"Ich bins" antwortet der Hörer in einem Choral auf die Frage Jesu, wer ihn verraten werde. Damit verlässt Bach den historischen Boden und versetzt das ganze Geschehen in die Gegenwart des Hörers. Denn natürlich gilt dies Ich bins nicht nur für den Judas in mir, sondern für alle Protagonisten der Passion, deren Charakteristika allesamt als Anteile auch in mir sind. Damit ähnelt die Passion dem Psychodrama oder der daraus abgeleiteten systemischen Familienaufstellung, in der alle Teilnehmer unterschiedliche Personen spielen, die an einem Kon-flikt beteiligt sind. Ohne es zu wollen, schlüpfen sie schnell und tief in die angenommene Person und bringen nun Verständnis für deren Gedanken und Motive auf, sodass aus "Spiel" ernste Betroffenheit wird. Wie die Teilnehmer an einem Psychodrama stecken auch die Personen der Passion alle in einem Konflikt, der mit Sicherheit auch uns eines Tages übermannt. Denn es sind Grundkonflikte, die jeden Menschen unweigerlich ereilen. So wird das Hören der Passion - meist ohne dass der Hörer es bewusst erleben und benennen kann - zu einem Akt psychischer Katharsis.Günter Jena hat die Passion sehr oft dirigiert, auch als Ballett in der Choreographie von John Neumeier (die in enger Zusammenarbeit mit ihm entstanden ist). Seine in Jahrzehnten erworbenen Gedanken und Erfahrungen legt er in diesem Buch nieder. Es zu lesen ist für Musikfreunde, aber auch für jeden, der sich mit den Grundkonflikten seines Lebens auseinandersetzen will, ein hoher Gewinn.
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