Nach dem sensationellen Erfolg seines Mafia-Bestsellers "Gomorrha" zeigt Roberto Saviano in erschütternden Reportagen die andere Seite der Medaille: die Welt jener jungen Italiener, die auf der Seite des Gesetzes stehen und doch auch an vorderster Front. Im armen Süden von Italien, wo jungen Männern keine große Wahl bleibt, wenn sie einer legalen Arbeit nachgehen wollen, ist der Dienst bei der Polizei oder beim Militär oft die einzige Chance, der Kriminalität zu entgehen. Savianos namenloser Erzähler berichtet von gleichaltrigen Freunden, die sich zu Kampfeinsätzen gemeldet haben, im Kosovo, in Afghanistan oder in Somalia, und von denen viele nur als Tote zurückgekommen sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2009Neapel trägt Schwarz
Nach „Gomorrha” hat Roberto Saviano jetzt todtraurige Erzählungen aus einem fremden Land geschrieben, das sich im permanenten Kriegszustand befindet
„Das Gegenteil von Tod”, Il contrario della morte: Der Titel des neuen Buchs von Roberto Saviano ist ein Vers aus einer neapolitanischen Kanzone, einer jener ans Herz rührenden Lieder im schmelzend-melancholischen Saudade-Ton, wie er charakteristisch ist für das Lebensgefühl in der Stadt: „Wenn die Liebe das Gegenteil von Tod ist (und das weißt du) / Wenn morgen nur Hoffnung ist (und das weißt du) / Dann lass mich nicht warten bis morgen / nimm mich heute Nacht in die Arme, Carmela, Carmè.”
Um Liebe und Tod geht es, und von Liebe und Tod handelt auch das neue Buch von Roberto Saviano. Vor allem aber handelt es von jener irrationalen Hoffnung auf ein Morgen, von der nicht nur der ungestüme Liebhaber der Kanzone weiß, dass sie trügerisch ist. Morgen: das ist nicht Chance, das ist Illusion.
Eine Witwe mit Barbie-Puppe
Roberto Saviano ist mit seinem 2006 erschienenen Bestseller „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra” berühmt geworden, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Er hat darin die Machenschaften der neapolitanischen Verbrechersyndikate öffentlich gemacht, und er hat gezeigt – und das hat man hierzulande nicht mit der gleichen Anteilnahme gelesen –, dass die Protagonisten des kriminellen Systems als Global Player einer vernetzten kapitalistischen Weltwirtschaft agieren, deren Aktivitäten bis in den Immobilienmarkt von Mecklenburg-Vorpommern reichen.
Es ist schwer, einem politischen Bestseller einen zweiten folgen zu lassen. Es ist doppelt schwer für einen Autor wie Roberto Saviano. Früher ein umtriebiger investigativer Flaneur, der auf seinem Motorino durch die Vorstädte Neapels kurvte, ist er nun gezwungen, im Verborgenen zu leben. Sein neuer Text, die Erzählung „Das Gegenteil von Tod”, spiegelt mit dem Wechsel seiner Lebenssituation auch den Wechsel der Erzählperspektive. Der Erzähler führt uns nicht mehr im großen Radius durch das Hinterland Neapels, über schmutzige Betonpisten, die Drogenmärkte in den heruntergekommenen Neubauvierteln und die trostlosen Landschaften der illegalen Müllhalden. Er führt uns in ein kleines Zimmer. Dort sitzt Maria, eine junge Frau, una ragazza, ein Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt.
Eine Barbie-Puppe gehört in dieses Zimmer, Plüschtiere, Poster. Aber Maria trägt schwarz, Maria ist eine Witwe, eine „Kinderwitwe”. Ihr Verlobter (hier im Süden hat dieses Wort noch Würde) ist in Afghanistan gefallen. In einem Krieg, der nicht mehr Krieg, sondern Mission heißt. Und dessen Sinn eben Hoffnung ist. Hoffnung nicht im Verständnis von Politikern und Strategen, die damit Enduring Freedom meinen, sondern die Hoffnung jener, denen schon ein kleines Stück dieser „andauernden Freiheit” genügen würde, um besser leben zu können. Und die sich deswegen zu den militärischen Auslandseinsätzen ihres Landes melden, weil man dabei viel Geld verdienen kann – Geld, das sonst nur die Camorra verspricht.
Die Geschichte spielt in einem der nördlichen Vororte Neapels: „meine Gegend”, wie der Erzähler sagt. Es könnte Giugliano, Casal di Principe oder Castel Volturno sein, einer der Schauplätze von „Gomorrha”. Dass der Autor den Namen nicht nennt, ist kein Zufall. Nicht um dokumentarischen Enthüllungsjournalismus geht es in seinem neuen Buch, sondern um erzählerische Annäherung an eine soziale Realität, die nach solcher Aufklärung verlangt. Hat Saviano in „Gomorrha” ein System beschrieben, so rückt er jetzt näher an die Menschen heran, die in ihm leben, hört auf ihre Geschichten. Damit schließt er an eine große Tradition der italienischen und speziell der neapolitanischen Nachkriegs-Literatur an: den Neorealismo. In (damals auch ins Deutsche übersetzten) Romanen und Erzählungen wie Carlo Bernaris „Der Vesuv raucht nicht mehr” (1956) oder „Neapel – Stadt ohne Gnade” (1955) von Anna Maria Ortese kam in erzählten Einzelschicksalen aus dem Milieu der armen Leute ein Neapel in den Blick, in dem, wie Anna Maria Ortese einmal schrieb, „das Leben eine Strafe ist”.
Von den jungen italienischen Soldaten, die sich heute zu Einsätzen in Krisengebieten wie Afghanistan oder Irak verpflichten, kommt die Mehrzahl aus dem Süden des Landes. Auch die meisten Gefallenen kommen von dort. Süditalien ist ein Land im permanenten Kriegszustand: So kommentiert der Erzähler Marias Geschichte. Nur im Norden war „der letzte Krieg” der Zweite Weltkrieg; im Süden gibt es viele letzte Kriege, aus jeder Familie kann jemand von einem anderen berichten: Maria, die junge Braut, die schon die Bonbonnieren für die Hochzeit gekauft hatte; Tommaso, der traumatisierte Bosnien-Heimkehrer, der seine Aggressionen am Videopoker in der Bar auslässt; die jungen Männer, die alle ihre Erkennungsmarken um den Hals tragen und sie beim Sex den Mädchen in den Mund baumeln lassen. „Alle meine Freunde haben mir ihre Erkennungsmarke mit den angeblichen Bissspuren ihrer Geliebten gezeigt: So genau ich auch hinschaute, habe ich nie mehr als winzige Kratzer gesehen. Jeder Kratzer stamme – so prahlen sie – vom Eckzahn einer anderen Frau.”
Zum äußeren kommt der innere Krieg, und davon handelt die zweite Geschichte des Bändchens, „Der Ring”. Es ist eine Camorra-Geschichte, nah an den einzelnen Schicksalen auch sie. Einer Journalistin aus dem Norden wird sie erzählt, die sich einbildet, etwas über die Camorra zu wissen, zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheiden zu können. Sie wird belehrt: „Was zählt, ist allein, wo du geboren bist, was in deinem Personalausweis steht.” Die fünf Jugendlichen, die sich an einem bestimmten Abend auf einer bestimmten Piazza herumtreiben, wissen das auch: „Sie werden älter und spüren instinktiv, dass sie schuldig sind, weil sie hier an diesem Ort leben.”
Die blinde Wut
Savianos Erzählungen sind anrührende und todtraurige Geschichten aus einer fremden Welt. Und das Schwarz, das die junge Braut Maria trägt, ist die Grundfarbe dieser Welt. „In meinem Geburtsort trugen alle Freundinnen meiner Tante immer Schwarz, denn es gab immer einen jungen Mann, der umgebracht worden war, einen entfernten Verwandten, der von einem Gerüst gestürzt war . . . Und wenn es keinen Trauerfall gab, trug man trotzdem Schwarz, denn es würde sicher bald wieder einen geben.”
Bei solchem Erzählen geht es ohne den Gestus der blinden Wut oft nicht ab. Und dass in dieser Welt Hoffnung immer nur als gescheiterte erscheint, dass ein Leben im „Hierzulande”, so Saviano kategorisch, immer nur ein Leben als Opfer bedeutet: Das gibt diesen Geschichten zwar ihre sprachliche Kraft, aber der Wirklichkeit, aus der sie stammen, auch den verführerischen, dunklen Glanz des Zeitlos-Archetypischen. Im schwarzen Meridionalismus Savianos muss alles so bleiben, wie es ist. DIETER RICHTER
ROBERTO SAVIANO: Das Gegenteil von Tod. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Carl Hanser Verlag, München 2009. 71 Seiten, 10 Euro.
Roberto Savianos Buch „Das Gegenteil von Tod” spielt in derselben hoffnungslosen Welt wie „Gomorrha”, geht aber näher an die Menschen heran. Foto: AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Nach „Gomorrha” hat Roberto Saviano jetzt todtraurige Erzählungen aus einem fremden Land geschrieben, das sich im permanenten Kriegszustand befindet
„Das Gegenteil von Tod”, Il contrario della morte: Der Titel des neuen Buchs von Roberto Saviano ist ein Vers aus einer neapolitanischen Kanzone, einer jener ans Herz rührenden Lieder im schmelzend-melancholischen Saudade-Ton, wie er charakteristisch ist für das Lebensgefühl in der Stadt: „Wenn die Liebe das Gegenteil von Tod ist (und das weißt du) / Wenn morgen nur Hoffnung ist (und das weißt du) / Dann lass mich nicht warten bis morgen / nimm mich heute Nacht in die Arme, Carmela, Carmè.”
Um Liebe und Tod geht es, und von Liebe und Tod handelt auch das neue Buch von Roberto Saviano. Vor allem aber handelt es von jener irrationalen Hoffnung auf ein Morgen, von der nicht nur der ungestüme Liebhaber der Kanzone weiß, dass sie trügerisch ist. Morgen: das ist nicht Chance, das ist Illusion.
Eine Witwe mit Barbie-Puppe
Roberto Saviano ist mit seinem 2006 erschienenen Bestseller „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra” berühmt geworden, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Er hat darin die Machenschaften der neapolitanischen Verbrechersyndikate öffentlich gemacht, und er hat gezeigt – und das hat man hierzulande nicht mit der gleichen Anteilnahme gelesen –, dass die Protagonisten des kriminellen Systems als Global Player einer vernetzten kapitalistischen Weltwirtschaft agieren, deren Aktivitäten bis in den Immobilienmarkt von Mecklenburg-Vorpommern reichen.
Es ist schwer, einem politischen Bestseller einen zweiten folgen zu lassen. Es ist doppelt schwer für einen Autor wie Roberto Saviano. Früher ein umtriebiger investigativer Flaneur, der auf seinem Motorino durch die Vorstädte Neapels kurvte, ist er nun gezwungen, im Verborgenen zu leben. Sein neuer Text, die Erzählung „Das Gegenteil von Tod”, spiegelt mit dem Wechsel seiner Lebenssituation auch den Wechsel der Erzählperspektive. Der Erzähler führt uns nicht mehr im großen Radius durch das Hinterland Neapels, über schmutzige Betonpisten, die Drogenmärkte in den heruntergekommenen Neubauvierteln und die trostlosen Landschaften der illegalen Müllhalden. Er führt uns in ein kleines Zimmer. Dort sitzt Maria, eine junge Frau, una ragazza, ein Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt.
Eine Barbie-Puppe gehört in dieses Zimmer, Plüschtiere, Poster. Aber Maria trägt schwarz, Maria ist eine Witwe, eine „Kinderwitwe”. Ihr Verlobter (hier im Süden hat dieses Wort noch Würde) ist in Afghanistan gefallen. In einem Krieg, der nicht mehr Krieg, sondern Mission heißt. Und dessen Sinn eben Hoffnung ist. Hoffnung nicht im Verständnis von Politikern und Strategen, die damit Enduring Freedom meinen, sondern die Hoffnung jener, denen schon ein kleines Stück dieser „andauernden Freiheit” genügen würde, um besser leben zu können. Und die sich deswegen zu den militärischen Auslandseinsätzen ihres Landes melden, weil man dabei viel Geld verdienen kann – Geld, das sonst nur die Camorra verspricht.
Die Geschichte spielt in einem der nördlichen Vororte Neapels: „meine Gegend”, wie der Erzähler sagt. Es könnte Giugliano, Casal di Principe oder Castel Volturno sein, einer der Schauplätze von „Gomorrha”. Dass der Autor den Namen nicht nennt, ist kein Zufall. Nicht um dokumentarischen Enthüllungsjournalismus geht es in seinem neuen Buch, sondern um erzählerische Annäherung an eine soziale Realität, die nach solcher Aufklärung verlangt. Hat Saviano in „Gomorrha” ein System beschrieben, so rückt er jetzt näher an die Menschen heran, die in ihm leben, hört auf ihre Geschichten. Damit schließt er an eine große Tradition der italienischen und speziell der neapolitanischen Nachkriegs-Literatur an: den Neorealismo. In (damals auch ins Deutsche übersetzten) Romanen und Erzählungen wie Carlo Bernaris „Der Vesuv raucht nicht mehr” (1956) oder „Neapel – Stadt ohne Gnade” (1955) von Anna Maria Ortese kam in erzählten Einzelschicksalen aus dem Milieu der armen Leute ein Neapel in den Blick, in dem, wie Anna Maria Ortese einmal schrieb, „das Leben eine Strafe ist”.
Von den jungen italienischen Soldaten, die sich heute zu Einsätzen in Krisengebieten wie Afghanistan oder Irak verpflichten, kommt die Mehrzahl aus dem Süden des Landes. Auch die meisten Gefallenen kommen von dort. Süditalien ist ein Land im permanenten Kriegszustand: So kommentiert der Erzähler Marias Geschichte. Nur im Norden war „der letzte Krieg” der Zweite Weltkrieg; im Süden gibt es viele letzte Kriege, aus jeder Familie kann jemand von einem anderen berichten: Maria, die junge Braut, die schon die Bonbonnieren für die Hochzeit gekauft hatte; Tommaso, der traumatisierte Bosnien-Heimkehrer, der seine Aggressionen am Videopoker in der Bar auslässt; die jungen Männer, die alle ihre Erkennungsmarken um den Hals tragen und sie beim Sex den Mädchen in den Mund baumeln lassen. „Alle meine Freunde haben mir ihre Erkennungsmarke mit den angeblichen Bissspuren ihrer Geliebten gezeigt: So genau ich auch hinschaute, habe ich nie mehr als winzige Kratzer gesehen. Jeder Kratzer stamme – so prahlen sie – vom Eckzahn einer anderen Frau.”
Zum äußeren kommt der innere Krieg, und davon handelt die zweite Geschichte des Bändchens, „Der Ring”. Es ist eine Camorra-Geschichte, nah an den einzelnen Schicksalen auch sie. Einer Journalistin aus dem Norden wird sie erzählt, die sich einbildet, etwas über die Camorra zu wissen, zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheiden zu können. Sie wird belehrt: „Was zählt, ist allein, wo du geboren bist, was in deinem Personalausweis steht.” Die fünf Jugendlichen, die sich an einem bestimmten Abend auf einer bestimmten Piazza herumtreiben, wissen das auch: „Sie werden älter und spüren instinktiv, dass sie schuldig sind, weil sie hier an diesem Ort leben.”
Die blinde Wut
Savianos Erzählungen sind anrührende und todtraurige Geschichten aus einer fremden Welt. Und das Schwarz, das die junge Braut Maria trägt, ist die Grundfarbe dieser Welt. „In meinem Geburtsort trugen alle Freundinnen meiner Tante immer Schwarz, denn es gab immer einen jungen Mann, der umgebracht worden war, einen entfernten Verwandten, der von einem Gerüst gestürzt war . . . Und wenn es keinen Trauerfall gab, trug man trotzdem Schwarz, denn es würde sicher bald wieder einen geben.”
Bei solchem Erzählen geht es ohne den Gestus der blinden Wut oft nicht ab. Und dass in dieser Welt Hoffnung immer nur als gescheiterte erscheint, dass ein Leben im „Hierzulande”, so Saviano kategorisch, immer nur ein Leben als Opfer bedeutet: Das gibt diesen Geschichten zwar ihre sprachliche Kraft, aber der Wirklichkeit, aus der sie stammen, auch den verführerischen, dunklen Glanz des Zeitlos-Archetypischen. Im schwarzen Meridionalismus Savianos muss alles so bleiben, wie es ist. DIETER RICHTER
ROBERTO SAVIANO: Das Gegenteil von Tod. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Carl Hanser Verlag, München 2009. 71 Seiten, 10 Euro.
Roberto Savianos Buch „Das Gegenteil von Tod” spielt in derselben hoffnungslosen Welt wie „Gomorrha”, geht aber näher an die Menschen heran. Foto: AFP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2009Notizen aus der Geiselhaft
Nach seinem Bestseller über die Camorra spricht Roberto Saviano auch in diesem neuen Buch Dinge aus, die in Italien fast niemand zu sagen wagt.
Von Andreas Rossmann
Ein Buch wie "Gomorrha" lässt sich nur einmal schreiben. Dafür sorgen schon die Todesdrohungen, denen Roberto Saviano seitdem ausgesetzt ist. Wer unter Personenschutz steht, kann keinen investigativen Journalismus betreiben. Doch die Camorra droht und mordet weiter, ihre Macht wächst, und Saviano, 1979 geboren und im Hinterland von Neapel aufgewachsen, lässt sich nicht einschüchtern. Sein Nachfolgeband, zwei Prosatexte von gerade mal sechzig Seiten, ist keine Fortsetzung, eher ein Seitenstück zu "Gomorrha". Als totalitäres System, das in Abhängigkeiten und Ausweglosigkeiten treibt, als organisiertes Verbrechen, das brutal, feige und geschäftstüchtig seine Interessen durchsetzt, schildert Saviano die kampanische Mafia. Bleibt da überhaupt noch die Möglichkeit eines anderes Lebens, wenn nicht gegen, so doch neben der Camorra? Das ist die Frage, die in "Das Gegenteil von Tod" gestellt wird.
"Wenn von ,Kriegsheimkehrern' oder dem ,letzten Krieg' die Rede ist, dann denkt man überall in Italien an die ergrauten Köpfe ehemaliger Partisanen. Hier dagegen wimmelt es von blutjungen Kriegsheimkehrern", schreibt Saviano. Der Mezzogiorno ist, "seit ,Militär' Arbeit und Lohn bedeutet", zu einem Söldnerreservoir geworden, die meisten Soldaten kommen von dort und mithin auch die Mehrzahl der Gefallenen. Im Süden herrscht eine andere Zeit und eine andere Zeitrechnung: "Der letzte Krieg verdrängt die vorangegangenen." Bis vor ein paar Monaten war es der im Irak, davor der in Bosnien, in Moçambique, im Kosovo, in Somalia, in Libanon. Jetzt ist es der Krieg in Afghanistan, in dem der vierundzwanzig Jahre alte Gaetano von einer Bombe der Taliban verstümmelt wurde und so ganz ähnlich starb wie Salvatore, der als "Begleitschutz" eine jener Schrottkisten fuhr, welche die Carabinieri von den Drogen-Lkws der Clans ablenken sollen. Als er einen Unfall provozierte, kam er von der Straße ab und nicht mehr aus dem explodierenden Wagen. Nur dank der metallenen Erkennungsmarke, die er wie alle im Süden um den Hals trug, konnte er identifiziert werden: "Sie ist das Kennzeichen für Männer, die an unterschiedlichen Fronten umkommen, verbrennen wie Salvatore oder wie Gaetano."
Roberto Saviano erschließt Gaetanos Geschichte über Maria, dessen siebzehnjährige Verlobte, die der namenlose Ich-Erzähler aufsucht. Der Anschlag hat sie zur "Kinderwitwe" gemacht. Wie sie sich "Afghanistan" vorzustellen versucht, wie ihr die schreckliche Wahrheit scheibchenweise eröffnet wird, wie die Fragen, was geschehen ist, sie martern und sie von den Heimkehrern mehr erfahren will, und wie sie, während ihr Bruder ihre Augen zuhält, an den Leichnam tritt: die Anatomie einer Trauer, die Saviano mit den Gesten, Reaktionen und Verständnislosigkeiten, die sie hervorruft, einfühlsam lakonisch in der Mentalität des Südens verortet.
Die Grablichter an den Ecken erinnern an die Opfer der Mafia.
Gegen das herrschende Bewusstsein, "alles so zu nehmen, wie es ist", begehrt Maria auf: "Che l'amore è il contrario della morte" - mit diesem Vers aus Sergio Brunis Canzone "Carmela" ist sie überzeugt, Gaetano festhalten und dem Tod entreißen zu können: "Eine Eurydike im umgekehrten Sinn, die Orpheus nur dann, wenn sie ihn nicht aus den Augen lässt, aus dem Hades führen kann." Der zweite, kürzere Text des Bandes knüpft direkter an "Gomorrha" an. Auch in "Der Ring" erzählt Saviano über eine junge Frau, "das Mädchen aus dem Norden": Mit der Vespa holt sie der namenlose Ich-Erzähler vom Bahnhof seines Heimatorts ab, nervös und voller Scham darüber, wie es hier aussieht. Was es mit den Blumensträußen und Grablichtern, die an vielen Ecken der Mafia-Opfer gedenken, auf sich hat, hätte er ihr gern erklärt, aber er will sie nicht erschrecken, und als sie von weitem Gedenktafeln sieht und fragt, ob es hier Partisanen gegeben habe, lügt er: "Ja, Partisanen". Dabei geht es hier, aber das behält er für sich, um einen "Widerstand, der sich nicht einmal ,gegen' etwas richtet. Es genügt, dass man nicht ,dabei' ist, um zu fallen - wie im Krieg . . ." Der Ich-Erzähler nimmt das Mädchen mit zur Hochzeit eines entfernten Cousins. So penetrant wird es dabei von den Blicken der Männer bedrängt, dass er einen Ring sucht, den ihm schließlich seine Großmutter leiht, um ihn der Begleiterin über den Finger zu streifen: "Sie hatte nichts begriffen. Ich hatte ihr einen Schutzschild angelegt." Jahre später kommt die Besucherin zurück, inzwischen ist sie Journalistin geworden ("oder so etwas Ähnliches") und trägt einen echten Ring. Auf einem Foto von damals, das sie aus der Tasche zieht, deutet sie auf zwei Jungen, Giuseppe und Vincenzo: "Sie wurden umgebracht, weil sie bei der Camorra waren, oder?" Die Frage macht den Ich-Erzähler wütend: "Ich hätte ihr eine kräftige Ohrfeige geben mögen, eine, die etwas zurücklässt, etwas, das aussieht wie ein Sonnenbrand, aber die Wut schnürt mir die Kehle zu." Denn Giuseppe und Vincenzo waren Opfer. Mit drei Bekannten hatten sie abends auf der Piazza gestanden, ein paar Biere gekippt und sich unterhalten. Auch Francesco, der für den Tavoletta-Clan mit Drogen dealte und sich dabei in das Terrain einer rivalisierenden Bande wagte, war dabei, als drei Typen um die Gruppe herumzuschleichen begannen.
Dies ist eine Parabel über den Riss, der Italien entzweit.
Francesco machte sich davon, auch die anderen suchten das Weite, das Trio, zugeknallt mit Koks, nahm die Verfolgung auf und richtete, um nicht mit leeren Händen zurückzukehren, Vincenzo und Giuseppe hin: "Auf einer Piazza gestanden zu haben und aus Angst weggelaufen zu sein, ohne zu wissen, wer einen verfolgt und warum. Das war Vincenzos und Giuseppes größte Schuld. Ermordet. Unschuldig." Was der Ich-Erzähler dem Mädchen nicht erzählt, erzählt Saviano dem Leser. Dessen Gefühl, dass jemand aus dem Norden das, was im Süden geschieht, nicht verstehen kann oder will, teilt er nicht, aber er thematisiert es. Die Differenz ist bezeichnend und macht das Buch zu einer Parabel über den Riss, der Italien entzweit. Denn Saviano spricht an, wie das, was der Norden für den vermeintlich rückständigen Süden an Vorurteilen und verächtlichen Witzen übrig hat, von der anderen Seite erfahren wird: Größer noch als Schuld und Scham ist das Gefühl, mit Ignoranz und Unverständnis zu tun zu haben.
So zeigen Maria und das Mädchen aus dem Norden auch zwei Gesichter Italiens. Keine Frage, welcher der beiden Frauen Saviano nähersteht. Die eine nennt er mit Namen, die andere nicht: Maria charakterisiert er als leidend, traditionsverhaftet und wenig selbstbestimmt, das Mädchen aus dem Norden typisiert er als eingebildet, unbedarft und leichtfertig. Ohne einander zu treffen, sind sie die Protagonistinnen ein und desselben Buches: einander fremd im eigenen Land.
Das "ewige Runterschlucken", das sich sein Ich-Erzähler angewöhnt hat, ist des Autors Sache nicht, sondern ein Vorwurf an die Öffentlichkeit: Sein Buch ist ebenso grundsätzlich wie nebenbei formuliert auch eine Kritik an den Medien. Roberto Saviano spricht aus, was sich (fast) niemand traut zu sagen. Das macht ihn, da die Gefahr, der er sich damit aussetzt, das ganze Gemeinwesen bedroht, noch aus der Geiselhaft seines Engagements heraus zur derzeit wichtigsten Stimme Italiens.
Roberto Saviano: "Das Gegenteil von Tod". Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Hanser Verlag, München 2009. 71 S., geb., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach seinem Bestseller über die Camorra spricht Roberto Saviano auch in diesem neuen Buch Dinge aus, die in Italien fast niemand zu sagen wagt.
Von Andreas Rossmann
Ein Buch wie "Gomorrha" lässt sich nur einmal schreiben. Dafür sorgen schon die Todesdrohungen, denen Roberto Saviano seitdem ausgesetzt ist. Wer unter Personenschutz steht, kann keinen investigativen Journalismus betreiben. Doch die Camorra droht und mordet weiter, ihre Macht wächst, und Saviano, 1979 geboren und im Hinterland von Neapel aufgewachsen, lässt sich nicht einschüchtern. Sein Nachfolgeband, zwei Prosatexte von gerade mal sechzig Seiten, ist keine Fortsetzung, eher ein Seitenstück zu "Gomorrha". Als totalitäres System, das in Abhängigkeiten und Ausweglosigkeiten treibt, als organisiertes Verbrechen, das brutal, feige und geschäftstüchtig seine Interessen durchsetzt, schildert Saviano die kampanische Mafia. Bleibt da überhaupt noch die Möglichkeit eines anderes Lebens, wenn nicht gegen, so doch neben der Camorra? Das ist die Frage, die in "Das Gegenteil von Tod" gestellt wird.
"Wenn von ,Kriegsheimkehrern' oder dem ,letzten Krieg' die Rede ist, dann denkt man überall in Italien an die ergrauten Köpfe ehemaliger Partisanen. Hier dagegen wimmelt es von blutjungen Kriegsheimkehrern", schreibt Saviano. Der Mezzogiorno ist, "seit ,Militär' Arbeit und Lohn bedeutet", zu einem Söldnerreservoir geworden, die meisten Soldaten kommen von dort und mithin auch die Mehrzahl der Gefallenen. Im Süden herrscht eine andere Zeit und eine andere Zeitrechnung: "Der letzte Krieg verdrängt die vorangegangenen." Bis vor ein paar Monaten war es der im Irak, davor der in Bosnien, in Moçambique, im Kosovo, in Somalia, in Libanon. Jetzt ist es der Krieg in Afghanistan, in dem der vierundzwanzig Jahre alte Gaetano von einer Bombe der Taliban verstümmelt wurde und so ganz ähnlich starb wie Salvatore, der als "Begleitschutz" eine jener Schrottkisten fuhr, welche die Carabinieri von den Drogen-Lkws der Clans ablenken sollen. Als er einen Unfall provozierte, kam er von der Straße ab und nicht mehr aus dem explodierenden Wagen. Nur dank der metallenen Erkennungsmarke, die er wie alle im Süden um den Hals trug, konnte er identifiziert werden: "Sie ist das Kennzeichen für Männer, die an unterschiedlichen Fronten umkommen, verbrennen wie Salvatore oder wie Gaetano."
Roberto Saviano erschließt Gaetanos Geschichte über Maria, dessen siebzehnjährige Verlobte, die der namenlose Ich-Erzähler aufsucht. Der Anschlag hat sie zur "Kinderwitwe" gemacht. Wie sie sich "Afghanistan" vorzustellen versucht, wie ihr die schreckliche Wahrheit scheibchenweise eröffnet wird, wie die Fragen, was geschehen ist, sie martern und sie von den Heimkehrern mehr erfahren will, und wie sie, während ihr Bruder ihre Augen zuhält, an den Leichnam tritt: die Anatomie einer Trauer, die Saviano mit den Gesten, Reaktionen und Verständnislosigkeiten, die sie hervorruft, einfühlsam lakonisch in der Mentalität des Südens verortet.
Die Grablichter an den Ecken erinnern an die Opfer der Mafia.
Gegen das herrschende Bewusstsein, "alles so zu nehmen, wie es ist", begehrt Maria auf: "Che l'amore è il contrario della morte" - mit diesem Vers aus Sergio Brunis Canzone "Carmela" ist sie überzeugt, Gaetano festhalten und dem Tod entreißen zu können: "Eine Eurydike im umgekehrten Sinn, die Orpheus nur dann, wenn sie ihn nicht aus den Augen lässt, aus dem Hades führen kann." Der zweite, kürzere Text des Bandes knüpft direkter an "Gomorrha" an. Auch in "Der Ring" erzählt Saviano über eine junge Frau, "das Mädchen aus dem Norden": Mit der Vespa holt sie der namenlose Ich-Erzähler vom Bahnhof seines Heimatorts ab, nervös und voller Scham darüber, wie es hier aussieht. Was es mit den Blumensträußen und Grablichtern, die an vielen Ecken der Mafia-Opfer gedenken, auf sich hat, hätte er ihr gern erklärt, aber er will sie nicht erschrecken, und als sie von weitem Gedenktafeln sieht und fragt, ob es hier Partisanen gegeben habe, lügt er: "Ja, Partisanen". Dabei geht es hier, aber das behält er für sich, um einen "Widerstand, der sich nicht einmal ,gegen' etwas richtet. Es genügt, dass man nicht ,dabei' ist, um zu fallen - wie im Krieg . . ." Der Ich-Erzähler nimmt das Mädchen mit zur Hochzeit eines entfernten Cousins. So penetrant wird es dabei von den Blicken der Männer bedrängt, dass er einen Ring sucht, den ihm schließlich seine Großmutter leiht, um ihn der Begleiterin über den Finger zu streifen: "Sie hatte nichts begriffen. Ich hatte ihr einen Schutzschild angelegt." Jahre später kommt die Besucherin zurück, inzwischen ist sie Journalistin geworden ("oder so etwas Ähnliches") und trägt einen echten Ring. Auf einem Foto von damals, das sie aus der Tasche zieht, deutet sie auf zwei Jungen, Giuseppe und Vincenzo: "Sie wurden umgebracht, weil sie bei der Camorra waren, oder?" Die Frage macht den Ich-Erzähler wütend: "Ich hätte ihr eine kräftige Ohrfeige geben mögen, eine, die etwas zurücklässt, etwas, das aussieht wie ein Sonnenbrand, aber die Wut schnürt mir die Kehle zu." Denn Giuseppe und Vincenzo waren Opfer. Mit drei Bekannten hatten sie abends auf der Piazza gestanden, ein paar Biere gekippt und sich unterhalten. Auch Francesco, der für den Tavoletta-Clan mit Drogen dealte und sich dabei in das Terrain einer rivalisierenden Bande wagte, war dabei, als drei Typen um die Gruppe herumzuschleichen begannen.
Dies ist eine Parabel über den Riss, der Italien entzweit.
Francesco machte sich davon, auch die anderen suchten das Weite, das Trio, zugeknallt mit Koks, nahm die Verfolgung auf und richtete, um nicht mit leeren Händen zurückzukehren, Vincenzo und Giuseppe hin: "Auf einer Piazza gestanden zu haben und aus Angst weggelaufen zu sein, ohne zu wissen, wer einen verfolgt und warum. Das war Vincenzos und Giuseppes größte Schuld. Ermordet. Unschuldig." Was der Ich-Erzähler dem Mädchen nicht erzählt, erzählt Saviano dem Leser. Dessen Gefühl, dass jemand aus dem Norden das, was im Süden geschieht, nicht verstehen kann oder will, teilt er nicht, aber er thematisiert es. Die Differenz ist bezeichnend und macht das Buch zu einer Parabel über den Riss, der Italien entzweit. Denn Saviano spricht an, wie das, was der Norden für den vermeintlich rückständigen Süden an Vorurteilen und verächtlichen Witzen übrig hat, von der anderen Seite erfahren wird: Größer noch als Schuld und Scham ist das Gefühl, mit Ignoranz und Unverständnis zu tun zu haben.
So zeigen Maria und das Mädchen aus dem Norden auch zwei Gesichter Italiens. Keine Frage, welcher der beiden Frauen Saviano nähersteht. Die eine nennt er mit Namen, die andere nicht: Maria charakterisiert er als leidend, traditionsverhaftet und wenig selbstbestimmt, das Mädchen aus dem Norden typisiert er als eingebildet, unbedarft und leichtfertig. Ohne einander zu treffen, sind sie die Protagonistinnen ein und desselben Buches: einander fremd im eigenen Land.
Das "ewige Runterschlucken", das sich sein Ich-Erzähler angewöhnt hat, ist des Autors Sache nicht, sondern ein Vorwurf an die Öffentlichkeit: Sein Buch ist ebenso grundsätzlich wie nebenbei formuliert auch eine Kritik an den Medien. Roberto Saviano spricht aus, was sich (fast) niemand traut zu sagen. Das macht ihn, da die Gefahr, der er sich damit aussetzt, das ganze Gemeinwesen bedroht, noch aus der Geiselhaft seines Engagements heraus zur derzeit wichtigsten Stimme Italiens.
Roberto Saviano: "Das Gegenteil von Tod". Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Hanser Verlag, München 2009. 71 S., geb., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Relevanz der Arbeit Roberto Savianos zeigt sich für Andreas Rossmann auch in dessen Buch "Das Gegenteil von Tod". Nach seinem Bestseller "Gomorrha", indem der italienische Journalist sich mit den Machenschaften der Camorra auseinandersetzte, schreibt Saviano nun Prosa, erfährt der Leser der Rezension. Und das, informiert Rossmann, hat nicht zuletzt praktische Gründe, schließlich lasse sich mit Personenschutz schlecht investigativer Journalismus betreiben. Auch diesmal aber ist Süditalien der Schauplatz der Handlung. In lakonischer, aber dennoch "grundsätzlicher" Weise, befindet der Rezensent, erzählt Saviano zwei kurze Geschichten: Die von Maria, deren Verlobter wie zahlreiche andere Italiener aus dem perspektivlosen Süden als Söldner in Afghanistan starb. Und die eines namenlosen "Mädchens aus dem Norden", das einen ebenfalls namenlosen Ich-Erzähler zu einer Hochzeit in einem schäbigen süditalienischen Ort begleitet und Jahre später zurückkehrt. In diesen zwei Frauenfiguren sieht Rossmann den Konflikt zwischen Italiens Norden und Süden manifestiert; und auch einen Vorwurf an die Öffentlichkeit kann der Rezensent ausmachen. Saviano schreibt, was sich sonst kaum einer zu schreiben traut, ist er sich sicher. Das macht ihn für den Rezensenten zur "derzeit wichtigsten Stimme Italiens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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