Wenn Stillleben ins Rutschen geraten, ist danach nichts mehr, wie es war. Bei Herrn Frell hängen auf einmal keine Bilder mehr an den Wänden; ein Rendezvous führt seinen Sohn nach Kroatien, wo nichts ist, wie erwartet; ein Einbruch zeigt den Bewohnern, dass es so etwas wie eine Wohnung hinter der Wohnung gibt; und ein Buch, das immer wieder zu einer bestimmten Uhrzeit aus dem Regal fällt, wirft Ole Briddel völlig aus der Bahn. Was schlummert in den Tiefen unserer Existenz, was atmet dort und beißt die Zähne zusammen?»Das Geräusch der Stillleben« ist ein kunstvoll verwobenes Vexierspiel. Nebenfiguren einer Story werden in einer anderen zur Hauptfigur, Gegenstände wechseln von Erzählung zu Erzählung den Besitzer. Irgendwann hat das stille Leben eine Neigung von 56,75 Grad und ist nicht mehr aufzuhalten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2024Kann denn wahr sein, was ich mir da vorstelle?
Zwischen Einbildung und Wirklichkeit: Guy Helmingers Prosaband "Das Geräusch der Stillleben"
In "Gespräch im November" geht es um drei Studenten, die sich in der Mensa ihrer Universität unterhalten. Weihnachten steht vor der Tür, und Body (eigentlich Bert Prull) möchte nicht nach Hause zu seiner Familie. Er erzählt von seiner Schwester, die magersüchtig ist und beim Essen auf die Toilette läuft, um die Nahrung wieder abzugeben. Am Ende des Textes bleibt offen, ob sie noch lebt oder bereits gestorben ist. Diese Geschichte gehört zu den gelungensten Arbeiten des Prosabandes "Das Geräusch der Stillleben" von Guy Helminger, weil der Autor bündig erzählt, also lakonisch die Probleme der Schwester mit der Frage nach ihrem Schicksal am Ende verknüpft.
Ähnlich verhält es sich mit "Der richtige Moment": Toni will seiner Freundin beim Frühstück einen Briefumschlag überreichen, darin ein Foto, auf dem er mit seiner Geliebten zu sehen ist. Die wiederum ruft just in diesem Augenblick an, um die Beziehung mit ihm zu beenden. Auch hier korrespondiert das Lesetempo mit der unerwarteten Wendung am Schluss. Die erzeugte Spannung wird rechtzeitig aufgelöst.
Helminger bezeichnet seine Texte als "Stories"; dreiundzwanzig davon hat in seinem Buch vereinigt. Mit dem Hinweis auf die Gattung spielt der Autor auf englische und amerikanische Vorbilder an, auch auf die Handlung von Filmen. Seine Geschichten können einerseits unabhängig voneinander gelesen werden, andererseits ähnelt die Sammlung einem Roman, denn die Stücke sind untereinander auf subtile Art miteinander verbunden. So taucht in der Geschichte "Drei Beispiele" Angelika auf, die ehemalige Geliebte von Body, die nun auch von der magersüchtigen Schwester berichtet. Sie ist auch die Freundin von Toni in "Der richtige Moment".
Der Ausdruck "Story" suggeriert einen engen Zusammenhang zwischen der Handlung und dem überraschenden Ende. Gerade bei den längeren Texten von Helminger handelt es sich aber eher um Erzählungen. In "Das gesammelte Leben" geht es um den Lehrer Nico Frell, der eine Frau namens Draga im Internet kennengelernt hat. Sie bestellt ihn in ein Hotel nach Kroatien. Er betrinkt sich und gerät mit anderen Gästen in Konflikt; es stellt sich heraus, dass er getäuscht wurde. Die Pointe ist zu schwach, um den Verlauf der Handlung zu rechtfertigen. Sie schlüsselt das Geschehen nicht auf. Die Geschichte zerfällt in die Abfolge einzelner Episoden, die wiederum aus gewöhnlichen Ereignissen oder Erfahrungen bestehen. Anders als bei Ferdinand von Schirach, der seine Texte auch als "Stories" bezeichnet, wirken Helmingers Geschichten oft langatmig. Es fehlt eine Konzentration auf den Erzählkern und die damit verbundene Zuspitzung.
Der Ausdruck "Stillleben" im Titel des Buches könnte auch als Metapher dienen für den literarischen Leerlauf, die unauffälligen, manchmal trivialen Sätze, die Guy Helminger sorgfältig baut. Seine Geschichten wirken sprachlich modellhaft, sie könnten in Lehrbüchern für das Fach Deutsch oder den Beilagen großer Tageszeitungen veröffentlicht werden. Sie stehen der Gattung der Reportage näher als genuin literarischen Formen. In "Bilder" geht es um den dementen Vater von Nico Frell, der die alltäglichen Zusammenhänge in seiner Wohnung nicht mehr versteht, nicht mehr weiß, dass seine Tochter vor dreißig Jahren gestorben ist und seine Frau ihn verlassen hat. Er glaubt, dass ein Fremder einen Bilderrahmen nachts in sein Haus gebracht hat. Das Auffächern dieser Sinnestäuschungen und Erinnerungslücken nimmt breiten Raum ein. Die Auflösung am Schluss der Geschichte ist eher ein schwacher Trost für die Geduld, die man aufbringen muss beim Lesen.
Verwirrend erscheint auch die Tatsache, dass Helminger in mehreren Geschichten einen Teil der Handlung in den Innenraum der Menschen verlegt. In "Kurzke" geht es um Jugendliche, deren nächtliche Träume sich ähneln und mit den Ereignissen der Realität korrespondieren. "Gingko" handelt von einem Mann, der ohnmächtig geworden ist und sich im Krankenhaus behandeln lässt. In "Zu Besuch" taucht eine Figur auf, die den Namen Guy Helminger trägt und einen Schlaganfall erleidet. Der Autor spielt mit den Ebenen eingebildeter und tatsächlicher Realität. Aber erst im Verlauf der Texte wird deutlich, ob es sich um eine Illusion handelt oder um ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat.
Eine unbestreitbare Qualität von Helmingers Buch liegt indes in der Vielfalt der Themen, der Mischung der Figuren und der Milieus. Die Geschichten spielen in Indien, in Kroatien, in Lissabon, sie handeln von Jugendlichen, Studenten, Lehrern, Schriftstellern, Rentnern, Ärzten, von Arbeitslosen und Drogenabhängigen. Der Autor versucht sich an einem Querschnitt der Gesellschaft; er bringt die unterschiedlichsten Menschen in seinem Buch zusammen. THOMAS COMBRINK
Guy Helminger: "Das
Geräusch der Stillleben". Stories.
Capybarabooks,
Mersch 2023.
352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Einbildung und Wirklichkeit: Guy Helmingers Prosaband "Das Geräusch der Stillleben"
In "Gespräch im November" geht es um drei Studenten, die sich in der Mensa ihrer Universität unterhalten. Weihnachten steht vor der Tür, und Body (eigentlich Bert Prull) möchte nicht nach Hause zu seiner Familie. Er erzählt von seiner Schwester, die magersüchtig ist und beim Essen auf die Toilette läuft, um die Nahrung wieder abzugeben. Am Ende des Textes bleibt offen, ob sie noch lebt oder bereits gestorben ist. Diese Geschichte gehört zu den gelungensten Arbeiten des Prosabandes "Das Geräusch der Stillleben" von Guy Helminger, weil der Autor bündig erzählt, also lakonisch die Probleme der Schwester mit der Frage nach ihrem Schicksal am Ende verknüpft.
Ähnlich verhält es sich mit "Der richtige Moment": Toni will seiner Freundin beim Frühstück einen Briefumschlag überreichen, darin ein Foto, auf dem er mit seiner Geliebten zu sehen ist. Die wiederum ruft just in diesem Augenblick an, um die Beziehung mit ihm zu beenden. Auch hier korrespondiert das Lesetempo mit der unerwarteten Wendung am Schluss. Die erzeugte Spannung wird rechtzeitig aufgelöst.
Helminger bezeichnet seine Texte als "Stories"; dreiundzwanzig davon hat in seinem Buch vereinigt. Mit dem Hinweis auf die Gattung spielt der Autor auf englische und amerikanische Vorbilder an, auch auf die Handlung von Filmen. Seine Geschichten können einerseits unabhängig voneinander gelesen werden, andererseits ähnelt die Sammlung einem Roman, denn die Stücke sind untereinander auf subtile Art miteinander verbunden. So taucht in der Geschichte "Drei Beispiele" Angelika auf, die ehemalige Geliebte von Body, die nun auch von der magersüchtigen Schwester berichtet. Sie ist auch die Freundin von Toni in "Der richtige Moment".
Der Ausdruck "Story" suggeriert einen engen Zusammenhang zwischen der Handlung und dem überraschenden Ende. Gerade bei den längeren Texten von Helminger handelt es sich aber eher um Erzählungen. In "Das gesammelte Leben" geht es um den Lehrer Nico Frell, der eine Frau namens Draga im Internet kennengelernt hat. Sie bestellt ihn in ein Hotel nach Kroatien. Er betrinkt sich und gerät mit anderen Gästen in Konflikt; es stellt sich heraus, dass er getäuscht wurde. Die Pointe ist zu schwach, um den Verlauf der Handlung zu rechtfertigen. Sie schlüsselt das Geschehen nicht auf. Die Geschichte zerfällt in die Abfolge einzelner Episoden, die wiederum aus gewöhnlichen Ereignissen oder Erfahrungen bestehen. Anders als bei Ferdinand von Schirach, der seine Texte auch als "Stories" bezeichnet, wirken Helmingers Geschichten oft langatmig. Es fehlt eine Konzentration auf den Erzählkern und die damit verbundene Zuspitzung.
Der Ausdruck "Stillleben" im Titel des Buches könnte auch als Metapher dienen für den literarischen Leerlauf, die unauffälligen, manchmal trivialen Sätze, die Guy Helminger sorgfältig baut. Seine Geschichten wirken sprachlich modellhaft, sie könnten in Lehrbüchern für das Fach Deutsch oder den Beilagen großer Tageszeitungen veröffentlicht werden. Sie stehen der Gattung der Reportage näher als genuin literarischen Formen. In "Bilder" geht es um den dementen Vater von Nico Frell, der die alltäglichen Zusammenhänge in seiner Wohnung nicht mehr versteht, nicht mehr weiß, dass seine Tochter vor dreißig Jahren gestorben ist und seine Frau ihn verlassen hat. Er glaubt, dass ein Fremder einen Bilderrahmen nachts in sein Haus gebracht hat. Das Auffächern dieser Sinnestäuschungen und Erinnerungslücken nimmt breiten Raum ein. Die Auflösung am Schluss der Geschichte ist eher ein schwacher Trost für die Geduld, die man aufbringen muss beim Lesen.
Verwirrend erscheint auch die Tatsache, dass Helminger in mehreren Geschichten einen Teil der Handlung in den Innenraum der Menschen verlegt. In "Kurzke" geht es um Jugendliche, deren nächtliche Träume sich ähneln und mit den Ereignissen der Realität korrespondieren. "Gingko" handelt von einem Mann, der ohnmächtig geworden ist und sich im Krankenhaus behandeln lässt. In "Zu Besuch" taucht eine Figur auf, die den Namen Guy Helminger trägt und einen Schlaganfall erleidet. Der Autor spielt mit den Ebenen eingebildeter und tatsächlicher Realität. Aber erst im Verlauf der Texte wird deutlich, ob es sich um eine Illusion handelt oder um ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat.
Eine unbestreitbare Qualität von Helmingers Buch liegt indes in der Vielfalt der Themen, der Mischung der Figuren und der Milieus. Die Geschichten spielen in Indien, in Kroatien, in Lissabon, sie handeln von Jugendlichen, Studenten, Lehrern, Schriftstellern, Rentnern, Ärzten, von Arbeitslosen und Drogenabhängigen. Der Autor versucht sich an einem Querschnitt der Gesellschaft; er bringt die unterschiedlichsten Menschen in seinem Buch zusammen. THOMAS COMBRINK
Guy Helminger: "Das
Geräusch der Stillleben". Stories.
Capybarabooks,
Mersch 2023.
352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht durchweg ein Lesevergnügen ist Guy Helmingers Buch für Rezensent Thomas Combrink. Dabei gefallen ihm hier zumindest diejenigen Geschichten, die ökonomisch erzählt und auf eine Pointe hin entworfen sind, wie etwa die, in der eine Beziehung am Frühstückstisch in Gefahr zu geraten droht. Helminger bezeichnet die Geschichten als Stories, was laut Combrink eine knappe, pointensichere Form impliziert. Allerdings sind einige der Texte des Buches für den Rezensenten eher Erzählungen als Stories, dafür sind sie ihm zu langatmig und beschränken sich aufs Aufzählen von Ereignissen. Außerdem schreibt Helminger, so Combrinks Kritik, zwar lehrbuchhaft aber auch unliterarisch. Lobend hebt der insgesamt wenig überzeugte Rezensent hervor, dass die - untereinander teils lose verknüpften - Geschichten ein breites gesellschaftliches Panorama eröffnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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