch gerade in dessen schwächstem Teil, der immer wieder aufblitzenden Geschichte von Nadeshdas Vater. Der sei erst ein Libellen-, dann ein Kindermörder geworden, das sei auch der Grund für die Auswanderung, eigentlich Flucht nach Amerika gewesen. Hierüber erfährt man wenig Genaueres; die systematische Eliminierung der Libellen, die der Vater im Album sammelt, hat offenbar allegorisch die Kindermorde mit abzudecken. Sammelt man denn Großinsekten im Album? Hier hat die Energie der Abwehr das Unangeschaute hervorgebracht.
Aber eigentlich ist man am Ende dankbar darum, von den Finsternissen der väterlichen Welt nur unglaubwürdige Nachricht zu erhalten. Das Buch will, so viel Unglück es einschließt, doch mit Entschiedenheit ein helles sein. Zart im Einzelnen, hebt es sich als Ganzes kräftig von seinem dunklen Grund ab und gerät so zu einem erwachseneren Werk, als Bodrozics frühere Bücher es gewesen sind, in denen sich noch eine fast kindliche Unbefangenheit findet. Man fühlt, was die Autorin seither verloren und was sie gewonnen hat. Es ist ein Buch von großer und origineller Humanität geworden. BURKHARD MÜLLER
MARICA BODROZIC: Das Gedächtnis der Libellen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2010. 255 S., Euro
Nadeshdas Vater will die Libellen eliminieren – deren Faszinationskraft hat der chinesische Künstler Xu Bin im Bild festgehalten Abb.: Artkey/Corbis
Marica Bodrozic
Foto: Jürgen Bauer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Buch von großer, origineller Humanität: „Das Gedächtnis der Libellen“ von Marica Bodrozics
In der Diskussion um die Zukunft der deutschen Sprache spielt die Angst vor Überfremdung eine zentrale Rolle: Als ob das Deutsche, nicht wachsam und wehrhaft genug, sich von frechen Eindringlingen überrumpeln und um das Seinige bringen ließe. Darüber pflegt vergessen zu werden, dass es auch die gegenläufige Bewegung gibt, dass unsere Sprache ihrerseits bei den Anderen ein höchst fruchtbares Befremden auszulösen vermag. Nicht von außen tragen sie etwas herein, vielmehr finden sie etwas, das als Möglichkeit immer da war, obwohl es keiner der Alteingesessenen gesehen und genutzt hat, Bilder, Bezüge, Satzkonstruktionen, Wortfügungen, alles völlig aus dem Vorrat genommen und doch so noch nie dagewesen.
Vielleicht die interessanteste unter diesen Autoren ist Marica Bodrozic, die, 1973 geboren, als schon älteres Gastarbeiterkind von Kroatien nach Deutschland kam und sich anfangs mit der neuen Sprache sehr schwertat. In ihrem Prosaband „Sterne färben, Sterne erben. Meine Ankunft in Wörtern“ hat sie vor drei Jahren die Geschichte dieser Aneignung erzählt. Nunmehr also legt sie einen Roman vor, „Das Gedächtnis der Libellen“.
Linien der Hände des Vaters
Es ist der lange innere Monolog einer Frau, die sich selbst den Namen Nadeshda gegeben hat, in Herkunft, Alter und Lebensgeschichte ihrer Autorin wohl nicht ganz unähnlich. Ihre Erinnerung kreist um die dalmatinische Heimat und die frühzeitige Abwesenheit der Eltern, die bei ihrer Auswanderung nach Amerika die Tochter bei der Tante zurückließen; um die Freundin Arjeta, mit der sie symbiotisch zusammenlebt; vor allem aber um den so hinreißenden wie unzuverlässigen Ilja, die große Liebe ihres Lebens, von dem sie einen Sohn hat, Ezra, der seinen Vater nicht kennt.
Ein solches Buch könnte, da es vorzugsweise von Verlorenem spricht und dies in einer einfachen linearen Form tut, leicht langweilig werden. Dass dies nicht geschieht, liegt an der Sprache der Erzählerin, in der sich Sehnsucht, Schmerz und ein hartnäckiger Erkenntniswille zu einem gleichmäßig starken Strang verflechten. Man kann geradezu von einer liebesgeleiteten Sprach-Intelligenz reden, die sich niemals mit bereitliegenden Mustern zufriedengibt. Wie etwa sehen Hände aus? Die Beschreibungen von Händen tendieren in der Literatur ja sonst ein wenig zur Schablone, es scheint sehr schwer, die Hände einer Person so zu charakterisieren, dass sie sich mit niemands anderen Händen verwechseln ließen. Nicht so bei Nadeshda: „Ilja hat zarte Hände, weiche Hände, viel zu zart und viel zu weich für einen Mann, der einen Krieg überlebt hat, noch ein Junge war, als plötzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Straße lebensgefährliche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen stehen merkwürdig hervor, und die Daumen haben eine ganze Landschaft von unauflösbar verlaufenden Linien in sich aufgesogen, wie um den Blick auf sie zu lenken oder um genau damit in die Irre zu führen. Ilja sagt, das habe er von seinem Vater, so seien auch seine Hände, mit diesen vielen Linien, genau so seien die Hände des Vaters, die Hände eines gesamtjugoslawischen Matrosen, sagt er und zieht an seiner Zigarette.“
Mit dieser zärtlichen Insistenz, einer versonnenen Liebes-Pedanterie geradezu, umkreist der Text Gestalt und Wesen des Anderen und erlöst ihn durch seine erstaunte Sachlichkeit aus der Schufterei – denn es bleiben wenig Zweifel, dass es sich bei diesem Ilja um einen ziemlichen Liebesschuft handelt, von dem Nadeshda allseits entschieden abgeraten wird. Dass Ilja von solchem Liebesdienst gar nichts weiß, davon lässt sie sich nicht beirren. Wenn sie sagt, „In der Liebe dient man nur“, so steckt in dieser Feststellung keinerlei Vorwurf, sondern ein höchst präziser Sinn: „Wir wünschen uns Dinge, die über uns hinausgehen, wir wünschen uns, dass die Liebe diese große Rolle in unserem Leben spielt, sonst, da wir alle nicht mehr glauben können, gäbe es keinen anderen guten, keinen richtigen Grund zu leben.“ Woraus folgt: „Diese Art Dienst ist freiwillig und er macht schön.“
Man hätte den Text nicht unbedingt einen Roman nennen müssen, dieses Allerweltswort, unter dem heute jedes Stück Prosa von achtzig Seiten Länge an aufwärts firmiert, da es sonst offenbar unverkäuflich wäre. Eher handelt es sich um einen Essay über Liebe, Erinnerung und Glück, durchgespielt anhand des konkreten Falles. Diese Liebe beglaubigt sich nicht so sehr in der Begegnung – die Begegnungen mit Ilja trugen eher episodischen Charakter – als in der Reflexion, die das Erlebnis zum Sprungbrett nimmt, um sich in die ganze Welt hinauszuschwingen. Nur unglückliche Menschen, so meint die Erzählerin, setzten auf die Ewigkeit als einen kommenden dauernden Zustand, während alles Glück in der erlebten Präsenz des in der Erinnerung unvergänglichen Augenblicks liegt.
Die so begründete Metaphysik des Physischen trägt freilich sehr fragile Züge, sie wird zur Glückssache im eigentlichen Sinn; so verwundert es nicht, dass das Glück magnetisch den Aberglauben anzieht, einen Aberglauben, dem die ironische Färbung nur wenig von seiner Schicksalskraft nimmt. Natürlich weiß Nadeshda, dass unmöglich, wie sie behauptet, jede Zahl Glück bringen kann, denn dann dürfte es ja nur Glück auf der Welt geben, was augenscheinlich nicht zutrifft; sie hofft es trotzdem inständig und bleibt dabei.
Eine treue Gefährtin ihrer Gedanken hat sie in Arjeta. „Ich verstand Arjeta auf Anhieb, warum, weiß ich selbst nicht. Sie ist der einzige Mensch, mit dem ich über die Liebe und über den Tod auf diese Weise und in dieser Lautstärke reden kann. Wir sprachen darüber wie über einen Obstkauf, wie man über das Kehren einer Straße spricht oder etwa über Pünktchengeschirr, das, davon war Arjeta überzeugt, aus unerfindlichen Gründen glücklich macht. Auch das glaubte ich ihr, denn sie hatte in der Zeit unserer langen Freundschaft nur diese eine Überzeugung entwickelt. Es tat gut, sie als Verteidigerin des harmlosen Glücks am harmlosen Beispiel des ebenso harmlosen Pünktchengeschirrs zu wissen. Alle anderen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe, trieben Handel und Überzeugungen ganz anderer Art.“
Was sich auf Anhieb nur verschroben ausnimmt, hat doch seine Logik. Vor allem hat es sie im Zusammenhang mit jenen gehandelten Überzeugungen anderer Art, von denen Nadeshda hier nichts weiter sagen will, deren Schrecken sie aber andeutet. Nie ist der jugoslawische Krieg weit weg von der Oberfläche dieses Erzählens. In den Armen Arjetas, die aus Sarajewo nach Paris geflohen ist, starb ihr kleiner Bruder, nachdem eine Granate ihm die Füße weggerissen hatte. Arjeta meint, erst in diesem Augenblick sei ihr aufgegangen, wie schön die Füße und die Zehen von Menschen seien; Nadeshda erstarrt vor Entsetzen, fügt jedoch sogleich an: „ (. . .) aber ich wollte mir wünschen, dass es auch andere Wege gab, die Schönheit des menschlichen Körpers zu erkennen.“
Dieser Wunsch ist stark, er beherrscht das Buch gerade in dessen schwächstem Teil, der immer wieder aufblitzenden Geschichte von Nadeshdas Vater. Der sei erst ein Libellen-, dann ein Kindermörder geworden, das sei auch der Grund für die Auswanderung, eigentlich Flucht nach Amerika gewesen. Hierüber erfährt man wenig Genaueres; die systematische Eliminierung der Libellen, die der Vater im Album sammelt, hat offenbar allegorisch die Kindermorde mit abzudecken. Sammelt man denn Großinsekten im Album? Hier hat die Energie der Abwehr das Unangeschaute hervorgebracht.
Aber eigentlich ist man am Ende dankbar darum, von den Finsternissen der väterlichen Welt nur unglaubwürdige Nachricht zu erhalten. Das Buch will, so viel Unglück es einschließt, doch mit Entschiedenheit ein helles sein. Zart im Einzelnen, hebt es sich als Ganzes kräftig von seinem dunklen Grund ab und gerät so zu einem erwachseneren Werk, als Bodrozics frühere Bücher es gewesen sind, in denen sich noch eine fast kindliche Unbefangenheit findet. Man fühlt, was die Autorin seither verloren und was sie gewonnen hat. Es ist ein Buch von großer und origineller Humanität geworden. BURKHARD MÜLLER
MARICA BODROZIC: Das Gedächtnis der Libellen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2010. 255 S., Euro
Nadeshdas Vater will die Libellen eliminieren – deren Faszinationskraft hat der chinesische Künstler Xu Bin im Bild festgehalten Abb.: Artkey/Corbis
Marica Bodrozic
Foto: Jürgen Bauer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2011Damals in Jugoslawien
Erinnerungsprosa: Marica Bodrozic versinkt in Bildern
Nadeshda liebt Ilja. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Es ist sogar höchst kompliziert und ohne die Einbeziehung der halben abendländischen Philosophie nicht zu erzählen. Und wenn der Roman einfach anfängt, nämlich mit Nadeshda, die mit unmöglich hohen Absätzen im Zug sitzt, um zu Ilja zu fahren, dann sollte man sich davon nicht täuschen lassen.
"Meine Geschichte ist wie jede Geschichte nur eine Möglichkeit von vielen, ins Ungewisse meiner Biographie zu gehen. Nichts bleibt, wie es ist. Das ist die Vergänglichkeit", schreibt Nadeshda, die eigentlich ganz anders heißt, sich diesen Namen aber gab, "damit ich diese Geschichte erzählen kann". Und darum geht es eigentlich: Um die Möglichkeit des Erzählens einer Geschichte und um die Frage, wer das ist, der da erzählt. Wir wissen nicht viel: Nadeshda war einmal Physikerin, wurde dann Schriftstellerin, studierte Bibelwissenschaften, lebte einmal in Paris, hat eine Freundin namens Arjeta, eine Atheistin aus Sarajevo. Nadeshda ist eine Sinnsucherin, deren innere Lücke sich vorübergehend mit ihrer Liebe zu Ilja füllt. Vorher waren es die Physikformeln gewesen, nun ist es die Sprache: "Ich fühle Buchstaben und betrete mit Sätzen die Plätze dieser Welt."
Auf einem Kongress zum Thema "Kunst und Macht" lernen sie sich kennen, Nadeshda und der "happily married man", als der Ilja sich bezeichnet. "Das hier, das hat überhaupt keine Zukunft", sagt Ilja schon zu Beginn, und dieser Satz begleitet die ganz und gar nicht perfekte Affäre die ganze Zeit über. Immer ist es Ilja, der das sagt, und es ist Nadeshda, die den Satz nicht glauben will, es muss so etwas wie Notwehr sein, eine Lüge womöglich. Aber der Satz stimmt. Ilja lügt nicht und verschweigt nichts. Es ist Nadeshda, die Ilja nichts vom gemeinsamen Sohn erzählt.
Das Suchen, das Verschweigen und das Erschaffen von Wortbildern ist es, das die Erzählweise des Buches prägt. Roman mag man diesen Roman kaum nennen, auch wenn es auf dem Buchumschlag steht. Einen Erzählfluss, eine Chronologie gibt es nicht, nur Fragen, Erinnerungen, einen Bewusstseinsstrom, der um den Geliebten kreist. Ein sehr in die Erzählerin versunkenes Erzählen, das Empfindungen nachspürt und Zustände in Bilder zu kleiden versucht. "Meine Anfälligkeit für Visionen", heißt es, "hat sich ins Elementare verlegt."
Doch die Anfälligkeit für bildhafte Symbolik überwuchert alles. Mal glücken diese Bilder, wenn sie unerwartet und treffend sind, mal weniger, dann stammen sie aus dem Arsenal der allzu oft repetierten Traumsymbolik. Die Autorin Marica Bodrozic bedient sich häufig bei der Psychoanalytikerin Marica Bodrozic, und das tut dem Text nicht gut. "Das Lachen war für mich eine Brücke, immer ein Transitbereich, auf dem ich kurz unsichtbar werden konnte." - "Iljas Geheimnis verwandelte sich in eine Landschaft, zu der es mich magnetisch hinzog." - "Arjeta sagte, Poesie, das sei in solchen Umbruchzeiten manchmal wie verschimmeltes Brot." - "Ilja konnte mich damals wie ein Haus öffnen." "Ich stellte mir die Liebe als eine große körperlose Mutter vor."- Schließlich: "Die Liebe ist eine Axt."
Ein Bild türmt die Erzählerin, die Schriftstellerin ist, auf das nächste, um die eigentlich einfache Geschichte um den verflossenen Geliebten zu erfassen. Seite um Seite geht es so weiter mit Sternen und Wundern und Gedanken, die "wie ein Mantel aufgeknöpft" werden, was der Sachlage aber auch keinen Mehrwert verleiht. Und schließlich die Libellen, die der Vater getötet und in einem Album gesammelt hat, der ein Kindermörder war und zum Glück kaum anwesend. Er steht jedem unbeschwerten Gedanken an Nadeshdas Kindheit im damals noch vereinten Jugoslawien im Weg, erst mit Hilfe von Arjeta gelingt ihr das Erinnern und mit Hilfe von Ilja, denn er war "der erste Mensch, der den Schlüssel zu den verstaubten Zimmern in meinem Erinnerungsarchiv besaß".
Geradezu manisch breitet Nadeshda ihre Gedanken aus, bis sich die Bilder ändern, neue Bilder Einzug halten. Und schließlich alles benannt ist, was sie zu dem gemacht hat, was sie ist, nämlich Mutter, Vater, Tante, Heimat. Und der Geliebte natürlich. Wohin dieser metaphorisch vollmöblierte Erinnerungs- und Verarbeitungsaufwand führen soll, diese Frage lässt der Roman bis zum Schluss unbeantwortet. Er bleibt provozierend innerlich.
ANDREA DIENER
Marica Bodrozic: "Das Gedächtnis der Libellen". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungsprosa: Marica Bodrozic versinkt in Bildern
Nadeshda liebt Ilja. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Es ist sogar höchst kompliziert und ohne die Einbeziehung der halben abendländischen Philosophie nicht zu erzählen. Und wenn der Roman einfach anfängt, nämlich mit Nadeshda, die mit unmöglich hohen Absätzen im Zug sitzt, um zu Ilja zu fahren, dann sollte man sich davon nicht täuschen lassen.
"Meine Geschichte ist wie jede Geschichte nur eine Möglichkeit von vielen, ins Ungewisse meiner Biographie zu gehen. Nichts bleibt, wie es ist. Das ist die Vergänglichkeit", schreibt Nadeshda, die eigentlich ganz anders heißt, sich diesen Namen aber gab, "damit ich diese Geschichte erzählen kann". Und darum geht es eigentlich: Um die Möglichkeit des Erzählens einer Geschichte und um die Frage, wer das ist, der da erzählt. Wir wissen nicht viel: Nadeshda war einmal Physikerin, wurde dann Schriftstellerin, studierte Bibelwissenschaften, lebte einmal in Paris, hat eine Freundin namens Arjeta, eine Atheistin aus Sarajevo. Nadeshda ist eine Sinnsucherin, deren innere Lücke sich vorübergehend mit ihrer Liebe zu Ilja füllt. Vorher waren es die Physikformeln gewesen, nun ist es die Sprache: "Ich fühle Buchstaben und betrete mit Sätzen die Plätze dieser Welt."
Auf einem Kongress zum Thema "Kunst und Macht" lernen sie sich kennen, Nadeshda und der "happily married man", als der Ilja sich bezeichnet. "Das hier, das hat überhaupt keine Zukunft", sagt Ilja schon zu Beginn, und dieser Satz begleitet die ganz und gar nicht perfekte Affäre die ganze Zeit über. Immer ist es Ilja, der das sagt, und es ist Nadeshda, die den Satz nicht glauben will, es muss so etwas wie Notwehr sein, eine Lüge womöglich. Aber der Satz stimmt. Ilja lügt nicht und verschweigt nichts. Es ist Nadeshda, die Ilja nichts vom gemeinsamen Sohn erzählt.
Das Suchen, das Verschweigen und das Erschaffen von Wortbildern ist es, das die Erzählweise des Buches prägt. Roman mag man diesen Roman kaum nennen, auch wenn es auf dem Buchumschlag steht. Einen Erzählfluss, eine Chronologie gibt es nicht, nur Fragen, Erinnerungen, einen Bewusstseinsstrom, der um den Geliebten kreist. Ein sehr in die Erzählerin versunkenes Erzählen, das Empfindungen nachspürt und Zustände in Bilder zu kleiden versucht. "Meine Anfälligkeit für Visionen", heißt es, "hat sich ins Elementare verlegt."
Doch die Anfälligkeit für bildhafte Symbolik überwuchert alles. Mal glücken diese Bilder, wenn sie unerwartet und treffend sind, mal weniger, dann stammen sie aus dem Arsenal der allzu oft repetierten Traumsymbolik. Die Autorin Marica Bodrozic bedient sich häufig bei der Psychoanalytikerin Marica Bodrozic, und das tut dem Text nicht gut. "Das Lachen war für mich eine Brücke, immer ein Transitbereich, auf dem ich kurz unsichtbar werden konnte." - "Iljas Geheimnis verwandelte sich in eine Landschaft, zu der es mich magnetisch hinzog." - "Arjeta sagte, Poesie, das sei in solchen Umbruchzeiten manchmal wie verschimmeltes Brot." - "Ilja konnte mich damals wie ein Haus öffnen." "Ich stellte mir die Liebe als eine große körperlose Mutter vor."- Schließlich: "Die Liebe ist eine Axt."
Ein Bild türmt die Erzählerin, die Schriftstellerin ist, auf das nächste, um die eigentlich einfache Geschichte um den verflossenen Geliebten zu erfassen. Seite um Seite geht es so weiter mit Sternen und Wundern und Gedanken, die "wie ein Mantel aufgeknöpft" werden, was der Sachlage aber auch keinen Mehrwert verleiht. Und schließlich die Libellen, die der Vater getötet und in einem Album gesammelt hat, der ein Kindermörder war und zum Glück kaum anwesend. Er steht jedem unbeschwerten Gedanken an Nadeshdas Kindheit im damals noch vereinten Jugoslawien im Weg, erst mit Hilfe von Arjeta gelingt ihr das Erinnern und mit Hilfe von Ilja, denn er war "der erste Mensch, der den Schlüssel zu den verstaubten Zimmern in meinem Erinnerungsarchiv besaß".
Geradezu manisch breitet Nadeshda ihre Gedanken aus, bis sich die Bilder ändern, neue Bilder Einzug halten. Und schließlich alles benannt ist, was sie zu dem gemacht hat, was sie ist, nämlich Mutter, Vater, Tante, Heimat. Und der Geliebte natürlich. Wohin dieser metaphorisch vollmöblierte Erinnerungs- und Verarbeitungsaufwand führen soll, diese Frage lässt der Roman bis zum Schluss unbeantwortet. Er bleibt provozierend innerlich.
ANDREA DIENER
Marica Bodrozic: "Das Gedächtnis der Libellen". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht wirklich geglückt scheint dieser Roman der Rezensentin Andrea Diener. Marica Bodrozic erzählt darin von der Liebe einer Frau zu einem verheirateten Mann, wobei man sich dieses Erzählen, baut Diener falschen Erwartungen an dieses als Roman deklariertes Buch vor, weniger als einen chronologisches Erzählfluss vorstellen muss denn als einen permanenten Bewusstseinsstrom. Bodrozic türmt Gedanken, Erinnerungen, Fragen aufeinander und lässt Assoziationen und Traumsymbolen solch freien Lauf, dass die Rezensentin hier eher die Stimme der Psychoanalytikerin Bodrozic erkannte als die der Erzählerin. Der Sachlage sei dies nicht immer dienlich, lässt die Rezensentin deutlich erkennen, der die Innerlichkeit des Buchs auch etwas zu "provozierend" war.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es ist ein Buch von großer und origineller Humanität geworden." Süddeutsche Zeitung