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Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 158
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 256g
  • ISBN-13: 9783421053244
  • ISBN-10: 3421053243
  • Artikelnr.: 24279276
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2000

Die Stimme der Steine
Hikaru Okuizumi benennt ein japanisches Nachkriegstrauma

Es gibt Bücher, die in der Übersetzung völlig anders gelesen werden als im Original. Und das nicht etwa, weil die Übersetzung sich vom Text zu weit entfernte, sondern weil das Buch in der Fremde auf ein Publikum mit anderen Leseerfahrungen und -erwartungen trifft. "Das Gedächtnis der Steine", der 1994 erschienene Roman des damals siebenunddreißigjährigen japanischen Autors Hikaru Okuizumi, ist vermutlich ein solches Buch. Im Erscheinungsjahr mit dem angesehenen Akutagawa-Preis ausgezeichnet, wurde es von der japanischen Kritik als Markstein und Anzeichen einer Wende gefeiert, fort vom belanglosen Unterhaltungston der Bestseller der frühen neunziger Jahre im Stil der auch hierzulande bekannten Haruki Murakami oder Banana Yoshimoto, an denen man sich inzwischen satt gelesen habe, hin zu ernsthaft-gravitätischem Schreiben und gewichtigeren Themen. Wovon also handelt "Das Gedächtnis der Steine"?

Wer möchte, kann das Buch als Geschichte eines mysteriösen Fluchs lesen, der das Schicksal einer durchschnittlichen japanischen Familie in den Jahrzehnten nach dem Krieg überschattet. Es beginnt damit, daß der junge Soldat Tsuyoshi Manase im Dezember 1944 auf der Philippineninsel Leyte auf eine gespenstische Gruppe von verhungernden Landsleuten trifft, die in einer Höhle Zuflucht gesucht haben. Einer der Sterbenden spricht zu ihm über das Schicksal des Kosmos: "Noch auf dem unscheinbarsten Kieselstein ist bis in alle Einzelheiten die Geschichte des Planeten verzeichnet, den wir Erde nennen." Diese Begegnung wird für Manase zum Anlaß, nach seiner Rettung - er gerät beim Wasserholen in amerikanische Gefangenschaft und kehrt 1946 nach Japan zurück - das Studium der Steine zu seinem wichtigsten Lebensinhalt zu machen. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit der von seinem Vater übernommenen Buchhandlung. Doch an jedem Abend und an jedem freien Tag zieht er sich in das dunkle Speicherhaus zurück, wo er sein geologisches Wissen mit Hilfe von Fachliteratur und den an Flußläufen und Felsen in der Umgebung gesammelten Steinen vertieft.

Sein zurückgezogenes Leben hindert Manase nicht daran, zu heiraten und zwei Söhne zu zeugen. Der Erstgeborene erweist sich als begabt und teilt bald das Hobby seines Vaters. Doch als er sich eines Tages heimlich mit seinem jüngeren Bruder zum Steinesammeln aufmacht, wird er in einer Höhle erstochen. Mörder und Motiv bleiben unentdeckt. Vor Schmerz und Groll fällt Manases Frau in tiefe Depressionen, bis sie sich scheiden läßt. Auch der zweite Sohn will vom Vater nichts mehr wissen und schließt sich der radikalen Studentenbewegung der Achtundsechziger an. Orientierungslos, wird er in seinem blinden Aktivismus zum nur oberflächlich politisch motivierten Mörder.

Zusammengehalten wird diese düstere Geschichte, in der sich das Schicksal nach Art griechischer Tragödien mit unausweichlicher Mechanik der Figuren bemächtigt, durch das Motiv der Steine: Die Geschichte des Kosmos, eingefangen im kleinsten Flußkiesel, verhilft dem Sterbenden dazu, das Grauen zu transzendieren. Der Überlebende begreift das als Vermächtnis. Seine Hingabe an das Studium der Steine muß als eine Art Abbitte gegenüber den Toten in der Höhle verstanden werden. Zugleich verhilft sie ihm dazu, das Entsetzliche zu verdrängen, wenn nicht zu vergessen. Doch die Erinnerung an den Überlebenskampf in der Höhle bricht, wie könnte es anders sein, mit noch größerer Intensität anläßlich des "Höhlenmordes" am eigenen Sohn hervor. Welche unheilvolle Rolle darin dem dämonisch-charismatischen Vorgesetzten zugewiesen wird, der Manase befiehlt, die siechen und nicht mehr kampftauglichen Kameraden mit dem Schwert zu töten, wird deutsche Leser ebenso beschäftigen wie die Frage danach, wie das "Gedächtnis der Steine" und das Gedächtnis der Menschen sich zueinander verhalten. Glaubt man der Jury des Akutagawa-Preises, den Rezensenten der großen Tageszeitungen und dem Kommentator der Taschenbuchausgabe des Buches, so las das japanische Publikum dieses Werk am ehesten als ausgefeilte Story zum Thema Steine oder als philosophisch motivierten Versuch, die Geschichte der Menschen mit der des Alls in Einklang zu bringen. Doch was bedeutet es, daß in diesen Äußerungen über das Buch das Kriegstrauma als Auslöser und Movens der Geschichte kaum Beachtung findet?

Inzwischen "erinnert" sich auch in Japan eine nach 1945 geborene Generation und greift damit Themen und Stoffe auf, die unmittelbar nach dem Krieg schon einmal literarische Konjunktur hatten. In dem knappen Jahrzehnt bis 1954, als man das "Ende der Nachkriegszeit" verkündete, entstanden Meisterwerke wie der auch auf deutsch vorliegende Roman "Feuer im Grasland" von Ôoka Shôhei, der eine ähnliche Situation auf Leyte zum Ausgangspunkt nimmt. Immerhin findet sich hier ein faszinierender Stoff für Beobachtungen eines Prozesses, der in Deutschland mit dem Ausdruck "Vergangenheitsbewältigung" belegt wurde. Deutsche Leser werden womöglich andere Fragen an den Text stellen als japanische Leser, allen Parallelen in der historischen Erfahrung zum Trotz.

Daß man sich in Japan nur ungern mit der eigenen Vergangenheit befaßt, ist ein Eindruck, der fast zum Allgemeinplatz verkommen ist. Zu oft war in den letzten Jahrzehnten in der internationalen Presse von Schulbuchaffären und die militärische Aggression beschönigenden, nur halbherzig dementierten Politikerreden zu lesen, die den Protest der asiatischen Nachbarstaaten provozierten. Doch es gibt neben den offiziellen und offiziösen Verlautbarungen zur eigenen Geschichte und den revisionistischen Hervorbringungen einer auch international aktiven Gemeinde von Nipponisten eine Vielzahl anderer Stimmen. Private, im Selbstverlag oder mittlerweile im Internet veröffentlichte Erlebnisberichte, die sogenannten "jibunshi" oder "Eigengeschichten", gehören ebenso dazu wie alternative Historiographien von Feministinnen und anderen. Das wichtigste Medium jedoch war und ist die Belletristik. In ihr artikuliert sich die kollektive Erinnerung an das Geschehen bis auf den heutigen Tag.

Nun ist das Buch des 1956 geborenen Autors weniger wegen der grausig-naturalistischen Schilderungen des bis zum Kannibalismus reichenden Überlebenskampfes innerhalb der japanischen Truppe lesenswert, auch wenn Okuizumi dafür hohes Lob von einem etablierten Autor zuteil wurde. Die Leser der neunziger Jahre, abgestumpft durch die Horrorfilme Hollywoods, verlangen nach deftiger Kost, und die bekommen sie in den Höhlenszenen serviert. Okuizumi würzt sein Werk mit Mystery-Elementen. Der zweifellos reizvolle Versuch, die japanische Nachkriegsgeschichte bis zur antiautoritären Bewegung und deren Verfall vom Krieg her aufzurollen, wird dadurch allerdings nicht plausibler.

Doch was ist mit der "Vergangenheitsbewältigung", was soll bewältigt werden? Es ist, und hierin steht "Das Gedächtnis der Steine" für zahllose andere Werke der japanischen Literatur zum Krieg, nicht die Last der Schuld gegenüber der fremden Bevölkerung in den besetzten Gebieten, nicht die Grausamkeit im Kampf gegen den "Feind", sondern es ist die Brutalität innerhalb des eigenen Militärs, die auch die jüngste Generation japanischer Schriftsteller als unbewältigtes nationales Trauma beschäftigt. Ein Trauma weckt den Drang zur Verdrängung, vielleicht ein Grund, weshalb die japanische Kritik sich dieses Themas kaum bemächtigte. Auch dem Protagonisten trübt es das Gedächtnis, und es wird in dem Roman, der ethisch-moralische oder politische Dimensionen allenfalls indirekt thematisiert, nicht wirklich überwunden. Zwar schreibt Manase ein geologisches Buch zu Ende und empfindet dies als wichtigen Abschluß einer, so müssen wir annehmen, selbstauferlegten Liebespflicht gegenüber den Verstorbenen. Doch seine Flucht in die Welt der Steine und des Kosmos - von diesem unendlich weit entfernten Ort im Unbekannten blickte Manase auf sich selbst herab, eine winzige Gestalt in einem unermeßlichen Gefäß - bedeutet letztlich nur eine Aufhebung der menschlichen Geschichte im Unendlichen. Das dürfte jedoch eine nicht untypische japanische Art des Umgangs mit Geschichte sein, wobei Natur- und Menschengeschichte nahtlos ineinander übergehen. "Das Gedächtnis der Steine" handelt von einem nationalen Trauma und dem Versuch seiner Überwindung, und darin ist es ein sehr zeitgenössisches japanisches Buch.

IRMELA HIHJIYA-KIRSCHNEREIT

Hikaru Okuizumi: "Das Gedächtnis der Steine". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000. 159 S., geb., 34,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2000

Die Höhle als Hölle oder Das Schreien der Steine
Ein Roman des Japaners Hikaru Okuizumi über das Psychodrama einer lebenslangen Traumatisierung
Dezember 1944. Im Dschungel der Philippinen-Insel Leyte versuchen sich die Reste der geschlagenen japanischen Armee vor dem Hunger und vor der Gefangennahme durch die Amerikaner zu retten. In einer Höhle sammeln sich verwundete, kranke, dahinvegetierende, sterbende Soldaten, kommandiert von einem Hauptmann, dessen nekrophiler nationalistischer Fanatismus sie auf den Endsieg einschwört und nicht mehr kampffähige Mitesser mit einem Schwertschnitt durch die Halsschlagader tötet. Den malariakranken, aber überlebenden Soldaten Manase lässt seitdem das Höhlentrauma nicht mehr los: die Höhle als Hölle.
Unter den Soldaten auch ein väterlicher Gefreiter, der vom Leben der Steine deliriert, hellsichtig deliriert: von ihrer Entstehung, ihrer Wiederauflösung, dem mineralischen Kreislauf: „Jedem Flusskiesel ist die ganze Geschichte des Kosmos eingeprägt. ”
Das ist das mehrfach wortwörtlich zitierte Leitmotiv dieses japanischen Kurzromans, den man wegen seiner Verdichtung nach europäischen Gattungsbegriffen fast eine Novelle nennen könnte. Und auch sonst mag man sich bei dem mit dem Akutagawa-Preis, dem renommiertesten japanischen Literaturpreis, ausgezeichneten Werk, dessen Autor (Jahrgang 1956) die International Christian University absolviert hat, an die europäische Literatur erinnert fühlen: an die deutsche literarische Romantik zumal, an Ludwig Tiecks „Runenberg” oder E. Th. A. Hoffmanns „Bergwerke zu Falun”. Denn die Steine, ihre suggestive, scheinglatte Schönheit, ihr fremdes, tiefes Leben, ihre Verführungskraft, der von ihnen ausgehende hypnotische Wahn – das alles ist auch bei Okuizumi spürbar. Zugleich sind die Steine mit ihrem kosmischen Bezug das Gegenbild des wirren und mörderischen menschlichen Lebens – insofern Adalbert Stifters „Bunten Steinen” verwandt.
Okuizumis traumatisierte Hauptfigur Manase verfällt ihnen als Steinsammler. Sie versteinern buchstäblich sein eheliches, sein familiäres Leben – bis auf die Liebe zu seinem Sohn Hiroaki, der ebenfalls dem Sog der Steine, in den Spuren des Vaters gehend, erliegt.
Mit Hiroakis Tod nimmt der Roman, der die Leser nach seinem brutalen Beginn der fast langweiligen Ruhe eines Steinsammlers vom langen Atem Stifters zu überlassen scheint, eine atemlose, immer wahnwitzigere Wendung. Hiroaki wird in einer Steinbruchhöhle ermordet, ohne dass eine Missbrauchsgeschichte rekonstruierbar wäre. Der Täter bleibt im Ungewissen. Ist es Takaaki gewesen, der vernachlässigte jüngere Bruder, dessen spätere Biografie im Stil einer Andreas-Baader-Transfiguration vom aggressiven Fußballspieler zum japanischen RAF-Terroristen führt – die Geschichte von Kain und Abel auf japanisch? Oder war es der von seinen Malaria-Albträumen umnachtete Vater eigenhändig? Das muss man in dieser nun überaus spannend erzählten Geschichte selber lesen, auf die Gefahr hin, dass man es bis zum Ende nicht erfährt.
Aber es kommt diesem bemerkenswerten Text auch nicht auf die kriminologische Lösung eines „Falles”, sondern auf das Psychodrama einer lebenslangen Traumatisierung an – nach dem Motto, das Okuizumi dem Evangelisten Lukas entlehnt, auf das Schreien der Steine, bevor sie zum Gedächtnis der ganzen Geschichte des Kosmos werden können und, wie am Schluss, aus einem „ganz gewöhnlichen grauen Stein” im Glast der aufsteigenden Sonne ein „funkelnder Kristall” wird: die Verwandlung, nein, die Wandlung, die Transsubstantiation der Steine als Erlösung des traumatisierten Lebens – wenn auch nur im Sonnenschein.
LUDGER LÜTKEHAUS
HIKARU OKUIZUMI: Das Gedächtnis der Steine. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2000. 159 Seiten, 34,- Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Irmela Hihjiya-Kirschnereit beschäftigt sich vor allem mit der Frage, welch unterschiedliche Leseerfahrungen und -erwartungen deutsche und japanische Leser haben - eine Frage, die, wie sie betont, unabhängig ist von der Qualität der Übersetzung. Deutsche Leser, so ist ihre Vermutung, dürften eher die Frage, wie sich das `Gedächtnis der Steine` zum "Gedächtnis der Menschen" verhält, interessant finden. Während japanische Leser hier vielmehr eine "ausgefeilte Story zum Thema Steine" sehen oder auch den "Versuch, die Geschichte der Menschen mit der des Alls in Einklang zu bringen". Insgesamt hat der Roman die Rezensentin jedoch offenbar nicht ganz überzeugt. Zuviel Horror und "Mystery-Elemente" für ihren Geschmack. Typisch für die japanische Literatur über den Krieg ist in ihren Augen die Konzentration auf die Gräuel in der eigenen Armee, die sich jedoch wenig mit der Frage der Schuld gegenüber anderen Völkern beschäftigt. Moralische oder politische Aspekte spielen hier kaum eine Rolle, bedauert die Rezensentin. Stattdessen macht sie bei Okuizumi eine Tendenz aus, "Natur- und Menschengeschichte nahtlos" ineinander fließen zu lassen - was sie recht typisch für die neuere japanische Literatur findet.

© Perlentaucher Medien GmbH