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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2006

Chilenische Einsamkeit

In den Himmel über der Desierto de Atacama ragt eine gigantische Granithand. Die beeindruckende, zwanzig Meter hohe Felsskulpur in der nordchilenischen Wüste kündet trotzig vom Bedürfnis des Menschen, Botschaften zu hinterlassen und Zeichen zu setzen, selbst oder gerade in der gottverlassenen Wüste. Zudem erinnern immer wieder Kreuze und Steinhaufen an die Tausenden von Desaparecidos, also die: Verschwundenen, die Pinochet nach dem Sturz Allendes hatte umbringen und verscharren lassen. Wer wäre geeigneter, diese steinernen Zeichen der Wüste zu entschlüsseln als ein Schriftsteller? Der Autor Ariel Dorfmann ist mit seiner Frau Angélica in den Norden Chiles gereist, um die "Piktogramme und Hieroglyphen" der Wüste zu dechiffrieren, auf Spurensuche nach Verschwundenen - darunter auch eigene Verwandte. Ihre Route verläuft von La Serena über das wüste Landesinnere am Fuß der Anden bis hoch nach Arica im westlichen Nordzipfel Chiles. Mit dem Auto durchfahren die Dorfmanns menschenverlassene und sonnenverbrannte Weiten aus Sand und Gestein. Es wird eine Reise zu den Ursprüngen Chiles. Der immense Wohlstand des Staats gründet sich nicht zuletzt auf die Wüste im Norden, die so arm schien, aber tatsächlich reich war an Bodenschätzen, vor allem an Nitrat und Kupfer. Doch nachdem der ungeheure Nitratrausch verebbt war, haben die Konzerne die Städtchen der Salpeterminen mit harter Hand räumen lassen. Orte wie Oficina Alemania, Humberstone oder María Elena wurden zu Geisterstädten, die oft von den vertriebenen Arbeitern und Angestellten geplündert wurden, manchmal bis auf die Hausfundamente. Nach soviel trostloser Verlassenheit wirkt das bunte Hafenstädtchen Iquique auf das Ehepaar wie eine Oase, trotz seiner düsteren Geheimnisse. Dort forscht es nach den legendenumwobenen Verwandten Angélicas, vor allem aber nach Spuren von Freddy Taberna, einem charismatischen Fischersohn, mit dem Dorfmann während der revolutionär erhitzten Studentenzeit eine enge Freundschaft verband. Der Schriftsteller ging während der Diktatur ins Exil in die Vereinigten Staaten, aber Freddy hatten die Militärs zu fassen bekommen - und im Konzentrationslager von Pisagua erschossen. Seiner jungen Witwe wurde der Aufenthaltsort der Leiche nie genannt. Auch die Dorfmanns finden ihn nicht - vermutlich wurde der Tote ins Meer geworfen, wie so viele andere. "Leichen" heißt der dritte Teil des elegant geschriebenen Reiseberichts. Er ist am fesselndsten, weil er das Ausgangsversprechen des Autors am deutlichsten einlöst und eine lebendige Verbindung herstellt zwischen politischer Vergangenheit, Landschaft und Mensch. Das Gedächtnis der Wüste ist kein praktisches Reisebuch mit Ratschlägen für Unterkunft und Tagestouren, aber eine philosophisch-grüblerische Erkundungsreise in Chiles Anfänge als Industrieland.

evas

"Das Gedächtnis der Wüste - Meine Reise durch den Norden Chiles" von Ariel Dorfmann. Frederking & Thaler Verlag, München 2005. 336 Seiten, 21 Fotos, eine Karte. Gebunden, 22 Euro. ISBN 3-89405-488-3.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent "evas" ist sehr beeindruckt von Ariel Dorfmanns elegant geschriebener, "philosophisch-grüblerischen Erkundungsreise" durch Chiles Wüste: einer Reise, die auch zu Chiles Anfängen als Industrieland, vor allem aber eine Spurensuche nach Verschwundenen der Pinochet-Diktatur sei. Auch eigene Verwandte von Dorfmann und seiner Frau Angelica, die nach Allendes Sturz umgebracht und in der Wüste verscharrt worden sind, geraten in den Blick. So führe die Reise nicht nur an beeindruckenden Felsen und Geisterstädten, in denen einst Arbeiter der Kupferminen lebten, sondern auch an Kreuzen und Steinhaufen vorbei, die die Gräber der Verschwundenen, der "Desaparecidos", markieren. "Leichen" heißt der für den Rezensenten fesselndste Teil des Buches, in dem es Dorfmann aus seiner Sicht am eindruckvollsten gelingt, "eine lebendige Verbindung" zwischen politischer Vergangenheit, Landschaft und Mensch herzustellen.

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