Der Band vereint zwei Texte, in denen Agamben ein und derselben Frage nachgeht: Welche politische Bedeutung hat das messianische Thema vom Ende der Zeiten? In "Das Geheimnis der Kirche" nähert er sich dem Problem mit einer Rekonstruktion des eschatologischen Kontexts, in dem der Amtsverzicht Benedikts XVI. steht, ohne die Bedeutung dieses unerhörten Schritts für die politische Lage der Gegenwart aus den Augen zu verlieren. Anlässlich der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg (Schweiz) im November 2012 - drei Monate vor der Erklärung des Papstes, sein Amt zum Monatsende aufzugeben - hatte sich Agamben schon einmal mit dem Ende der Zeiten auseinandergesetzt: in einem Vortrag über die dunkelste Stelle des 2. Paulusbriefs an die Thessalonicher. Die überarbeitete Fassung "Mysterium iniquitatis. Geschichte als Geheimnis" bildet den zweiten Teil von Agambens Anlyse christlicher Endzeitpolitik.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2015Legal ist noch nicht legitim
Kleines Buch, große Folgen. Giorgio Agamben entdeckt das Revolutionäre im Rücktritt von Benedikt XVI.
Man kann Giorgio Agambens kleines, gerade erschienenes Buch über Benedikt XVI. als einen verschlungenen, dialektischen Kommentar zu einem berühmten Satz Dostojewskijs lesen. "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt", hatte Dostojewskij geschrieben und damit nicht auf die Taten oder Untaten von Anarchisten oder Antichristen angespielt, sondern auf die Kirche selbst. Denn es ist der von der Kirche autorisierte Großinquisitor, der zu Jesus Christus sagt: "Geh, und kehr nie wieder." Womit die Kirche nicht nur für Iwan Karamasow, der die Legende vom Großinquisitor in Dostojewskijs letztem Roman erzählt, das Versprechen von der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten aufgegeben hat, sondern auch für Agamben.
Mit der Aufgabe der Idee von der Wiederkunft Christi hat die Kirche aber nicht nur ihr eschatologisches Büro, ihr Büro von der Vollendung der Zeiten und dem Anbruch einer neuen Welt geschlossen, sondern auch ihre Seele verkauft. Und die Figur, in der in der katholischen Kirche dieser Tage diese Sachlage bewusst wird, ist Benedikt XVI. "Angesichts einer für die Problematik ihrer Legitimität unempfänglichen Kurie", schreibt Agamben, "die lediglich den Erfordernissen der Wirtschaft und der weltlichen Macht zu genügen versucht, entscheidet sich Benedikt XVI. für die geistliche Macht, der in seinen Augen einzig dadurch Geltung verschafft werden kann, indem er auf das Amt des Stellvertreters Christi verzichtet - und so die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert." Die Kirche ist zu einem Unternehmen geworden, in dem "Stellenwucher und Ämterschacher" grassieren, heißt das, anstatt auf die Verwirklichung einer Idee von Gerechtigkeit und Gleichheit hinzuarbeiten. Und derjenige, der es mit Schrecken bemerkt, ist der amtierende Chef des Unternehmens, der daraufhin seinen Job quittiert und sich in seine geistige Welt zurückzieht. Aber warum nur, kann man jetzt natürlich fragen, erzählt uns Agamben diese verschlungene Geschichte? Warum wählt er dazu das Beispiel eines zurückgetretenen Papstes?
Die Antwort ist so einfach wie auf den ersten Blick abwegig. Der exemplarische Charakter von Benedikts Entscheidung vor fast genau zwei Jahren liegt für Agamben in den Schlussfolgerungen für die Beurteilung der politischen Lage in den heutigen Demokratien. Benedikt habe mit seinem Rücktritt auf die Unterscheidung zweier wesentlicher Prinzipien unserer ethisch-politischen Tradition hingewiesen, derer sich unsere Gesellschaft nicht mehr bewusst zu sein scheint: die zwischen Legitimität und Legalität. Die Krise, in der sich die Gesellschaft befinde, sei deshalb so tiefgreifend, weil sie nicht nur die Legalität der Institutionen infrage stelle, sondern auch ihre Legitimität. Nicht nur, wie es allzu oft heißt, die Regeln und Bedingungen der Machtausübung, sondern das Prinzip, das sie begründe und legitimiere.
Delegitimiert seien die Staatsgewalt und ihre Institutionen nicht, weil sie rechtswidrig handelten; die Illegalität sei vielmehr so selbstverständlich und allgegenwärtig, weil die Herrschenden jegliches Bewusstsein für ihre Legitimität verloren hätten. Deshalb ist es naiv zu glauben, man könne der Krise mit einer Stärkung des Rechtes und der Rechtsorgane begegnen. Auf rein rechtlicher Ebene kann die Krise der Legitimität nicht gelöst werden. Der Versuch, alles gesetzlich zu regeln, lasse den Verlust jeder substantiellen Legitimität nur umso deutlicher hervortreten.
Der Witz an Agambens Gedankengang ist die fast schon zart zu nennende Parallelisierung von Legitimität und Gerechtigkeit, das Nebeneinander der christlichen Idee vom Anbruch einer neuen Zeit mit dem letzten Tag und der Legitimierung der profanen Regierung unserer Tage durch nichts anderes als diese Idee. Nach Agamben hat aber gerade die herrschende Ideologie des Liberalismus durch die Vorstellung einer dauernden Selbstregulierung des Marktes die Idee der Gerechtigkeit abgelöst. Sie hat den Glauben in die Welt gesetzt, eine immer unregierbarere Gesellschaft nach technischen Kriterien regieren zu können. Es besteht für Agamben aber kein Zweifel, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn die Gerechtigkeit, der in der Kirche die Eschatologie, die Vollendung am Ende der Zeiten, entspricht, keine dem Recht und der Ökonomie gegenüber wirkungslose Idee bleibt. Gerechtigkeit ist immer eine dem bloßen Recht und der Ökonomie widerstreitende Kraft, die sich politisch Ausdruck verschaffen muss.
Dabei bleiben allerdings Recht und Gerechtigkeit, Legalität und Legitimität genauso aufeinander bezogen wie geistliche und weltliche Macht in der Kirche. Nur wenn die Idee vom Ende der Zeiten und dem Anbruch der neuen Welt ständig verknüpft ist mit dem täglichen profanen Kampf um Brot, Arbeit und pünktliche Verkehrsmittel, gibt es überhaupt Politik. Oder auf die Kirche übertragen: Nur wenn die unversöhnlichen, aber dennoch aufeinander bezogenen Elemente der Oikonomia, das Heilswirken Gottes in der Welt und der Zeit, und der Eschatologie, das Ende der Welt und der Zeit, miteinander auftreten, gibt es überhaupt das Christentum, aus dem die europäische Kultur hervorgetreten ist.
Benedikt XVI. hat gerade mit seinem Rücktritt darauf hingewiesen, dass es in der aktuellen Kirche nur noch die Oikonomia gibt. Wobei die tägliche Wirtschaft mit dem Heil, ganz gegen ihre ursprüngliche Intention, zu einer im Sinne Dostojewskijs gottlosen, um nicht zu sagen: gottverlassenen Angelegenheit geworden ist, die ihre Entsprechung im säkularen Ökonomismus der heutigen Demokratien findet. Merkwürdig bleibt beim Lesen dieser trostlosen Diagnose nur, wie rasch sie vergeht und man gute Laune bekommt. Denn so leicht sich der Text liest, so sehr ist er mit Referenzen aufgeladen, welche die Geschichte von Kirche, Staat und Ökonomie seit Paulus in einen Rahmen spannen, der einem auch jeden Moment um die Ohren fliegen kann.
Wenn Agamben etwa schreibt, dass die Staaten derzeit ganz unverhohlen wie Gesetzlose handelten und sich auf diese Weise Staatsgewalt und Terrorismus zu einem System zusammengeschlossen hätten, ist das ja weder leicht noch lustig. Trotzdem erstarrt man im Moment des Lesens nicht, was entscheidend damit zusammenhängt, dass Agamben den Begriff des Gesetzlosen vorher in seiner ganzen theologischen Breite, von Paulus bis zu Benedikt, ausgebreitet hat. Wodurch der Begriff selbst eine Doppeldeutigkeit gewinnt, die es nicht immer möglich macht zu bestimmen, ob es sich nun um eine Gesetzlosigkeit von "unten", von den von Geschichte und Ökonomie Beherrschten, oder von "oben" handelt, von Staat und Kirche. Und das lässt einen dann gelassen Abstand vom täglichen Urteilen nehmen, um sich die Sache noch mal genauer anzusehen.
CORD RIECHELMANN
Giorgio Agamben: "Das Geheimnis des Bösen - Benedikt XVI. und das Ende der Zeiten". Deutsch von Andreas Hiepko. Matthes & Seitz, 80 Seiten, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kleines Buch, große Folgen. Giorgio Agamben entdeckt das Revolutionäre im Rücktritt von Benedikt XVI.
Man kann Giorgio Agambens kleines, gerade erschienenes Buch über Benedikt XVI. als einen verschlungenen, dialektischen Kommentar zu einem berühmten Satz Dostojewskijs lesen. "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt", hatte Dostojewskij geschrieben und damit nicht auf die Taten oder Untaten von Anarchisten oder Antichristen angespielt, sondern auf die Kirche selbst. Denn es ist der von der Kirche autorisierte Großinquisitor, der zu Jesus Christus sagt: "Geh, und kehr nie wieder." Womit die Kirche nicht nur für Iwan Karamasow, der die Legende vom Großinquisitor in Dostojewskijs letztem Roman erzählt, das Versprechen von der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten aufgegeben hat, sondern auch für Agamben.
Mit der Aufgabe der Idee von der Wiederkunft Christi hat die Kirche aber nicht nur ihr eschatologisches Büro, ihr Büro von der Vollendung der Zeiten und dem Anbruch einer neuen Welt geschlossen, sondern auch ihre Seele verkauft. Und die Figur, in der in der katholischen Kirche dieser Tage diese Sachlage bewusst wird, ist Benedikt XVI. "Angesichts einer für die Problematik ihrer Legitimität unempfänglichen Kurie", schreibt Agamben, "die lediglich den Erfordernissen der Wirtschaft und der weltlichen Macht zu genügen versucht, entscheidet sich Benedikt XVI. für die geistliche Macht, der in seinen Augen einzig dadurch Geltung verschafft werden kann, indem er auf das Amt des Stellvertreters Christi verzichtet - und so die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert." Die Kirche ist zu einem Unternehmen geworden, in dem "Stellenwucher und Ämterschacher" grassieren, heißt das, anstatt auf die Verwirklichung einer Idee von Gerechtigkeit und Gleichheit hinzuarbeiten. Und derjenige, der es mit Schrecken bemerkt, ist der amtierende Chef des Unternehmens, der daraufhin seinen Job quittiert und sich in seine geistige Welt zurückzieht. Aber warum nur, kann man jetzt natürlich fragen, erzählt uns Agamben diese verschlungene Geschichte? Warum wählt er dazu das Beispiel eines zurückgetretenen Papstes?
Die Antwort ist so einfach wie auf den ersten Blick abwegig. Der exemplarische Charakter von Benedikts Entscheidung vor fast genau zwei Jahren liegt für Agamben in den Schlussfolgerungen für die Beurteilung der politischen Lage in den heutigen Demokratien. Benedikt habe mit seinem Rücktritt auf die Unterscheidung zweier wesentlicher Prinzipien unserer ethisch-politischen Tradition hingewiesen, derer sich unsere Gesellschaft nicht mehr bewusst zu sein scheint: die zwischen Legitimität und Legalität. Die Krise, in der sich die Gesellschaft befinde, sei deshalb so tiefgreifend, weil sie nicht nur die Legalität der Institutionen infrage stelle, sondern auch ihre Legitimität. Nicht nur, wie es allzu oft heißt, die Regeln und Bedingungen der Machtausübung, sondern das Prinzip, das sie begründe und legitimiere.
Delegitimiert seien die Staatsgewalt und ihre Institutionen nicht, weil sie rechtswidrig handelten; die Illegalität sei vielmehr so selbstverständlich und allgegenwärtig, weil die Herrschenden jegliches Bewusstsein für ihre Legitimität verloren hätten. Deshalb ist es naiv zu glauben, man könne der Krise mit einer Stärkung des Rechtes und der Rechtsorgane begegnen. Auf rein rechtlicher Ebene kann die Krise der Legitimität nicht gelöst werden. Der Versuch, alles gesetzlich zu regeln, lasse den Verlust jeder substantiellen Legitimität nur umso deutlicher hervortreten.
Der Witz an Agambens Gedankengang ist die fast schon zart zu nennende Parallelisierung von Legitimität und Gerechtigkeit, das Nebeneinander der christlichen Idee vom Anbruch einer neuen Zeit mit dem letzten Tag und der Legitimierung der profanen Regierung unserer Tage durch nichts anderes als diese Idee. Nach Agamben hat aber gerade die herrschende Ideologie des Liberalismus durch die Vorstellung einer dauernden Selbstregulierung des Marktes die Idee der Gerechtigkeit abgelöst. Sie hat den Glauben in die Welt gesetzt, eine immer unregierbarere Gesellschaft nach technischen Kriterien regieren zu können. Es besteht für Agamben aber kein Zweifel, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn die Gerechtigkeit, der in der Kirche die Eschatologie, die Vollendung am Ende der Zeiten, entspricht, keine dem Recht und der Ökonomie gegenüber wirkungslose Idee bleibt. Gerechtigkeit ist immer eine dem bloßen Recht und der Ökonomie widerstreitende Kraft, die sich politisch Ausdruck verschaffen muss.
Dabei bleiben allerdings Recht und Gerechtigkeit, Legalität und Legitimität genauso aufeinander bezogen wie geistliche und weltliche Macht in der Kirche. Nur wenn die Idee vom Ende der Zeiten und dem Anbruch der neuen Welt ständig verknüpft ist mit dem täglichen profanen Kampf um Brot, Arbeit und pünktliche Verkehrsmittel, gibt es überhaupt Politik. Oder auf die Kirche übertragen: Nur wenn die unversöhnlichen, aber dennoch aufeinander bezogenen Elemente der Oikonomia, das Heilswirken Gottes in der Welt und der Zeit, und der Eschatologie, das Ende der Welt und der Zeit, miteinander auftreten, gibt es überhaupt das Christentum, aus dem die europäische Kultur hervorgetreten ist.
Benedikt XVI. hat gerade mit seinem Rücktritt darauf hingewiesen, dass es in der aktuellen Kirche nur noch die Oikonomia gibt. Wobei die tägliche Wirtschaft mit dem Heil, ganz gegen ihre ursprüngliche Intention, zu einer im Sinne Dostojewskijs gottlosen, um nicht zu sagen: gottverlassenen Angelegenheit geworden ist, die ihre Entsprechung im säkularen Ökonomismus der heutigen Demokratien findet. Merkwürdig bleibt beim Lesen dieser trostlosen Diagnose nur, wie rasch sie vergeht und man gute Laune bekommt. Denn so leicht sich der Text liest, so sehr ist er mit Referenzen aufgeladen, welche die Geschichte von Kirche, Staat und Ökonomie seit Paulus in einen Rahmen spannen, der einem auch jeden Moment um die Ohren fliegen kann.
Wenn Agamben etwa schreibt, dass die Staaten derzeit ganz unverhohlen wie Gesetzlose handelten und sich auf diese Weise Staatsgewalt und Terrorismus zu einem System zusammengeschlossen hätten, ist das ja weder leicht noch lustig. Trotzdem erstarrt man im Moment des Lesens nicht, was entscheidend damit zusammenhängt, dass Agamben den Begriff des Gesetzlosen vorher in seiner ganzen theologischen Breite, von Paulus bis zu Benedikt, ausgebreitet hat. Wodurch der Begriff selbst eine Doppeldeutigkeit gewinnt, die es nicht immer möglich macht zu bestimmen, ob es sich nun um eine Gesetzlosigkeit von "unten", von den von Geschichte und Ökonomie Beherrschten, oder von "oben" handelt, von Staat und Kirche. Und das lässt einen dann gelassen Abstand vom täglichen Urteilen nehmen, um sich die Sache noch mal genauer anzusehen.
CORD RIECHELMANN
Giorgio Agamben: "Das Geheimnis des Bösen - Benedikt XVI. und das Ende der Zeiten". Deutsch von Andreas Hiepko. Matthes & Seitz, 80 Seiten, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Giorgio Agamben sieht in seinem neuen Buch "Das Geheimnis des Bösen" das Abdanken des Papstes Benedikt XVI. als politische Stellungnahme wider die "Ökonomisierung der Kirche" und vergleicht den Verlust metaphysischer Tiefe im praktizierten Katholizismus mit jenem der modernen Gesellschaften, deren Legitimation nur mehr "das dürre Gerippe reiner Legalität" sei, fasst Thomas Assheuer zusammen. Der Rezensent will aber weder Benedikt als den Verfechter transzendenter Gerechtigkeit noch die Kirche als "Miniaturversion der liberalen Demokratie" anerkennen, was von Agambens Argumentation nur den hochtrabenden Ton übrig lasse, der Assheuer nicht behagt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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