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"Kannst du dir vorstellen, daß ich nie einen Menschen geliebt habe?" Sein eigener Schrei ist es, der Josef, bis vor kurzem Herr einer Hotelkette, überrascht: Sein Enkel John stellt die Krippenfiguren im Spiel anders auf, als es die Weihnachtserzählung vorschreibt - und aus der Heiligen Familie wird eine Szene intimer Gewalt. Das Erschrecken darüber deckt eine Geschichte auf, die nicht vergangen ist. Hat Josef vor bald fünfzig Jahren die Frau, die er zu lieben glaubte, umgebracht? Diese Geschichte kann er keinem Sechsjährigen erzählen. Also schreibt er dem Enkel einen langen Brief, den dieser…mehr

Produktbeschreibung
"Kannst du dir vorstellen, daß ich nie einen Menschen geliebt habe?" Sein eigener Schrei ist es, der Josef, bis vor kurzem Herr einer Hotelkette, überrascht: Sein Enkel John stellt die Krippenfiguren im Spiel anders auf, als es die Weihnachtserzählung vorschreibt - und aus der Heiligen Familie wird eine Szene intimer Gewalt. Das Erschrecken darüber deckt eine Geschichte auf, die nicht vergangen ist. Hat Josef vor bald fünfzig Jahren die Frau, die er zu lieben glaubte, umgebracht?
Diese Geschichte kann er keinem Sechsjährigen erzählen. Also schreibt er dem Enkel einen langen Brief, den dieser in zwanzig Jahren einmal erhalten soll. Dann wird er lesen können, wie Josef auf sein Leben zurückblickt - nicht mit Stolz und Gefühlen des Glücks. Aufgewachsen in einem Klima von falscher Moral und Kälte, flüchtet er aus dem Elternhaus, um sich in der eigenen Generation eine neue Familie zu suchen. Was ihm in den Milieus der fünfziger und sechziger Jahre zustößt, mündet in jene schreckliche Tat, die Josef aus der Bahn wirft. Er flieht in die Ferne, bis nach Ägypten. Und dort begegnet ihm eine Frau, die sein Scheitern unverhofft beendet.
Adolf Muschg ist ein wunderbares Porträt eines Mannes gelungen, der sich von den großen Idealen, aber auch Nöten seiner Nächsten umstellt sieht und der, weil er das Zeug zum Revolutionär nicht hat, einen langen Weg der Befreiung gehen muß. Und das Lächeln, das Josef von seinem Vater geerbt hat? Es bleibt nicht gefangen. Dem Leser - der Leserin vielleicht noch eher - kann es in jedem Satz dieses Textes aufgehen: in dem, was er festhält, und in dem, was er offenläßt.
Autorenporträt
Muschg, AdolfAdolf Muschg wurde 1934 als Sohn von Adolf Muschg senior (1872-1946) und seiner zweiten Frau in Zollikon, Kanton Zürich/Schweiz geboren. Er studierte Germanistik, Anglistik sowie Philosophie in Zürich und Cambridge und promovierte über Ernst Barlach. Von 1959 bis 1962 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Zürich, dann folgten verschiedene Stellen als Hochschullehrer, unter anderem in Deutschland (Universität Göttingen), Japan und den USA. 1970 bis 1999 war er Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. 1975 war Muschg Kandidat der Zürcher Sozialdemokratischen Partei für den Ständerat. Er wurde zwar nicht gewählt, äußerte sich nach wie vor regelmäßig zu politischen Zeitfragen. Adolf Muschg ist seit 1976 Präsident der Akademie der Künste Berlin, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Lesereisen führten ihn bisher nach Deutsc

hland, England, Holland, Italien, Japan, Kanada, Österreich, Portugal, Taiwan, USA. Er lebt in Männedorf bei Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Magdas befleckte Empfängnis
Nach dem Krippenumbau: Adolf Muschg schlingt ein Möbiusband um die Heilige Familie / Von Eberhard Rathgeb

Wir schlagen den neuen Muschg auf und denken an Hellinger. Denn Muschgs Erzählung beginnt mit einer Art von Familienaufstellung. Und Familienaufstellungen sind das Heimterrain Bert Hellingers, der viele Jahre in einem katholischen Missionsorden in Südafrika gewirkt hat und nun weltweit als Therapeut tätig ist. Bei den Familienaufstellungen geht es vor allem darum, daß Familienmitglieder ihre Positionen in der Familie nachstellen und daran erkennen, welche Konflikte in dieser Anordnung zum Ausdruck kommen. Auch in der Schweiz haben sich Menschen schon zu einer Arbeitsgemeinschaft Bert Hellinger zusammengestellt.

Was passiert bei Muschg? Ein Opa und ein Enkel sitzen vor der Weihnachtskrippe. Der Junge arrangiert die Heilige Familie neu. Joseph steht nun nicht mehr neben oder vor, sondern hinter Maria. Er stützt sich nun auch nicht mehr auf seinen Stock, sondern er schwingt unselig den Knüppel über der Maria nach der unbefleckten Empfängnis. Der Opa sieht das, stößt einen Schrei des Entsetzens aus. Der Schreck läßt nach, der Opa beruhigt sich. Er ist dem Enkel eine Erklärung für den Krippenvorfall schuldig, und so schreibt er dem Sechsjährigen einige Briefe. Die soll der Junge in zwanzig Jahren lesen.

Aus den Briefen an den Enkel erfahren wir: Der Opa wächst in einer Familie auf, die mit der Hand auf der Bibel lebt und aus Erfahrung mit dem Teufel rechnet. Das Böse wütet gerne in der Weibsnatur, die vom Mann eingedämmt werden muß. Die Sünde ist von dieser Welt, weil kein Leben ohne das Weib ist. Kann einer freimütig lachen, der in diese Zwangsvorstellungen hineinwächst? Wir erkennen, so Muschg, die Gefangenen eines rabiaten Christentums schon an ihrem verkrampften Lächeln. Damit erklärt sich der Titel der Erzählung.

Der Opa heißt Josef, und ihm ergeht es wie dem alten Joseph, dem Zimmermann. Er studiert Architektur, geht auf Reisen. Als er zurückkommt, ist seine unberührte Maria, die Magda heißt, schwanger. Der Opa in jungen Jahren findet sich mit dem Glauben an eine unbefleckte Empfängnis nicht ab. Er schlägt auf die Magda ein, bis sie kein einziges Wort mehr sagt. So still sind nur Tote. Darauf tritt er seine Flucht nach Ägypten an. Dort fällt der Ausgestoßene nicht in eine Löwengrube. Er rennt einer Tochter aus schwerreichem Haus in die Arme und wird ein Baulöwe mit einer Hotel-Kette um den Hals. Vierzig Jahre vergehen. Eines Tages liest der Opa eine Todesanzeige und erfährt daraus, daß seine Verlobte noch vierzig Jahre gelebt hat: Sie ist erst vor wenigen Tagen gestorben. Der Mörder ist kein Mörder (von außen gesehen, denn die Tote lebte) und ist wiederum doch ein Mörder (von innen gesehen, denn er fühlte sich wie ein Mörder).

Muschg erzählt eine gewitzte Geschichte. Nicht der Aufsteller Bert Hellinger spielt die entscheidende Rolle, sondern August Ferdinand Möbius. Muschg gibt uns einen Wink: Er macht den Opa zum Chef der Firma Moebius. Mit Möbius - 1790 bis 1868, seit 1820 Direktor der Sternwarte in Leipzig, seit 1840 Professor für Astronomie und Mechanik an der Universität Leipzig - verbindet uns heute noch das vertrackte Möbiusband.

Ein Möbiusband - das geheime Sinnbild der Erzählung Muschgs - kann jeder basteln: Man braucht dafür einen langen schmalen Papierstreifen. Den dreht man einmal um 180 Grad. Darauf klebt man die beiden Enden zusammen. Nun fährt man mit dem Finger an dem Band entlang. Und was geschieht? Man gelangt mit dem Finger auf die Rückseite des Punktes, von dem man ausgegangen ist - und zwar, das ist das Erstaunliche, ohne daß dabei der Finger über den Papierstreifenrand gekommen ist. Vorne und hinten, rechts und links spielen im Möbiusband keine Rolle mehr. Wenn man eine Schere nimmt und entlang seiner Mitte den Papierstreifen durchschneidet, dann erhält man nicht zwei voneinander getrennte Streifen, sondern zwei Bänder, die untrennbar miteinander verschlungen sind.

Das Leben - und insbesondere das Leben, das am Gängelband eines rabiat ausgelegten Christentums geführt wird - gleicht einem Möbiusband: Wer sein Leben lebt, kann sich also nicht an die Seite stellen und so tun, als könne er sich von außen betrachten und beurteilen. Man kann sich von seiner Familie lossagen. Doch man kann sich nicht von ihr losschneiden. Einmal geschlossen, bleiben Beziehungen haften. Finden ein Mann und eine Frau in dem Wahn zusammen, nur der Tod werde sie voneinander scheiden, dann bleiben sie miteinander verbunden, auch wenn sie sich trennen. Das möchte uns der alte Adolf Muschg sagen. Und er sagt es, indem er uns in klugen, knappen, festen Sätzen Opa Josefs Möbiusband-Geschichte erzählt. Wir sehen: Ein Krippenumbau macht aus Muschg noch keinen bekennenden Familienaufsteller.

Adolf Muschg: "Das gefangene Lächeln". Eine Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 156 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Plot geht so: Josef, Architekt und von "rabiatem Christentum", findet nach der Rückkehr von einer langen Reise seine unberührte Verlobte Magda schwanger vor. Er schlägt sie tot, wie er glaubt, und flieht, heiratet eine andere, steinreiche Frau und wird Baulöwe. Vierzig Jahre später erfährt er, dass Magda seine Schläge überlebt hat und soeben erst verstorben ist. Er schreibt Briefe an seinen Enkel, in denen er alles erklärt. Eher unerklärt bleibt, was genau das ganze mit dem in sich verschlungenen Möbiusband zu tun hat, dessen Herstellung der Rezensent Eberhard Rathgeb so ausführlich beschreibt. Es scheint die zentrale Metapher (ja: das "geheime Sinnbild") des Buches und zwar für die Unzertrennlichkeit des auf immer geschlossenen Ehebundes. Wie dem auch sei: der Rezensent findet das Buch "gewitzt" und wie wir uns ein Möbiusband basteln, erfahren wir auch.

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