Stimmen zur 1. Auflage:
"... ein fundamentaler phänomenologisch-philosophischer Gegenentwurf einer Ökologie des Gehirns, die das Gehirn wieder in den Körper und den Körper wieder in die Umwelt verlegt. ... Der ganze Blick von Fuchs macht dieses Buch herausragend." (Nervenheilkunde)
"Eine Antwort ganz im Sinne des großen Projekts der Aufklärung. ... ein potenzielles Standardwerk, eine gleichermaßen aufgeklärte wie aufklärende ,Kritik der neuronalen Vernunft?." (Psychopraxis)
"Das Buch fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite, und das nicht nur, weil der Inhalt hochaktuell ist, sondern auch, weil der Autor es versteht, seine Gedanken so klar vorzutragen, dass man als Leser am Denkprozess teilnehmen und also eine eigene Denkerfahrung machen kann." (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie)
"... ein fundamentaler phänomenologisch-philosophischer Gegenentwurf einer Ökologie des Gehirns, die das Gehirn wieder in den Körper und den Körper wieder in die Umwelt verlegt. ... Der ganze Blick von Fuchs macht dieses Buch herausragend." (Nervenheilkunde)
"Eine Antwort ganz im Sinne des großen Projekts der Aufklärung. ... ein potenzielles Standardwerk, eine gleichermaßen aufgeklärte wie aufklärende ,Kritik der neuronalen Vernunft?." (Psychopraxis)
"Das Buch fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite, und das nicht nur, weil der Inhalt hochaktuell ist, sondern auch, weil der Autor es versteht, seine Gedanken so klar vorzutragen, dass man als Leser am Denkprozess teilnehmen und also eine eigene Denkerfahrung machen kann." (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2009Das Leben als Leibesübung
Nicht das Gehirn denkt und fühlt, sondern der ganze Mensch mit Muskeln, Nerven und Eingeweiden: Thomas Fuchs schreibt eine Kritik der neuronalen Vernunft.
Die neurowissenschaftliche Reduktion der menschlichen Subjektivität auf messbare und mit Hilfe der modernen bildgebenden Verfahren darstellbare Gehirnvorgänge verdankt ihre Überzeugungskraft einer mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit präsentierten, in Wahrheit aber höchst voraussetzungsreichen Unterstellung. Zum Credo der meisten Vertreter reduktionistisch-naturalistischer Positionen gehört die Überzeugung, dass auf die Frage nach der Urheberschaft menschlicher Handlungen nur zwei Antworten in Betracht kämen. Entweder man operiere mit der Annahme eines von seinem Leib, seinen Gefühlen und seinem Lebensvollzug abgekoppelten, cartesianischen Ich, das in unumschränkter Souveränität eine Entscheidung treffe und dem Körper deren Ausführung aufoktroyiere.
Ein solches ortlos-immaterielles Ego, von dem zudem ganz unklar ist, wie es auf die materielle Welt soll einwirken können, lässt sich freilich leicht als metaphysische Chimäre abtun. Dann aber, so fahren die Verfechter der Naturalisierungsstrategie fort, verbleibe nur die Möglichkeit, das Gehirn selbst als Urheber von Handlungen anzusehen.
In der vermeintlichen Zwangsläufigkeit dieses Entweder-oder liegt indessen das zentrale philosophische Problem. Wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs in einer fesselnden Studie nachweist, liegt der heutigen neurowissenschaftlichen Standardtheorie eine "dualistische Aufteilung der Welt in eine körper- und weltlose Subjektivität einerseits und eine physikalistisch reduzierte, materielle Welt andererseits" zugrunde, die Descartes' berühmt-berüchtigter Dualität von res cogitans und res extensa um nichts nachsteht. Die Neurowissenschaftler reklamieren für das Gehirn eben jene weltschöpferische Funktion, welche im subjektiven Idealismus dem Ich vorbehalten war. "Im Innenraum des Bewusstseins empfängt das Subjekt, der einsame Gefangene seines eigenen Palastes, die Bilder von der unerreichbaren Außenwelt. Nur sind diese Bilder nicht mehr Konstrukte der kantischen Verstandesvermögen, sondern der zugrundeliegenden Hirnprozesse." Hegel hat das Subjektdenken eines Descartes oder Kant zwar als einseitig getadelt, es aber zugleich als den unhintergehbaren Ausgangspunkt des neuzeitlichen Philosophierens anerkannt. Die Metaphysik der vermeintlich metaphysikfreien Neurowissenschaftler dagegen ist, wie Fuchs zeigt, schlicht ein "begrifflicher Unsinn".
Das Gehirn vermag weder Entscheidungen zu treffen noch Handlungen vorzunehmen, denn Begriffe wie Überlegen, Fühlen, Wollen und Entscheiden sind auf die Ebene physiologischer Beschreibungen von vornherein nicht anwendbar. Den neuronalen Prozessen im Gehirn kommt ebenso wenig Intentionalität zu wie dem Übergang von einem elektrischen Zustand zum anderen in einem Computer. "Sätze in Büchern repräsentieren für uns Sachverhalte; Bilder in Fotoalben repräsentieren für uns Erinnerungen. Doch im Gehirn gibt es keinen Homunculus, der in der Lage wäre, neuronale Aktivitätsmuster als Repräsentationen aufzufassen, als Abbilder zu sehen oder als Erinnerungsspuren zu lesen."
Selbstverständlich ist der Vollzug intentionaler Akte an bestimmte organische Strukturen eines Lebewesens, zumal an dessen Gehirntätigkeit, gebunden. Der Gehalt dieser Akte geht jedoch in keiner physikalischen oder physiologischen Beschreibung auf. "Nicht Neuronenverbände, nicht Gehirne, sondern nur Personen fühlen, denken, nehmen wahr und handeln." Der verbreiteten Rede von einem denkenden, entscheidenden und handelnden Gehirn liegt insofern ein Kategorienfehler zugrunde, den Fuchs im Anschluss an die grundlegende Untersuchung Benetts und Hackers als "mereologischen Fehlschluss" bezeichnet. "Einem Teil des Organismus, dem Gehirn, werden psychologische und personale Tätigkeiten zugeschrieben, die nur dem Menschen als ganzem zukommen." Welche Rolle aber verbleibt dem Gehirn, wenn diejenige eines souverän-überlegenen Weltschöpfers ihm zu groß ist? Fuchs entwickelt seine Antwort aus einem Befund, der ebenso schlicht wie weitreichend ist. Er erinnert daran, dass das Gehirn, "verborgen in der Höhlung des Schädels, in Flüssigkeit schwimmend, unwahrnehmbar und sogar schmerzunempfindlich", für sich genommen nur ein totes Organ wäre. Lebendig werde das Gehirn erst als Organ einer lebendigen Person, "in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen". Das Leben ist eine Leibesübung. Alle seine Funktionen setzten die Einheit des Menschen als Lebewesen voraus und seien nur von ihr her zu verstehen. Lebewesen aber seien dadurch gekennzeichnet, dass sie sich von ihrer Umgebung ebenso absetzten wie sie zu ihr in Wechselbeziehung ständen. Aufgrund der ihnen eigentümlichen Diskontinuität von innen und außen würden Lebewesen nicht von physikalischen Einwirkungen aus der Umgebung determiniert. Vielmehr antworteten sie auf wahrgenommene Reize durch eine "Rekonfiguration des Gesamtsystems von Organismus und Umwelt". Diese Rekonfiguration vorzunehmen sei die Aufgabe des Gehirns. "Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft."
Der Mensch bedarf freilich nicht nur des Austauschs mit seiner natürlichen Umwelt, sondern vor allem der Interaktion mit anderen Menschen. Nur weil der Mensch lernen, sich die Überlieferungen seiner kulturellen Umgebung aneignen kann, muss die Interaktion von Geist und Natur nicht mit jedem Menschen von neuem beginnen. Diese Aneignungstätigkeit ermöglicht ihm das Gehirn kraft seiner einzigartigen Plastizität. Wenn beispielsweise ein Kind in der Interaktion mit anderen deren Sprache erlernt, werden seinem Gehirn Korrelate der Wortbedeutungen als neuronale Muster funktionell und morphologisch eingeschrieben.
Diese neuronalen Muster unterliegen zwar dem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang, zugleich aber, wie Fuchs ausführt, "einer übergeordneten Bestimmung durch nichtphysikalische Funktions- und Bedeutungszusammenhänge, insbesondere durch die individuelle Lerngeschichte des Lebewesens, die sich in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Vermögen niedergeschlagen hat". In seiner Rolle als "Organ des Geistes" erweist sich das Gehirn deshalb nicht etwa als ein Käfig, sondern als ein Organ der Möglichkeiten. "Nicht der Geist muss tun, was die Neuronen ihm vorschreiben, sondern die Neuronen ermöglichen alles, was sich im Geist entfaltet."
Die Funktionsanalyse des Gehirns, die Fuchs entwirft, unterscheidet sich diametral von dem Bild, das die Protagonisten eines reduktionistischen Naturalismus von ihm zeichnen. Nicht nur entpuppt sich das Gehirn bei Fuchs als ein sozial, kulturell und geschichtlich geprägtes Organ. Vor allem erweist es sich als "das Organ der Freiheit". "Denn gerade das Gehirn ist das Organ, dessen zunehmende Komplexität im Verlauf der Evolution den starren Reiz-Reaktions-Mechanismus gelockert und so den Organismen bis hin zum Menschen immer mehr Freiheitsgrade ermöglicht hat." Deshalb können wir die Verantwortung für unser Tun nicht auf das Spiel der Neuronen in unseren Hirnen abwälzen. Es liegt an uns, die Fähigkeiten des Denkens, Bewertens, Entscheidens zu erlernen und dabei die neuronalen Muster zu bilden, die uns dann zu freiem Handeln befähigen.
In einem bislang unbekannten Ausmaß macht Fuchs alteuropäisches Gedankengut für die vermeintlich ultramoderne Hirnforschungsdebatte fruchtbar. Ob in seiner These vom "Primat der Funktion bzw. des Ganzen gegenüber den Teilen" oder in seiner Kennzeichnung der Handlungsfreiheit als Ergebnis einer "Selbstkultivierung", durchgängig schimmert in Fuchs' Ausführungen ein aristotelisch geprägter Denkstil durch, der zumal von Wissenschaftstheoretikern über geraume Zeit bespöttelt und vernachlässigt worden ist. Nun sind es die damaligen Besserwisser, die blamiert dastehen. Denn Fuchs hat das befreiende Wort gesprochen, auf das die neurowissenschaftliche Debatte hierzulande lange hat warten müssen.
MICHAEL PAWLIK
Thomas Fuchs: "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan". Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2008. 324 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht das Gehirn denkt und fühlt, sondern der ganze Mensch mit Muskeln, Nerven und Eingeweiden: Thomas Fuchs schreibt eine Kritik der neuronalen Vernunft.
Die neurowissenschaftliche Reduktion der menschlichen Subjektivität auf messbare und mit Hilfe der modernen bildgebenden Verfahren darstellbare Gehirnvorgänge verdankt ihre Überzeugungskraft einer mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit präsentierten, in Wahrheit aber höchst voraussetzungsreichen Unterstellung. Zum Credo der meisten Vertreter reduktionistisch-naturalistischer Positionen gehört die Überzeugung, dass auf die Frage nach der Urheberschaft menschlicher Handlungen nur zwei Antworten in Betracht kämen. Entweder man operiere mit der Annahme eines von seinem Leib, seinen Gefühlen und seinem Lebensvollzug abgekoppelten, cartesianischen Ich, das in unumschränkter Souveränität eine Entscheidung treffe und dem Körper deren Ausführung aufoktroyiere.
Ein solches ortlos-immaterielles Ego, von dem zudem ganz unklar ist, wie es auf die materielle Welt soll einwirken können, lässt sich freilich leicht als metaphysische Chimäre abtun. Dann aber, so fahren die Verfechter der Naturalisierungsstrategie fort, verbleibe nur die Möglichkeit, das Gehirn selbst als Urheber von Handlungen anzusehen.
In der vermeintlichen Zwangsläufigkeit dieses Entweder-oder liegt indessen das zentrale philosophische Problem. Wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs in einer fesselnden Studie nachweist, liegt der heutigen neurowissenschaftlichen Standardtheorie eine "dualistische Aufteilung der Welt in eine körper- und weltlose Subjektivität einerseits und eine physikalistisch reduzierte, materielle Welt andererseits" zugrunde, die Descartes' berühmt-berüchtigter Dualität von res cogitans und res extensa um nichts nachsteht. Die Neurowissenschaftler reklamieren für das Gehirn eben jene weltschöpferische Funktion, welche im subjektiven Idealismus dem Ich vorbehalten war. "Im Innenraum des Bewusstseins empfängt das Subjekt, der einsame Gefangene seines eigenen Palastes, die Bilder von der unerreichbaren Außenwelt. Nur sind diese Bilder nicht mehr Konstrukte der kantischen Verstandesvermögen, sondern der zugrundeliegenden Hirnprozesse." Hegel hat das Subjektdenken eines Descartes oder Kant zwar als einseitig getadelt, es aber zugleich als den unhintergehbaren Ausgangspunkt des neuzeitlichen Philosophierens anerkannt. Die Metaphysik der vermeintlich metaphysikfreien Neurowissenschaftler dagegen ist, wie Fuchs zeigt, schlicht ein "begrifflicher Unsinn".
Das Gehirn vermag weder Entscheidungen zu treffen noch Handlungen vorzunehmen, denn Begriffe wie Überlegen, Fühlen, Wollen und Entscheiden sind auf die Ebene physiologischer Beschreibungen von vornherein nicht anwendbar. Den neuronalen Prozessen im Gehirn kommt ebenso wenig Intentionalität zu wie dem Übergang von einem elektrischen Zustand zum anderen in einem Computer. "Sätze in Büchern repräsentieren für uns Sachverhalte; Bilder in Fotoalben repräsentieren für uns Erinnerungen. Doch im Gehirn gibt es keinen Homunculus, der in der Lage wäre, neuronale Aktivitätsmuster als Repräsentationen aufzufassen, als Abbilder zu sehen oder als Erinnerungsspuren zu lesen."
Selbstverständlich ist der Vollzug intentionaler Akte an bestimmte organische Strukturen eines Lebewesens, zumal an dessen Gehirntätigkeit, gebunden. Der Gehalt dieser Akte geht jedoch in keiner physikalischen oder physiologischen Beschreibung auf. "Nicht Neuronenverbände, nicht Gehirne, sondern nur Personen fühlen, denken, nehmen wahr und handeln." Der verbreiteten Rede von einem denkenden, entscheidenden und handelnden Gehirn liegt insofern ein Kategorienfehler zugrunde, den Fuchs im Anschluss an die grundlegende Untersuchung Benetts und Hackers als "mereologischen Fehlschluss" bezeichnet. "Einem Teil des Organismus, dem Gehirn, werden psychologische und personale Tätigkeiten zugeschrieben, die nur dem Menschen als ganzem zukommen." Welche Rolle aber verbleibt dem Gehirn, wenn diejenige eines souverän-überlegenen Weltschöpfers ihm zu groß ist? Fuchs entwickelt seine Antwort aus einem Befund, der ebenso schlicht wie weitreichend ist. Er erinnert daran, dass das Gehirn, "verborgen in der Höhlung des Schädels, in Flüssigkeit schwimmend, unwahrnehmbar und sogar schmerzunempfindlich", für sich genommen nur ein totes Organ wäre. Lebendig werde das Gehirn erst als Organ einer lebendigen Person, "in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen". Das Leben ist eine Leibesübung. Alle seine Funktionen setzten die Einheit des Menschen als Lebewesen voraus und seien nur von ihr her zu verstehen. Lebewesen aber seien dadurch gekennzeichnet, dass sie sich von ihrer Umgebung ebenso absetzten wie sie zu ihr in Wechselbeziehung ständen. Aufgrund der ihnen eigentümlichen Diskontinuität von innen und außen würden Lebewesen nicht von physikalischen Einwirkungen aus der Umgebung determiniert. Vielmehr antworteten sie auf wahrgenommene Reize durch eine "Rekonfiguration des Gesamtsystems von Organismus und Umwelt". Diese Rekonfiguration vorzunehmen sei die Aufgabe des Gehirns. "Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft."
Der Mensch bedarf freilich nicht nur des Austauschs mit seiner natürlichen Umwelt, sondern vor allem der Interaktion mit anderen Menschen. Nur weil der Mensch lernen, sich die Überlieferungen seiner kulturellen Umgebung aneignen kann, muss die Interaktion von Geist und Natur nicht mit jedem Menschen von neuem beginnen. Diese Aneignungstätigkeit ermöglicht ihm das Gehirn kraft seiner einzigartigen Plastizität. Wenn beispielsweise ein Kind in der Interaktion mit anderen deren Sprache erlernt, werden seinem Gehirn Korrelate der Wortbedeutungen als neuronale Muster funktionell und morphologisch eingeschrieben.
Diese neuronalen Muster unterliegen zwar dem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang, zugleich aber, wie Fuchs ausführt, "einer übergeordneten Bestimmung durch nichtphysikalische Funktions- und Bedeutungszusammenhänge, insbesondere durch die individuelle Lerngeschichte des Lebewesens, die sich in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Vermögen niedergeschlagen hat". In seiner Rolle als "Organ des Geistes" erweist sich das Gehirn deshalb nicht etwa als ein Käfig, sondern als ein Organ der Möglichkeiten. "Nicht der Geist muss tun, was die Neuronen ihm vorschreiben, sondern die Neuronen ermöglichen alles, was sich im Geist entfaltet."
Die Funktionsanalyse des Gehirns, die Fuchs entwirft, unterscheidet sich diametral von dem Bild, das die Protagonisten eines reduktionistischen Naturalismus von ihm zeichnen. Nicht nur entpuppt sich das Gehirn bei Fuchs als ein sozial, kulturell und geschichtlich geprägtes Organ. Vor allem erweist es sich als "das Organ der Freiheit". "Denn gerade das Gehirn ist das Organ, dessen zunehmende Komplexität im Verlauf der Evolution den starren Reiz-Reaktions-Mechanismus gelockert und so den Organismen bis hin zum Menschen immer mehr Freiheitsgrade ermöglicht hat." Deshalb können wir die Verantwortung für unser Tun nicht auf das Spiel der Neuronen in unseren Hirnen abwälzen. Es liegt an uns, die Fähigkeiten des Denkens, Bewertens, Entscheidens zu erlernen und dabei die neuronalen Muster zu bilden, die uns dann zu freiem Handeln befähigen.
In einem bislang unbekannten Ausmaß macht Fuchs alteuropäisches Gedankengut für die vermeintlich ultramoderne Hirnforschungsdebatte fruchtbar. Ob in seiner These vom "Primat der Funktion bzw. des Ganzen gegenüber den Teilen" oder in seiner Kennzeichnung der Handlungsfreiheit als Ergebnis einer "Selbstkultivierung", durchgängig schimmert in Fuchs' Ausführungen ein aristotelisch geprägter Denkstil durch, der zumal von Wissenschaftstheoretikern über geraume Zeit bespöttelt und vernachlässigt worden ist. Nun sind es die damaligen Besserwisser, die blamiert dastehen. Denn Fuchs hat das befreiende Wort gesprochen, auf das die neurowissenschaftliche Debatte hierzulande lange hat warten müssen.
MICHAEL PAWLIK
Thomas Fuchs: "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan". Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2008. 324 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main