»Der wohl sprachmächtigste Dichter, den die Niederlande augenblicklich besitzen, der mit Sicherheit sinnlichste« (Tilman Krause), erzählt in Das Gefahrendreieck die traurig-komischen Stationen, die Albert Egberts auf dem Weg vom kleinen Jungen Mitte der fünfziger Jahre bis zum Studenten absolviert.
Früh schon wird im bewußt, wie er leben will: »nicht vorwärts, auf den Schienen der irdischen Zeit, die zum Tod führten ... sondern außerhalb dieser Zeit, auf einem Nebengleis ... ein Leben nicht in die Länge, sondern in die Breite.«
Diese Maxime ist die Reaktion auf das ihn einengende, von einer Straße, einer Eisenbahnlinie und einem Kanal gebildete Dreieck, in dem er aufwächst. Dort lauern in der Tat vielfältigste Gefahren: Da ist zunächst der Vater, der nach seinen Sauftouren die gesamte Familie tyrannisiert - bis es Albert und seiner Mutter durch kleine Tricks gelingt, ihn ruhigzustellen. Da ist der gleichaltrige, gewalttätige Flix, mit dem es Heldentaten zu vollbringen gilt. Und da sind die Verwandtschaft und die Nachbarn, die kleinen Leute und die großen Angeber ...
Selbst jenseits des Dreiecks der Kindheit, in Nijmwegen zu Beginn des Studiums, lauern Gefahren: Frauen, zum Beispiel, oder die »gestiefelten Maexisten«.
In seinem weit ausgreifenden Panorama des Alltags in Kleinstädten und Provinzorten erzählt der große Fabulierer A. F. Th. Von der Heijden ernste und lustige, abenteuerliche und absurde Geschichten - und die Geschichten hinter den Geschichten.
Adrianus Franciscus Theodorus von der Heijden, 1951 geboren, lebt heute in Amsterdam. Er zählt zu den bedeutendsten niederländischen Autoren.
Früh schon wird im bewußt, wie er leben will: »nicht vorwärts, auf den Schienen der irdischen Zeit, die zum Tod führten ... sondern außerhalb dieser Zeit, auf einem Nebengleis ... ein Leben nicht in die Länge, sondern in die Breite.«
Diese Maxime ist die Reaktion auf das ihn einengende, von einer Straße, einer Eisenbahnlinie und einem Kanal gebildete Dreieck, in dem er aufwächst. Dort lauern in der Tat vielfältigste Gefahren: Da ist zunächst der Vater, der nach seinen Sauftouren die gesamte Familie tyrannisiert - bis es Albert und seiner Mutter durch kleine Tricks gelingt, ihn ruhigzustellen. Da ist der gleichaltrige, gewalttätige Flix, mit dem es Heldentaten zu vollbringen gilt. Und da sind die Verwandtschaft und die Nachbarn, die kleinen Leute und die großen Angeber ...
Selbst jenseits des Dreiecks der Kindheit, in Nijmwegen zu Beginn des Studiums, lauern Gefahren: Frauen, zum Beispiel, oder die »gestiefelten Maexisten«.
In seinem weit ausgreifenden Panorama des Alltags in Kleinstädten und Provinzorten erzählt der große Fabulierer A. F. Th. Von der Heijden ernste und lustige, abenteuerliche und absurde Geschichten - und die Geschichten hinter den Geschichten.
Adrianus Franciscus Theodorus von der Heijden, 1951 geboren, lebt heute in Amsterdam. Er zählt zu den bedeutendsten niederländischen Autoren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2000Ein Leben in die Breite
„Das Gefahrendreieck” des A. F. Th. van der Heijden
Ein Prolog, ein erster und ein zweiter Teil, ein Intermezzo, ein zweiteiliger dritter Teil und der abschließende vierte: Der Romanzyklus Die zahnlose Zeit des Niederländers A. F. Th. van der Heijden umfasst etwa 3000 Seiten. Sowohl seine verzweigte Anlage als auch seine nichtlineare Erscheinungsweise bilden das existentielle Konzept ab, mit dem van der Heijdens Protagonist den Zähnen der Zeit entkommen will: „so zu leben . . . immer . . . nicht vorwärts, auf den Schienen der irdischen Zeit, die zum Tod führten . . . sondern außerhalb dieser Zeit, auf einem Nebengleis . . . ein Leben nicht in die Länge, sondern in die Breite. ”
Ein niederländisches Who’s Who der Tetralogie – mit einem Stammbaum, der biologische Eltern-Kind-Relationen und „zugeschriebene” Vaterschaften ebenso registriert wie Liebesverhältnisse und flüchtige Beziehungen – stellt auf mehr als vierzig Seiten das Personal der Romane (mitsamt Spitznamen) vor, auf drei Seiten die Topografie – Geldrop, Nimwegen, Amsterdam – und skizziert auf 25 Seiten den Lebenslauf von Albert Egberts, der am 30. April 1950 Punkt Mitternacht geboren wird und am 24. September 1986 zu seiner alten Liebe Zwanet zurückkehrt.
Schon die Inhaltsverzeichnisse der Bände belegen, dass die Romane auch kompositorisch autonom sind. Ins Auge fällt eine ausdrückliche Querverbindung: „Ein gelähmter Liebhaber (2)” aus Das Gefahrendreieck setzt das gleichnamige zweite Kapitel aus Fallende Eltern (1983; dt. 1997) fort. Benannt ist damit das zentrale Trauma des jungen Albert Egberts. Durchaus kann Das Gefahrendreieck als ein Entwicklungsroman betrachtet werden. Albert Egberts, Student in Nimwegen, ist zwecks Vorbereitung auf eine Zwischenprüfung in das heimatliche Dorf Geldrop zurückgekehrt. Doch das regionale „Gefahrendreieck”, gebildet aus einem Kanal, einer Straße und einer Eisenbahnlinie, ist nicht mehr das mythische Kindheitsrevier, das es gewesen ist. Albert fertigt eine Karte an, auf der er mit Rotstift die Stelle seines früheren Elternhauses markiert. Und von einem Kapitel zum anderen ist dann die Vergangenheit da: Ein Motorrad, „das auf meiner Karte nach Norden hinauffuhr”, füllt mit seinem Lichtkegel die geometrische Figur aus: „Im ersten Stock eines der Häuser links lag ein sechsjähriger Junge im Bett. Bis zu dem Moment, als das Strahlenbündel in das Dreieck eindrang, war sein Schlaf traumlos gewesen. Durch den Spalt zwischen drang ein sehr scharfes Schwert in das Kinderzimmer ein. Es stieß gegen die Decke und zerbrach. Während die Harley tiefer in die kleine Straße vorstieß, zog das zerbrochene Schwert rasche Linien auf die Zimmerdecke und drei der vier Wände und blieb dann, als das Motorrad zu Stehen kam, über dem Kopf des schlafenden Jungen hängen. ”
In einem „himmlischen” Traum – „dazu bestimmt, nie mehr vergessen zu werden” – erblickt der kleine Albert die Sonne, er muss sie unbedingt haben. Als Gott Vater sie ihm endlich überlässt, entpuppt sie sich als ein Spiegel, der – in Wirklichkeit der Motorradscheinwerfer – ihn blendet und aufweckt. Später erweist sich der Spiegel als Vorausdeutung auf Albert den Schriftsteller. Der aber nicht eines Tages der Welt den Spiegel vorhalten wird, sondern sie (und sich) immer wieder „fremd” in einem Spiegel sehen „muss” – von den schwarzen Spiegeln der Metaphern und Vergleiche ganz zu schweigen.
In einem Realismus, der seine Magie aus einer panischen Nähe zum Alltag gewinnt, erzählt A. F. Th. van der Heijden von Alberts Kindheit, Schule, Pubertät, Gymnasium, Sexualnot („der gelähmte Liebhaber”), Studium. Jede der zehn, jeweils dreigeteilten, Abteilungen des Romans zeigt einen an Proust und Nabokov geschulten Erzähler, der nicht nur den Jungen und den jungen Mann porträtiert, sondern auch den Künstler in spe.
Der Herrscher über Alberts Innenwelt und Außenwelt ist in den ersten Lebensabschnitten die mit visionärer Genauigkeit „erlebte” Elends- und Schreckensfigur des Vaters. Vor ihm flieht er zu dessen Bruder, zu Egbert Egberts. Und es ist ein Kabinettstück erzählerischer Logistik, wie A. F. Th. van der Heijden Alberts Familie „verantwortlich” macht für die Geburt der Poesie. Egbert Egberts stottert leicht: „Albert hing an seinen Lippen. Mit der Zeit konnte er schon an der ersten Silbe hören, welches wichtige Wort im Anmarsch war. Er sagte sich das, noch nicht ausgesprochene, Wort leise vor, wie um den selektiven Stotterer zu ermuntern. So lernte Albert, Worte zu kosten. Er empfand große Bewunderung für Egberts reiche Sprache, die unter so großen Mühen geboren wurde. Jedes Wort kerbte sich in das Gesicht des Mannes ein, bevor er es aussprach. ”
Der Schlaf gebiert Ungeheuer, die Schlaflosigkeit Unerhörtes. Nachts liegt Albert wach. Müdigkeit zwingt ihn, „noch schärfer ins Dunkel zu spähen”. Er vergegenwärtigt sich die jämmerliche Kunstlederjacke seines Vaters: „Das Kleidungsstück trug auf fast jedem Quadratzentimeter die Zeichen seiner Besäufnisse: Fetzen, die sich durch Stürze und Scheuern gelöst und aufgerollt hatten und die Minderwertigkeit des Materials ans Licht brachten. ” Das wäre ja schon genau genug. Aber jetzt steht (und treibt) er in der Bilder Flut: „Aus den ,Kokons‘, wie Albert die grauen Röllchen nannte, sah er „Schmetterlinge zitternd entstehen. Schmetterlinge in seinen Farben. Er sah sie am Rand ihrer Puppenhülle sitzen und die Flügel entfalten. Wie züngelnde Flämmchen brachen sie aus ihm heraus und bedeckten seine ganze Schwärze und Scham. So hätte Albert ihn besiegt und doch gerettet. ” Obwohl er in allem Hass auf den Vater auch noch Mitleid mit ihm empfindet, registriert Albert seine Traumerlebnisse nicht moralisch, sondern ästhetisch: „Sicher war, dass in diesen Nächten die Poesie geboren wurde. Nachmittags, auf Egberts Schoß, lernte er, den Wörtern auf die Welt zu helfen; nachts kamen die Bilder. Das nächtliche Bett war eine umgekehrte Schule, in der er, nur für ihn bestimmt, die geheimsten Dinge lernte. ”
Es ist eine Poesie, die Wirklichkeit nicht kompensiert, sondern potenziert. Einmal will Albert sich durch Alkohol „den Zugang zur Welt seines Alten” verschaffen. Auf der Heimfahrt muss er sich übergeben und hastet auf die Plattform des Bummelzugs: „Der starke Luftstrom klatschte seinen Mageninhalt an den Zug, an dem das Erbrochene im Nu wie ein Fächer ausfächerte. Die glitzernde Schleimspur, die sich nach hinten immer mehr verbreiterte, ließ Albert, tief im Rausch, noch an die, mit unsichtbarer Feder gezeichneten, Bäume in der Schule denken. Durch eine leere Kugelschreiberhülse ließ der Lehrer ihn auf einen, sich auf dem Papier wölbenden, Tuschetropfen blasen, der sich unter der feinen Luftnadel endlos verzweigte . . . in immer dünnere und bizarrere Verästelungen, bis das Zeichenblatt ganz mit einer dichten Baumkrone gefüllt war. ”
Der Leser – längst geschult durch die „erklärte” Technik des Verfassers, die Welt als Metapher aufzufassen (und zuzulassen) – sieht in der Kaskade, die sich vom „Dreckszeug” eines überforderten Magens bis zum Wunder des Tintenbaums erstreckt, eine allegorische Anspielung auf die Romanwelt, die A. F. Th. van der Heijden sich mit einem (Montblanc-)Füllfederhalter erschrieben hat. In der mentalen Überwindung des Schleiers aus Kotze durch den Baum aus Tusche spiegelt sich indes auch die andere Seite der Poesie wider, die oben erwähnte „Lähmung” Alberts: „Dichterische Begabung missbraucht um Impotenz schönzureden. . .” Albert scheint zum Renegaten seines Talents zu werden: „Die Poesie war bei ihm zum Vehikel der Lüge geworden. Betrug. Ein Gedicht, geschrieben mit schlaffem Schwanz. Nie, nie, nie würde er einen Buchstaben davon zu Papier bringen. ” Aber als „es” dann doch endlich klappt und er sein Anderssein verliert, aus dem er „einen sanften Stolz” bezogen hatte, sieht Albert seinen Lebensentwurf in Gefahr: „Vielleicht war damals die Poesie am Aufblühen gewesen. Das Leben in die Breite. Und vielleicht hätte diese Lebensform gedeihen könne, wenn er nicht zum ,Mann’ geworden wäre . Allzu körperlich in der Welt zu sein, bedeutete offenbar Einbußen an Poesie. ” Zu dieser Erkenntnis gelangt Albert an der Totenbahre des Sohnes seiner Zimmerwirtin. Jetzt weiß er, an wen „Ljibbe” ihn die ganze Zeit erinnert hat: „Der kleine Junge war ein ungreifbares, flüchtiges Spiegelbild gewesen, das er jetzt, wegen der Reglosigkeit des Todes, als sein eigenes Bild erkannte. ” – Fortsetzung folgt. Aber bevor der dritte Teil des Romanzyklus in deutscher Übersetzung erscheint, wird der Prolog kommen: „Die Schlacht um die Blaubrücke”. Gott sei Dank ist Die zahnlose Zeit noch lange nicht zu Ende.
HERMANN WALLMANN
A. F. Th. VAN DER HEIJDEN: Das Gefahrendreieck. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 532 Seiten, 49,80 Mark.
A. F. Th. van der Heijden. Sein hier besprochener Roman Das Gefahrendreieck ist der zweite Teil der dreitausend Seiten umfassenden Tetralogie Die zahnlose Zeit.
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„Das Gefahrendreieck” des A. F. Th. van der Heijden
Ein Prolog, ein erster und ein zweiter Teil, ein Intermezzo, ein zweiteiliger dritter Teil und der abschließende vierte: Der Romanzyklus Die zahnlose Zeit des Niederländers A. F. Th. van der Heijden umfasst etwa 3000 Seiten. Sowohl seine verzweigte Anlage als auch seine nichtlineare Erscheinungsweise bilden das existentielle Konzept ab, mit dem van der Heijdens Protagonist den Zähnen der Zeit entkommen will: „so zu leben . . . immer . . . nicht vorwärts, auf den Schienen der irdischen Zeit, die zum Tod führten . . . sondern außerhalb dieser Zeit, auf einem Nebengleis . . . ein Leben nicht in die Länge, sondern in die Breite. ”
Ein niederländisches Who’s Who der Tetralogie – mit einem Stammbaum, der biologische Eltern-Kind-Relationen und „zugeschriebene” Vaterschaften ebenso registriert wie Liebesverhältnisse und flüchtige Beziehungen – stellt auf mehr als vierzig Seiten das Personal der Romane (mitsamt Spitznamen) vor, auf drei Seiten die Topografie – Geldrop, Nimwegen, Amsterdam – und skizziert auf 25 Seiten den Lebenslauf von Albert Egberts, der am 30. April 1950 Punkt Mitternacht geboren wird und am 24. September 1986 zu seiner alten Liebe Zwanet zurückkehrt.
Schon die Inhaltsverzeichnisse der Bände belegen, dass die Romane auch kompositorisch autonom sind. Ins Auge fällt eine ausdrückliche Querverbindung: „Ein gelähmter Liebhaber (2)” aus Das Gefahrendreieck setzt das gleichnamige zweite Kapitel aus Fallende Eltern (1983; dt. 1997) fort. Benannt ist damit das zentrale Trauma des jungen Albert Egberts. Durchaus kann Das Gefahrendreieck als ein Entwicklungsroman betrachtet werden. Albert Egberts, Student in Nimwegen, ist zwecks Vorbereitung auf eine Zwischenprüfung in das heimatliche Dorf Geldrop zurückgekehrt. Doch das regionale „Gefahrendreieck”, gebildet aus einem Kanal, einer Straße und einer Eisenbahnlinie, ist nicht mehr das mythische Kindheitsrevier, das es gewesen ist. Albert fertigt eine Karte an, auf der er mit Rotstift die Stelle seines früheren Elternhauses markiert. Und von einem Kapitel zum anderen ist dann die Vergangenheit da: Ein Motorrad, „das auf meiner Karte nach Norden hinauffuhr”, füllt mit seinem Lichtkegel die geometrische Figur aus: „Im ersten Stock eines der Häuser links lag ein sechsjähriger Junge im Bett. Bis zu dem Moment, als das Strahlenbündel in das Dreieck eindrang, war sein Schlaf traumlos gewesen. Durch den Spalt zwischen drang ein sehr scharfes Schwert in das Kinderzimmer ein. Es stieß gegen die Decke und zerbrach. Während die Harley tiefer in die kleine Straße vorstieß, zog das zerbrochene Schwert rasche Linien auf die Zimmerdecke und drei der vier Wände und blieb dann, als das Motorrad zu Stehen kam, über dem Kopf des schlafenden Jungen hängen. ”
In einem „himmlischen” Traum – „dazu bestimmt, nie mehr vergessen zu werden” – erblickt der kleine Albert die Sonne, er muss sie unbedingt haben. Als Gott Vater sie ihm endlich überlässt, entpuppt sie sich als ein Spiegel, der – in Wirklichkeit der Motorradscheinwerfer – ihn blendet und aufweckt. Später erweist sich der Spiegel als Vorausdeutung auf Albert den Schriftsteller. Der aber nicht eines Tages der Welt den Spiegel vorhalten wird, sondern sie (und sich) immer wieder „fremd” in einem Spiegel sehen „muss” – von den schwarzen Spiegeln der Metaphern und Vergleiche ganz zu schweigen.
In einem Realismus, der seine Magie aus einer panischen Nähe zum Alltag gewinnt, erzählt A. F. Th. van der Heijden von Alberts Kindheit, Schule, Pubertät, Gymnasium, Sexualnot („der gelähmte Liebhaber”), Studium. Jede der zehn, jeweils dreigeteilten, Abteilungen des Romans zeigt einen an Proust und Nabokov geschulten Erzähler, der nicht nur den Jungen und den jungen Mann porträtiert, sondern auch den Künstler in spe.
Der Herrscher über Alberts Innenwelt und Außenwelt ist in den ersten Lebensabschnitten die mit visionärer Genauigkeit „erlebte” Elends- und Schreckensfigur des Vaters. Vor ihm flieht er zu dessen Bruder, zu Egbert Egberts. Und es ist ein Kabinettstück erzählerischer Logistik, wie A. F. Th. van der Heijden Alberts Familie „verantwortlich” macht für die Geburt der Poesie. Egbert Egberts stottert leicht: „Albert hing an seinen Lippen. Mit der Zeit konnte er schon an der ersten Silbe hören, welches wichtige Wort im Anmarsch war. Er sagte sich das, noch nicht ausgesprochene, Wort leise vor, wie um den selektiven Stotterer zu ermuntern. So lernte Albert, Worte zu kosten. Er empfand große Bewunderung für Egberts reiche Sprache, die unter so großen Mühen geboren wurde. Jedes Wort kerbte sich in das Gesicht des Mannes ein, bevor er es aussprach. ”
Der Schlaf gebiert Ungeheuer, die Schlaflosigkeit Unerhörtes. Nachts liegt Albert wach. Müdigkeit zwingt ihn, „noch schärfer ins Dunkel zu spähen”. Er vergegenwärtigt sich die jämmerliche Kunstlederjacke seines Vaters: „Das Kleidungsstück trug auf fast jedem Quadratzentimeter die Zeichen seiner Besäufnisse: Fetzen, die sich durch Stürze und Scheuern gelöst und aufgerollt hatten und die Minderwertigkeit des Materials ans Licht brachten. ” Das wäre ja schon genau genug. Aber jetzt steht (und treibt) er in der Bilder Flut: „Aus den ,Kokons‘, wie Albert die grauen Röllchen nannte, sah er „Schmetterlinge zitternd entstehen. Schmetterlinge in seinen Farben. Er sah sie am Rand ihrer Puppenhülle sitzen und die Flügel entfalten. Wie züngelnde Flämmchen brachen sie aus ihm heraus und bedeckten seine ganze Schwärze und Scham. So hätte Albert ihn besiegt und doch gerettet. ” Obwohl er in allem Hass auf den Vater auch noch Mitleid mit ihm empfindet, registriert Albert seine Traumerlebnisse nicht moralisch, sondern ästhetisch: „Sicher war, dass in diesen Nächten die Poesie geboren wurde. Nachmittags, auf Egberts Schoß, lernte er, den Wörtern auf die Welt zu helfen; nachts kamen die Bilder. Das nächtliche Bett war eine umgekehrte Schule, in der er, nur für ihn bestimmt, die geheimsten Dinge lernte. ”
Es ist eine Poesie, die Wirklichkeit nicht kompensiert, sondern potenziert. Einmal will Albert sich durch Alkohol „den Zugang zur Welt seines Alten” verschaffen. Auf der Heimfahrt muss er sich übergeben und hastet auf die Plattform des Bummelzugs: „Der starke Luftstrom klatschte seinen Mageninhalt an den Zug, an dem das Erbrochene im Nu wie ein Fächer ausfächerte. Die glitzernde Schleimspur, die sich nach hinten immer mehr verbreiterte, ließ Albert, tief im Rausch, noch an die, mit unsichtbarer Feder gezeichneten, Bäume in der Schule denken. Durch eine leere Kugelschreiberhülse ließ der Lehrer ihn auf einen, sich auf dem Papier wölbenden, Tuschetropfen blasen, der sich unter der feinen Luftnadel endlos verzweigte . . . in immer dünnere und bizarrere Verästelungen, bis das Zeichenblatt ganz mit einer dichten Baumkrone gefüllt war. ”
Der Leser – längst geschult durch die „erklärte” Technik des Verfassers, die Welt als Metapher aufzufassen (und zuzulassen) – sieht in der Kaskade, die sich vom „Dreckszeug” eines überforderten Magens bis zum Wunder des Tintenbaums erstreckt, eine allegorische Anspielung auf die Romanwelt, die A. F. Th. van der Heijden sich mit einem (Montblanc-)Füllfederhalter erschrieben hat. In der mentalen Überwindung des Schleiers aus Kotze durch den Baum aus Tusche spiegelt sich indes auch die andere Seite der Poesie wider, die oben erwähnte „Lähmung” Alberts: „Dichterische Begabung missbraucht um Impotenz schönzureden. . .” Albert scheint zum Renegaten seines Talents zu werden: „Die Poesie war bei ihm zum Vehikel der Lüge geworden. Betrug. Ein Gedicht, geschrieben mit schlaffem Schwanz. Nie, nie, nie würde er einen Buchstaben davon zu Papier bringen. ” Aber als „es” dann doch endlich klappt und er sein Anderssein verliert, aus dem er „einen sanften Stolz” bezogen hatte, sieht Albert seinen Lebensentwurf in Gefahr: „Vielleicht war damals die Poesie am Aufblühen gewesen. Das Leben in die Breite. Und vielleicht hätte diese Lebensform gedeihen könne, wenn er nicht zum ,Mann’ geworden wäre . Allzu körperlich in der Welt zu sein, bedeutete offenbar Einbußen an Poesie. ” Zu dieser Erkenntnis gelangt Albert an der Totenbahre des Sohnes seiner Zimmerwirtin. Jetzt weiß er, an wen „Ljibbe” ihn die ganze Zeit erinnert hat: „Der kleine Junge war ein ungreifbares, flüchtiges Spiegelbild gewesen, das er jetzt, wegen der Reglosigkeit des Todes, als sein eigenes Bild erkannte. ” – Fortsetzung folgt. Aber bevor der dritte Teil des Romanzyklus in deutscher Übersetzung erscheint, wird der Prolog kommen: „Die Schlacht um die Blaubrücke”. Gott sei Dank ist Die zahnlose Zeit noch lange nicht zu Ende.
HERMANN WALLMANN
A. F. Th. VAN DER HEIJDEN: Das Gefahrendreieck. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 532 Seiten, 49,80 Mark.
A. F. Th. van der Heijden. Sein hier besprochener Roman Das Gefahrendreieck ist der zweite Teil der dreitausend Seiten umfassenden Tetralogie Die zahnlose Zeit.
Foto: Klaas Koppe
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer etwas chaotischen Besprechung versucht Dorothea Dieckmann den Lesern van der Heijdens "Gefahrendreick" nahezubringen. Was soll man zum Beispiel von diesem Satz halten: "Die Poesie verwandelt den aufs Erwachsensein eingeordneten Zeitpfeil in eine zielgehemmte Kurvenlinie"? Dennoch macht die Rezensentin glaubhaft, dass es sich hier um einen wichtigen Roman in einem Zyklus von Proustschen Ausmaßen handelt. Sie kritisiert die "chaotische Editionspraxis" des Suhrkamp-Verlags, der van der Heijdens Romane nicht in der richtigen Reihenfolge herausbringt, obwohl sie inhaltlich zusammenhängen. Im "Gefahrendreieck", so Dieckmann, begibt sich Albert, einer von van der Heijdens Helden, zurück in die Kindheit, in eine grausame Idylle "von Jaucheduft und Schweineschlachten", in die ersten Lieben und das Studium. Dieckmann begeistert sich an der Wirrnis der Episoden und Erinnerungen, die "doch immer gelöst" seien "in der nüchternen Klarheit" des Stils. Helga van Beuningens Übersetzung attestiert Dieckmann Stilsicherheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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