Viele Menschen verbinden mit dem Begriff der Willensfreiheit intuitiv die Vorstellung, dass man unter identischen Bedingungen auch anders hätte handeln und entscheiden können, als man es faktisch tat. Daran ist die Auffassung geknüpft, dass der Mensch letztendlicher Urheber seiner willentlichen Handlungen ist und deshalb auch dafür verantwortlich.In den Geisteswissenschaften dominierte bislang der Wunsch nach Autonomie des Geistigen nahezu alle Forschungsfragen, doch zeigen die Neurowissenschaften, dass dieser Wunsch keinesfalls mit den Beobachtungen an unserem Gehirn korrespondiert. Diese Erkenntnisse lösen heftige Kontroversen und mitunter Bestürzung aus, rühren sie doch an die Grundfesten unseres menschlichen Selbstverständnisses als autonome, frei entscheidende und selbstverantwortliche Personen.Obwohl das Problem der Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus eines der ältesten der Philosophie ist, genießt das Thema derzeit auch in der breiteren Öffentlichkeit bemerkenswerte Aufmerksamkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2006Die Freiheit, die wir messen
Neues aus der Diskussion zwischen Philosophen und Hirnforschern
Drei aktuelle Bücher zu den Konsequenzen der Hirnforschung schreiben ein kontrovers debattiertes Thema fort. Die zentrale Frage der Autoren heißt: Wie weit trägt die biologistische Sicht des Menschen?
Die Hirnforschung hält uns weiterhin in Atem. Das von Dieter Sturma herausgegebene Buch "Philosophie und Neurowissenschaften" eröffnet mit einem Abschnitt aus Peter Hackers und Max Bennetts Buch "Philosophical Foundations of Neuroscience". Über den Titel, den der Oxforder Philosoph und der renommierte Neurowissenschaftler für ihr gemeinsam verfaßtes Buch wählten, darf man nicht gleich stolpern. Er zielt gerade nicht darauf, daß Philosophie ein theoretisches Fundament zur Verfügung zu stellen habe. Philosophie entwirft keine Theorien, sie leistet vielmehr - hier steht insbesondere der späte Wittgenstein Pate - begriffliche Klärung.
Solche Klärungsarbeit zeigt, wie unser psychologisches Vokabular funktioniert und wo sein sinnvoller Gebrauch aufhört. Unsinn entsteht zum Beispiel dort, wo das "bloße" Alltagsvokabular durch vermeintlich wissenschaftlich besser begründete Redeweisen ersetzt werden soll, aber auch dort, wo sich Philosophen von bestimmten Beispielen des Wortgebrauchs und mit ihnen verbundenen Bildern in Bann schlagen lassen, statt den verschiedenen Gebrauchsweisen und Handlungskontexten nachzuspüren. Auf solche Weise wird etwa die heikle Vorstellung eines von der äußeren Welt strikt getrennten Innenraums des Mentalen angebahnt - samt Folgeproblemen und dem Register der konkurrierenden Lösungsvorschläge.
Zu diesen Problemen gehören nicht zuletzt die Varianten des Leib-Seele-Problems und damit die Frage: Sofern man auf eine Interaktion zwischen Mentalem und Physischem setzt, wie verträgt sich dies mit der Überzeugung, daß der Bereich des physischen Geschehens kausal geschlossen ist? Bei Neurowissenschaftlern löst diese Frage in der Regel die begreifliche Verdammung aller dualistischen Positionen aus, deren späte Vertreter im Zeichen einer Ersetzung des "Geistes" durch "das Gehirn" sie nicht selten, ohne es zu merken, sind. Aber auch hier lohnt der Versuch, die Formulierung des Problems nicht einfach zu akzeptieren: Ein etwas genauerer Blick auf die Physik, wie der von Brigitte Falkenburg, läßt bereits erkennen, daß es nicht weit her ist mit einer einheitlichen Vorstellung davon, was kausale Determiniertheit durch Naturgesetze heißen soll. Erweitert man das Blickfeld auf Chemie, Mikrobiologie, Evolutionsbiologie und eben auch Hirnforschung, wird dies nicht besser. Vor allem: Man hat es mit einem Patchwork von Erklärungen zu tun, die sich mitnichten auf eine fundamentale und in einem strikten Sinn deterministische Physik zurückführen ließen.
An der Attraktivität eines als universal unterstellten Kausalitätsprinzips wird das vermutlich wenig ändern. Doch gilt es zu sehen, daß man es dabei mit der Umdeutung einer forschungsleitenden Norm zu einem metaphysischen, natürlich-übernatürlichen Sachverhalt zu tun hat. Wie es zur Herausbildung einer solchen "Arbeitsmetaphysik" kommt, die sich mit Empirie verwechselt, skizziert Dirk Hartmann aus einer phänomenologischen Perspektive: Die Objekte der Wissenschaft, die nur über ihren theoretisch-methodologischen Hintergrund zu explizieren sind, werden unvermerkt unter die lebensweltlich gegebenen Gegenstände versetzt, die nun ebenso den als universal unterstellten wissenschaftlichen Beschreibungsnormen gehorchen sollen. Daraus entstehen dann viele rätselhafte Fragen, auch jene nach der Identifikation von mentalen Ereignissen und ihrer Beziehung zur Körperwelt. Wird den theoretischen Gegenständen auch noch der ontologische Primat zugesprochen, daß also nur sie "eigentlich" wirklich sind, gelangt man unschwer zur Auflösung der "bloßen" Alltagspsychologie und zu anderen "eliminativen" Strategien.
Die Diagnose dieser "naturalistischen Fehlschlüsse", wie Hartmann sie nennt, liegt einerseits im Nachzeichnen der Problemgenese: Es sind wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen und mit ihnen einhergehende Universalisierungstendenzen, durch die Problemformulierungen angebahnt werden, welche in neurowissenschaftlichen Fundierungsansprüchen und Philosophy-of-mind-Debatten Virulenz zeigen. Die therapeutische Behandlung erfordert vor allem die Nachzeichnung unserer Sprach- und Lebensformen ohne verkürzende Vorgriffe. Hackers und Bennetts Analysen im Geiste Wittgensteins führen das vor, aber auch andere Beiträge, die an Gilbert Ryles Forderung einer "thick description" erinnern (Dieter Sturma), diagnostisch-therapeutische Umsicht mit naturalistischen "Infektionsquellen" demonstrieren (Michael Quante) und noch einmal vor Augen führen, daß der von Neurowissenschaftlern gern widerlegte freie Wille ein ziemlich merkwürdiges Konstrukt ist: Es handelt sich um die philosophiegeschichtlich eigentlich abgelegte Vorstellung einer inneren mentalen Verursachung, die den mit mechanischen Modellen und Letztverursachungen operierenden Common sense genauso wie manche Neurowissenschaftler jedoch immer wieder anzieht (Carl Friedrich Gethmann).
Ein grelles Kontrastprogramm zu solch besonnenem Vorgehen bietet der von Klaus-Jürgen Grün und Gerhard Roth edierte Band "Das Gehirn und seine Freiheit". Sein Strickmuster ist einfach: Der Herausgeber Grün möchte eine philosophierende Hirnforschung als "materialistisches" Korrektiv gegenüber einer in seinen Augen bornierten akademischen Philosophie ins Spiel bringen. Entsprechend werden die Hirnforscher Wolf Singer und insbesondere Gerhard Roth als fraglose Autoritäten herangezogen, um gegen "Philosophen, Theologen und andere fromme Gemüter" (sic!) in Stellung gebracht zu werden. Kurz und meist alles andere als erhellend sind die Wege, auf denen philosophische Erklärungsansprüche an hirnforscherlichen Einsichten zerschellen sollen. Grün verzichtet nicht darauf, seine Attacke auf "die" akademische Philosophie mit dem Geist der Frankfurter Schule in Verbindung zu bringen.
Doch deren Impuls ist weit besser dort aufgehoben, wo sie nicht herbeizitiert wird. Als Beleg dafür könnte man einen schnörkellosen Beitrag Lutz Wingerts in dem von Sturma herausgegebenen Band heranziehen, der die Grenzen einer Selbstobjektivierung des Naturwesens Mensch argumentativ umreißt. Diese Grenzen liegen dort, wo eine sinnvolle Selbstdistanzierung des Urteilenden umschlägt in Schwierigkeiten, uns unter einer strikt naturalistischen Beschreibung noch als handelnde und auf Gründe reagierende Wesen zu verstehen. Wolf Singer bietet gute Beispiele für die rhetorische Überhöhung einer deterministischen Position jenseits der von Wingert aufgezeigten Grenzen. Gegen Einwendungen und Kritik scheint diese Singersche Position weitgehend abgedichtet. Wo Singer einfach vorbeihört, übersetzt Gerhard Roth in sein Modell. Zum Beispiel den Hinweis von Jürgen Habermas, daß Gründe nun einmal zu einer objektiven Welt kommunikativer Symbole und Akte gehören: "Wenn mir jemand Gründe erklärt", so Roth, "dringen lediglich Schallwellen an mein Innenohr. Die Gründe verbleiben im Gehirn des sich Rechtfertigenden." Aus den Druckwellen "schließt das Gehirn" auf Bedeutungen, die "deshalb gar nicht übertragen, sondern in jedem Gehirn neu erzeugt werden". Und schon stehen wir, pace Habermas, wieder dort, wo wir waren.
Die Debatte um die Willensfreiheit läßt die verschiedenen disziplinären Hintergründe und Ansätze von Neurowissenschaftlern, Psychologen und Philosophen wohl am klarsten hervortreten. Ein von Kristian Köchy und Dirk Stederoth herausgegebener Band über "Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem" macht darauf die gelungene Probe. Er gibt ein gutes Bild von unterschiedlichen Perspektiven, aus denen Wille und Willenshandlungen ins Visier genommen werden können. Psychologische Forschungen über nichtbewußte Einflüsse auf unsere Urteile (Ekkehard Stephan/Matthias Willmann) und Bewegungshandlungen im Sport (Armin Kibele) zerlegen das Problem zuerst in etwas leichter kontrollierbare Stücke; und ein vorzüglicher Überblick über die Positionen der psychologischen Debatte (Henrik Walter/Thomas Goschke) weist mit seiner als Antwort entworfenen naturalistischen Konzeption von Willensfreiheit bereits auf den bevorzugten Lösungsweg, den dann Philosophen (Ansgar Beckermann, Bettina Walde, Michael Pauen) wie Neurowissenschaftler (Uwe van der Heiden) einschlagen: die Vereinbarkeit tragfähiger Begriffe von Willensfreiheit mit möglichen Formen von Determiniertheit zu erweisen, wie sie psychologische und naturwissenschaftliche Empirie unterstellt.
Forschungsprogramme der Psychologie und der kognitiven Neurobiologie werden beleuchtet und die Libet-Experimente noch einmal detaillierter Kritik unterzogen. Aber es kommt neben einem Rückblick auf Kant und Hegel auch die Kritische Theorie mit einem Beitrag über Willensfreiheit bei Adorno in den Blick (Frank Hermenau). Daß die versuchte neurobiologische Auflösung des freien Willens nichts anderes als die wissenschaftliche Nobilitierung eines Ohnmachtsgefühls sei, also das Angebot einer Entlastung in ökonomischen Krisenzeiten, die das Scheitern am verordneten Selbstbild als autonomer wirtschaftlicher Akteur naherückt - das ist die wenig überraschende Eingangsthese des Autors. Mag sein.
Und doch liegt der Verdacht nahe, daß der Reiz szientifischer Entzauberungen gar nicht so eindeutig mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist, wie es eine solche ideologiekritische Entschlüsselung wahrhaben möchte; oder doch zumindest ebensosehr mit solchen Entwicklungen, wie sie der reale Zuwachs technisch-praktischer Verfügungsmöglichkeiten in den und außerhalb der biowissenschaftlichen Labors hervorbringt. Diese Techniken werden dafür sorgen, daß Auseinandersetzungen um naturalistische Formen der Selbst- und Weltauslegung, um die biologistische Sicht des Menschen, so schnell nicht obsolet werden.
HELMUT MAYER
Dieter Sturma (Hrsg.): "Philosophie und Neurowissenschaften". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 266 S., br., 11,- [Euro].
Gerhard Roth, Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.): "Das Gehirn und seine Freiheit". Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2006. 168 S., br., 14,90 [Euro].
Kristian Köchy, Dirk Stederoth (Hrsg.): "Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem". Karl Alber Verlag, Freiburg, München 2006. 386 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neues aus der Diskussion zwischen Philosophen und Hirnforschern
Drei aktuelle Bücher zu den Konsequenzen der Hirnforschung schreiben ein kontrovers debattiertes Thema fort. Die zentrale Frage der Autoren heißt: Wie weit trägt die biologistische Sicht des Menschen?
Die Hirnforschung hält uns weiterhin in Atem. Das von Dieter Sturma herausgegebene Buch "Philosophie und Neurowissenschaften" eröffnet mit einem Abschnitt aus Peter Hackers und Max Bennetts Buch "Philosophical Foundations of Neuroscience". Über den Titel, den der Oxforder Philosoph und der renommierte Neurowissenschaftler für ihr gemeinsam verfaßtes Buch wählten, darf man nicht gleich stolpern. Er zielt gerade nicht darauf, daß Philosophie ein theoretisches Fundament zur Verfügung zu stellen habe. Philosophie entwirft keine Theorien, sie leistet vielmehr - hier steht insbesondere der späte Wittgenstein Pate - begriffliche Klärung.
Solche Klärungsarbeit zeigt, wie unser psychologisches Vokabular funktioniert und wo sein sinnvoller Gebrauch aufhört. Unsinn entsteht zum Beispiel dort, wo das "bloße" Alltagsvokabular durch vermeintlich wissenschaftlich besser begründete Redeweisen ersetzt werden soll, aber auch dort, wo sich Philosophen von bestimmten Beispielen des Wortgebrauchs und mit ihnen verbundenen Bildern in Bann schlagen lassen, statt den verschiedenen Gebrauchsweisen und Handlungskontexten nachzuspüren. Auf solche Weise wird etwa die heikle Vorstellung eines von der äußeren Welt strikt getrennten Innenraums des Mentalen angebahnt - samt Folgeproblemen und dem Register der konkurrierenden Lösungsvorschläge.
Zu diesen Problemen gehören nicht zuletzt die Varianten des Leib-Seele-Problems und damit die Frage: Sofern man auf eine Interaktion zwischen Mentalem und Physischem setzt, wie verträgt sich dies mit der Überzeugung, daß der Bereich des physischen Geschehens kausal geschlossen ist? Bei Neurowissenschaftlern löst diese Frage in der Regel die begreifliche Verdammung aller dualistischen Positionen aus, deren späte Vertreter im Zeichen einer Ersetzung des "Geistes" durch "das Gehirn" sie nicht selten, ohne es zu merken, sind. Aber auch hier lohnt der Versuch, die Formulierung des Problems nicht einfach zu akzeptieren: Ein etwas genauerer Blick auf die Physik, wie der von Brigitte Falkenburg, läßt bereits erkennen, daß es nicht weit her ist mit einer einheitlichen Vorstellung davon, was kausale Determiniertheit durch Naturgesetze heißen soll. Erweitert man das Blickfeld auf Chemie, Mikrobiologie, Evolutionsbiologie und eben auch Hirnforschung, wird dies nicht besser. Vor allem: Man hat es mit einem Patchwork von Erklärungen zu tun, die sich mitnichten auf eine fundamentale und in einem strikten Sinn deterministische Physik zurückführen ließen.
An der Attraktivität eines als universal unterstellten Kausalitätsprinzips wird das vermutlich wenig ändern. Doch gilt es zu sehen, daß man es dabei mit der Umdeutung einer forschungsleitenden Norm zu einem metaphysischen, natürlich-übernatürlichen Sachverhalt zu tun hat. Wie es zur Herausbildung einer solchen "Arbeitsmetaphysik" kommt, die sich mit Empirie verwechselt, skizziert Dirk Hartmann aus einer phänomenologischen Perspektive: Die Objekte der Wissenschaft, die nur über ihren theoretisch-methodologischen Hintergrund zu explizieren sind, werden unvermerkt unter die lebensweltlich gegebenen Gegenstände versetzt, die nun ebenso den als universal unterstellten wissenschaftlichen Beschreibungsnormen gehorchen sollen. Daraus entstehen dann viele rätselhafte Fragen, auch jene nach der Identifikation von mentalen Ereignissen und ihrer Beziehung zur Körperwelt. Wird den theoretischen Gegenständen auch noch der ontologische Primat zugesprochen, daß also nur sie "eigentlich" wirklich sind, gelangt man unschwer zur Auflösung der "bloßen" Alltagspsychologie und zu anderen "eliminativen" Strategien.
Die Diagnose dieser "naturalistischen Fehlschlüsse", wie Hartmann sie nennt, liegt einerseits im Nachzeichnen der Problemgenese: Es sind wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen und mit ihnen einhergehende Universalisierungstendenzen, durch die Problemformulierungen angebahnt werden, welche in neurowissenschaftlichen Fundierungsansprüchen und Philosophy-of-mind-Debatten Virulenz zeigen. Die therapeutische Behandlung erfordert vor allem die Nachzeichnung unserer Sprach- und Lebensformen ohne verkürzende Vorgriffe. Hackers und Bennetts Analysen im Geiste Wittgensteins führen das vor, aber auch andere Beiträge, die an Gilbert Ryles Forderung einer "thick description" erinnern (Dieter Sturma), diagnostisch-therapeutische Umsicht mit naturalistischen "Infektionsquellen" demonstrieren (Michael Quante) und noch einmal vor Augen führen, daß der von Neurowissenschaftlern gern widerlegte freie Wille ein ziemlich merkwürdiges Konstrukt ist: Es handelt sich um die philosophiegeschichtlich eigentlich abgelegte Vorstellung einer inneren mentalen Verursachung, die den mit mechanischen Modellen und Letztverursachungen operierenden Common sense genauso wie manche Neurowissenschaftler jedoch immer wieder anzieht (Carl Friedrich Gethmann).
Ein grelles Kontrastprogramm zu solch besonnenem Vorgehen bietet der von Klaus-Jürgen Grün und Gerhard Roth edierte Band "Das Gehirn und seine Freiheit". Sein Strickmuster ist einfach: Der Herausgeber Grün möchte eine philosophierende Hirnforschung als "materialistisches" Korrektiv gegenüber einer in seinen Augen bornierten akademischen Philosophie ins Spiel bringen. Entsprechend werden die Hirnforscher Wolf Singer und insbesondere Gerhard Roth als fraglose Autoritäten herangezogen, um gegen "Philosophen, Theologen und andere fromme Gemüter" (sic!) in Stellung gebracht zu werden. Kurz und meist alles andere als erhellend sind die Wege, auf denen philosophische Erklärungsansprüche an hirnforscherlichen Einsichten zerschellen sollen. Grün verzichtet nicht darauf, seine Attacke auf "die" akademische Philosophie mit dem Geist der Frankfurter Schule in Verbindung zu bringen.
Doch deren Impuls ist weit besser dort aufgehoben, wo sie nicht herbeizitiert wird. Als Beleg dafür könnte man einen schnörkellosen Beitrag Lutz Wingerts in dem von Sturma herausgegebenen Band heranziehen, der die Grenzen einer Selbstobjektivierung des Naturwesens Mensch argumentativ umreißt. Diese Grenzen liegen dort, wo eine sinnvolle Selbstdistanzierung des Urteilenden umschlägt in Schwierigkeiten, uns unter einer strikt naturalistischen Beschreibung noch als handelnde und auf Gründe reagierende Wesen zu verstehen. Wolf Singer bietet gute Beispiele für die rhetorische Überhöhung einer deterministischen Position jenseits der von Wingert aufgezeigten Grenzen. Gegen Einwendungen und Kritik scheint diese Singersche Position weitgehend abgedichtet. Wo Singer einfach vorbeihört, übersetzt Gerhard Roth in sein Modell. Zum Beispiel den Hinweis von Jürgen Habermas, daß Gründe nun einmal zu einer objektiven Welt kommunikativer Symbole und Akte gehören: "Wenn mir jemand Gründe erklärt", so Roth, "dringen lediglich Schallwellen an mein Innenohr. Die Gründe verbleiben im Gehirn des sich Rechtfertigenden." Aus den Druckwellen "schließt das Gehirn" auf Bedeutungen, die "deshalb gar nicht übertragen, sondern in jedem Gehirn neu erzeugt werden". Und schon stehen wir, pace Habermas, wieder dort, wo wir waren.
Die Debatte um die Willensfreiheit läßt die verschiedenen disziplinären Hintergründe und Ansätze von Neurowissenschaftlern, Psychologen und Philosophen wohl am klarsten hervortreten. Ein von Kristian Köchy und Dirk Stederoth herausgegebener Band über "Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem" macht darauf die gelungene Probe. Er gibt ein gutes Bild von unterschiedlichen Perspektiven, aus denen Wille und Willenshandlungen ins Visier genommen werden können. Psychologische Forschungen über nichtbewußte Einflüsse auf unsere Urteile (Ekkehard Stephan/Matthias Willmann) und Bewegungshandlungen im Sport (Armin Kibele) zerlegen das Problem zuerst in etwas leichter kontrollierbare Stücke; und ein vorzüglicher Überblick über die Positionen der psychologischen Debatte (Henrik Walter/Thomas Goschke) weist mit seiner als Antwort entworfenen naturalistischen Konzeption von Willensfreiheit bereits auf den bevorzugten Lösungsweg, den dann Philosophen (Ansgar Beckermann, Bettina Walde, Michael Pauen) wie Neurowissenschaftler (Uwe van der Heiden) einschlagen: die Vereinbarkeit tragfähiger Begriffe von Willensfreiheit mit möglichen Formen von Determiniertheit zu erweisen, wie sie psychologische und naturwissenschaftliche Empirie unterstellt.
Forschungsprogramme der Psychologie und der kognitiven Neurobiologie werden beleuchtet und die Libet-Experimente noch einmal detaillierter Kritik unterzogen. Aber es kommt neben einem Rückblick auf Kant und Hegel auch die Kritische Theorie mit einem Beitrag über Willensfreiheit bei Adorno in den Blick (Frank Hermenau). Daß die versuchte neurobiologische Auflösung des freien Willens nichts anderes als die wissenschaftliche Nobilitierung eines Ohnmachtsgefühls sei, also das Angebot einer Entlastung in ökonomischen Krisenzeiten, die das Scheitern am verordneten Selbstbild als autonomer wirtschaftlicher Akteur naherückt - das ist die wenig überraschende Eingangsthese des Autors. Mag sein.
Und doch liegt der Verdacht nahe, daß der Reiz szientifischer Entzauberungen gar nicht so eindeutig mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist, wie es eine solche ideologiekritische Entschlüsselung wahrhaben möchte; oder doch zumindest ebensosehr mit solchen Entwicklungen, wie sie der reale Zuwachs technisch-praktischer Verfügungsmöglichkeiten in den und außerhalb der biowissenschaftlichen Labors hervorbringt. Diese Techniken werden dafür sorgen, daß Auseinandersetzungen um naturalistische Formen der Selbst- und Weltauslegung, um die biologistische Sicht des Menschen, so schnell nicht obsolet werden.
HELMUT MAYER
Dieter Sturma (Hrsg.): "Philosophie und Neurowissenschaften". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 266 S., br., 11,- [Euro].
Gerhard Roth, Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.): "Das Gehirn und seine Freiheit". Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2006. 168 S., br., 14,90 [Euro].
Kristian Köchy, Dirk Stederoth (Hrsg.): "Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem". Karl Alber Verlag, Freiburg, München 2006. 386 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kritisch betrachtet Rezensent Helmut Mayer diesen von Gerhard Roth und Klaus-Jürgen Grün herausgegebenen Band über die "neurowissenschaftliche Grundlegung der Philosophie". Das Strickmuster des Bandes findet er reichlich simpel. Vor allem bei Herausgeber Klaus-Jürgen Grün sieht er das Bestreben, eine philosophierende Hirnforschung als "materialistisches" Korrektiv gegen die angeblich bornierte akademische Philosophie in Stellung zu bringen. Dass die Hirnforscher Wolf Singer und Gerhard Roth als fraglose Autoritäten herangezogen werden, wundert Mayer da nicht weiter. Die hirnforscherlichen Attacken auf philosophische Erklärungsansprüche, die der Band bietet, findet Mayer dann allerdings "alles andere als erhellend".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH