Kavafis ist einer der rätselhaftesten Dichter dieses Jahrhunderts und einer der größten. Nacht für Nacht zog er in Alexandria von Taverne zu Taverne um in den Körpern einen Abglanz der Schönheit antiker Statuen zu finden: ein Jäger der Sinne und der Sänger der homoerotischen Liebe.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Die trockene Schale umhüllt den glühenden Kern
Erstmals auf deutsch: das Gesamtwerk des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis / Von Hanjo Kesting
Da ist Herr Kavafis, und er geht entweder von seiner Wohnung ins Büro oder vom Büro in die Wohnung. Trifft man ihn bei ersterem, verschwindet er mit einer leichten Geste der Verzweiflung. Handelt es sich um das letzte, kann man ihn dazu bringen, einen Satz anzufangen - einen unermeßlichen langen, komplizierten und dennoch wohlgestalteten Satz voller Parenthesen, die sich nie verwirren . . ., einen Satz, der in einer leichten Neigung dem Universum gegenübersteht - es ist der Satz eines Dichters."
Die knappe, respektvoll-ironische Porträtskizze des englischen Schriftstellers E. M. Forster ist eines der spärlichen Lebenszeugnisse über den griechischen Dichter Konstantinos Kavafis. Sie ergeben in ihrer Summe nur ein undeutliches Bild seinerhintergründigen Persönlichkeit. Ein Foto der Jahrhundertwende zeigt den knapp Vierzigjährigen in gepflegtem Bürgerhabit mit Stehkragen, das blasse, etwas maskenhafte Gesicht bestimmt von träumerisch verschatteten Augen und dem kräftigen Schnurrbart über einem sinnlichen Mund. Marguerite Yourcenar, die im Athen der späten dreißiger Jahre nach Lebensspuren des Dichters suchte, fand ihn beschrieben als Mann von ganz ungewöhnlichem Aussehen, "wie ein levantinischer Makler". Esoterisch und flüchtig war zu Lebzeiten sein Dichterruhm, und er selbst verschwendete wenig Energie darauf, ihn zu fördern. Sein schmales Werk, bestehend aus den hundertvierundfünfzig Gedichten, die er selber einer Veröffentlichung für wert hielt, erschien erst nach seinem Tod in Buchform. Und es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis Kavafis als eine der Portalfiguren der literarischen Moderne entdeckt wurde - ein einzelgängerischer Außenseiter der neugriechischen Literatur, die ihrerseits an der Peripherie des literarischen Bewußtseins lag. Kavafis wurde in Griechenland selbst erst spät anerkannt, nach einem langen und widerspruchsvollen Prozeß der Aneignung, der wie im Fall Kazantzakis über das Ausland führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Einfluß um so nachhaltiger; man erkennt ihn im Werk der anderen großen Lyriker des Landes, der Nobelpreisträger Seferis und Elytis, bei Jannis Ritsos und Andreas Embirikos, ja in der griechischen Dichtung insgesamt.
Kavafis, der 1863 im ägyptischen Alexandria geboren wurde und dort an seinem siebzigsten Geburtstag 1933 starb, lebte außerhalb der griechischen Landesgrenzen, in bewußter Distanz zum nationalen Griechentum, das sich als legitimer Erbe der Antike verstand und aus diesem Anspruch seine patriotischen Aspirationen bezog. Auch vom innergriechischen Streit um die Volks- und die Hochsprache, "Demotiké" und "Katharevousa", der die griechische Literatur wie das ganze Land in feindliche Lager spaltete und die Ausbildung einer kulturellen Identität lange verhinderte, blieb Kavafis fast unberührt. Bei ihm dominiert die Volkssprache, aber in souveräner Freiheit vermischt mit Elementen der Hochsprache, Archaismen und alexandrinischer Idiomatik. Anders als seine griechischen Zeitgenossen, etwa der "Nationaldichter" Kostis Palamas, steht Kavafis abseits der Tradition klassischen Hellenentums oder gar eines nach Griechenland reimportierten westeuropäischen Philhellenismus. Die Antike aus Marmor und Hexametern ist in seinem Werk bis auf wenige Ausnahmen ausgespart. Es ist nicht hellenisch, sondern hellenistisch geprägt und wurzelt im urbanen Kosmopolitismus Alexandrias, in einem über mehr als tausend Jahre gewachsenen kulturellen Synkretismus, dem erst die Revolution Nassers in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts ein Ende setzte.
Kavafis hat, von wenigen kurzen Reisen nach Athen abgesehen, die letzten fünfzig Jahre seines Lebens in Alexandria verbracht, der leidenschaftlich geliebten Stadt, deren ferner Glanz und versunkene Größe in seinen Versen zu neuem Leben erwacht: "Wo immer du hinfährst, hier wird deine Reise enden. / Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße -/ gib die Hoffnung auf. Hast du dein Leben auf diesem kleinen / Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan." Lawrence Durrell zitiert die Verse in seiner Alexandria-Tetralogie, in der Kavafis selber als "old poet of the city" geisterhaft auftaucht. Die wohlhabende großbürgerliche Familie Kavafis stammte aus Konstantinopel, dem traditionellen Zentrum der griechischen Orthodoxie. Auch in Alexandria, wo sich der Vater als Baumwollhändler niederließ und es zu großem Reichtum brachte, gehörte man zur fest etablierten griechischen Oberschicht - sie bildete eine eigene Welt in diesem Schmelztiegel von Völkern und Kulturen, von Arabern, Juden, Kopten, Armeniern und Briten. Das Bewußtsein dieser Herkunft, die Haltung sozialer Distinktion sind Kavafis nie abhanden gekommen, auch nicht nach dem frühen Tod des Vaters und dem wirtschaftlichen Niedergang der Familie. Er lebte mit der Mutter, als "guter Sohn", mit festen Ritualen, ein gebildeter, ein wenig dandyhafter junger Mann. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als kleiner Beamter im ägyptischen Ministerium für Wasserwirtschaft. Daneben führte er, von früh auf sich seiner homosexuellen Veranlagung bewußt, das Leben eines erotischen Außenseiters.
Ein Doppelleben also. Hier die Maske der Bürgerlichkeit, verfeinert durch die literarische Ambition des jungen Dichters, der in seiner Wohnung einen Kreis ausgewählter Freunde empfängt und mit Reden von byzantischer Gelehrsamkeit unterhält. Dort die gleichsam unterirdische, von Skandal bedrohte Existenz des Homosexuellen auf der Suche nach flüchtigen Abenteuern. Im Tagebuch notiert er: "Heute abend kam es mir in den Sinn, über meine Liebe zu schreiben. Und doch werde ich es nicht tun. Welche Macht das Vorurteil hat. Ich habe mich davon befreit; aber ich denke an die Versklavten, die dieses Stück Papier unter die Augen bekommen könnten. Und ich halte inne. Welcher Kleinmut! Doch werde ich einen Buchstaben - T - als Symbol dieses Augenblickes aufzeichnen."
Kavafis begriff früh, daß sein Geheimleben das eigentliche Stimulans seiner Kunst war, nicht nur jener Gedichte, deren erlesener homophiler Realismus zu seiner Zeit ungewöhnlich kühn war. Er hat sich mit großer Offenheit, ja Redlichkeit, die nur selten indiskret wurde, zu seinen Neigungen bekannt, lange bevor das Thema in der Literatur des Westens seine Sprengkraft gewann, und er hatte nichts weniger im Sinn als "Befreiung" und Tabubruch, weit eher die sich selbst genügende Feier des sinnlichen Augenblicks. Die meisten dieser Gedichte entstanden aus großem zeitlichem Abstand. Sie gehorchten dem verborgenen Gesetz, dem flüchtigen Augenblick von einst, der jäh dem Gedächtnis entsteigt, im Gedicht Dauer zu verleihen. "Rausch des Fleisches zwischen / Halboffenen Kleidern, / Rasche Entblößung des Körpers - deren Vorstellung / Sechsundzwanzig Jahre durchquert und jetzt / In diesem Gedicht zur Ruhe kommt."
"Ich bin ein Dichter des Alters", hat Kavafis erklärt. Das trifft in doppeltem Sinn zu. Er fand spät zu seinen künstlerischen Mitteln, trotz berühmter Einzelstücke der frühen Zeit wie des vielinterpretierten "Wartens auf die Barbaren". Bis 1911 entstanden nur vierundzwanzig Gedichte, die für ihn "gültig" waren. Und nach einer intensiveren Schaffensphase war er auch in den beiden letzten Lebensjahrzehnten kein Produktionsgenie. Bereits veröffentlichte Texte wurden immer wieder überarbeitet. Das Ergebnis waren Gedichte von oft makelloser Präzision und raffinierter Simplizität, weit entfernt von der lyrischen Emphase und rhetorischen Überhöhung der griechischen Zeitgenossen, ihrer an Gott, Natur und Nation sich berauschenden pompösen Spätromantik. Kavafis setzte dagegen: Knappheit der Mittel, kontrollierte Form, realistische Kargheit, diskrete Ironie. Damit wurde er, sosehr er aus den Tiefen der hellenistischen Vergangenheit schöpfte, zum Autor der Moderne.
Die erste deutsche Kavafis-Übersetzung erschien 1942 in Jerusalem, erstaunlich früh, doch durch die Zeitumstände zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Bahnbrechend war im Jahre 1953 die - noch unvollständige, die meisten erotischen Gedichte aussparende - Übersetzung von Helmut von den Steinen. Mit ihr fand der Dichter aus Alexandria auch in Deutschland Eingang ins Museum der modernen Poesie. 1983 legte Wolfgang Josing eine Kavafis-Edition vor, die das vollständige vom Dichter autorisierte Werk umfaßte. Die neue, von Robert Elsie herausgegebene und übersetzte Ausgabe präsentiert in einem stattlichen Band von fast sechshundert Seiten das "Gesamtwerk": neben den "kanonischen Gedichten" erstmals auch die "unveröffentlichten", "verworfenen" und "unvollendeten", ferner das lyrische Frühwerk und die Prosa der jungen Jahre. Die Vorzüge der Ausgabe sind nicht hoch genug zu rühmen: die noble Ausstattung, das großzügige Druckbild, die Zweisprachigkeit der Gedichte, die Sorgfalt in Anmerkungen, Zeittafel und Bibliographie. Elsies Übersetzung ist ungemein textgetreu, ohne "nachdichterischen" Ehrgeiz. Sie trifft den erzählerischen Duktus vieler Gedichte in einer eher kargen und knappen Sprache von eigenem poetischem Reiz.
Erstmals hat man hier den ganzen Kavafis vor Augen. Und erkennt gerade beim Frühwerk die Mühe, die er aufwenden mußte, um den Bannkreis der Symbolisten zu verlassen, deren Traum vom "vollkommenen", wenngleich schmalen lyrischen Werk er dennoch weiterträumte. Von der eigenen Epoche, ihren geschichtlichen Umbrüchen hat er wenig wahrgenommen, vielleicht weil das Alexandria seiner Zeit im Windschatten weltgeschichtlicher Ereignisse lag. Kavafis hat von seinem Werk gesagt, daß es in seinem Leben wurzele. Doch sind die direkten autobiographischen Spuren darin weitgehend verwischt, und man kann ebensogut der Feststellung von Giorgos Seferis zustimmen, Kavafis "existiere nicht außerhalb seiner Gedichte". In seinem lyrischen Kosmos spielt die Natur, sonst eine der üppigsten Quellen dichterischer Produktion, so gut wie keine Rolle. Kavafis ist, nach einem Wort von Marguerite Yourcenar, eine "wollüstig im Menschlichen eingemauerte Seele".
Hauptreviere seiner Lyrik sind die moderne Großstadt und die Geschichte. Großstadt: die schäbigen Winkel, Hafenstraßen, Kaschemmen und Kafenions Alexandrias. Geschichte: der ferne Orient, Syrien, Kleinasien, Byzanz, die versunkene Welt des Hellenismus, von Kavafis herbeizitiert meist aus den Chroniken der postalexandrinischen Zeit. Auch die Geschichte erfaßt er nicht im "großen", sondern im vergänglichen Augenblick. Verrat, Untreue, Mißtrauen, die Machenschaften der Macht, Perfidie und Intrige bilden die Themen vieler Gedichte, angesiedelt in einer sinnlich-dekadenten Welt, die illusionslos, doch ohne Larmoyanz gesehen wird, mit melancholischer Ironie.
Immer wieder findet in Kavafis' Gedichten ein Austausch persönlicher und historischer Momente statt. Der Geschichte entnimmt er Beispiele und Zitate, die auch für ein modernes Szenario taugen, er deckt durch die Maske des Hellenismus die persönliche Verwundung. Seine Verse verewigen die Momentaufnahmen erotischer Streifzüge durch die Quartiere der Lust, die scharf konturierten Bilder von Knaben, Körpern und brennenden Augen. "Körper, erinnere dich . . .": Dieser Titel eines Kavafis-Gedichtes ist eine Art von geheimem Leitmotiv. Falsch wäre es, in den erotischen Gedichten Liebesgedichte zu sehen, niemals richten sie sich an ein konkretes Gegenüber. Es sind Gedichte über die Liebe - eine Sammlung von Augenblicken der Lust, aus der Erinnerung beschworen. Die Emotion ist darin fast erloschen und weicht einem gelassenen Hedonismus, der jedes Sündenbewußtsein hinter sich gelassen hat: "Freude und Weihrauch meines Lebens, die Erinnerung an die Stunden, / Da ich die Wollust fand und genoß, wie ich sie wollte. / Freude und Weihrauch meines Lebens, daß ich / Alle üblichen Liebesfreuden von mir gewiesen habe."
Manche Gedichte von Kavafis, vor allem aus später Zeit, gewinnen die Qualität von Lehrgedichten. Ihr glühender Kern ist umschlossen von einer Schale aus Lakonismus und Weisheit. Auch darin war er ein Dichter des Alters, daß er die Geschichte als Ausdrucksmedium begriff und das Alter der Welt mit Bewußtsein erlebte. Brecht hatte Kavafis vor Augen, als er einem Gedicht die Überschrift gab: "Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters." Wystan Hugh Auden und Joseph Brodsky haben Kavafis gehuldigt. Marguerite Yourcenar hat einen souveränen Essay über ihn geschrieben, der dieser ersten deutschen Ausgabe des "Gesamtwerks" als Einführung vorangestellt ist.
Konstantinos Kavafis: "Das Gesamtwerk". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Griechischen übertragen und herausgegeben von Robert Elsie. Mit einer Einführung von Marguerite Yourcenar. Ammann Verlag, Zürich 1997. 576 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstmals auf deutsch: das Gesamtwerk des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis / Von Hanjo Kesting
Da ist Herr Kavafis, und er geht entweder von seiner Wohnung ins Büro oder vom Büro in die Wohnung. Trifft man ihn bei ersterem, verschwindet er mit einer leichten Geste der Verzweiflung. Handelt es sich um das letzte, kann man ihn dazu bringen, einen Satz anzufangen - einen unermeßlichen langen, komplizierten und dennoch wohlgestalteten Satz voller Parenthesen, die sich nie verwirren . . ., einen Satz, der in einer leichten Neigung dem Universum gegenübersteht - es ist der Satz eines Dichters."
Die knappe, respektvoll-ironische Porträtskizze des englischen Schriftstellers E. M. Forster ist eines der spärlichen Lebenszeugnisse über den griechischen Dichter Konstantinos Kavafis. Sie ergeben in ihrer Summe nur ein undeutliches Bild seinerhintergründigen Persönlichkeit. Ein Foto der Jahrhundertwende zeigt den knapp Vierzigjährigen in gepflegtem Bürgerhabit mit Stehkragen, das blasse, etwas maskenhafte Gesicht bestimmt von träumerisch verschatteten Augen und dem kräftigen Schnurrbart über einem sinnlichen Mund. Marguerite Yourcenar, die im Athen der späten dreißiger Jahre nach Lebensspuren des Dichters suchte, fand ihn beschrieben als Mann von ganz ungewöhnlichem Aussehen, "wie ein levantinischer Makler". Esoterisch und flüchtig war zu Lebzeiten sein Dichterruhm, und er selbst verschwendete wenig Energie darauf, ihn zu fördern. Sein schmales Werk, bestehend aus den hundertvierundfünfzig Gedichten, die er selber einer Veröffentlichung für wert hielt, erschien erst nach seinem Tod in Buchform. Und es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis Kavafis als eine der Portalfiguren der literarischen Moderne entdeckt wurde - ein einzelgängerischer Außenseiter der neugriechischen Literatur, die ihrerseits an der Peripherie des literarischen Bewußtseins lag. Kavafis wurde in Griechenland selbst erst spät anerkannt, nach einem langen und widerspruchsvollen Prozeß der Aneignung, der wie im Fall Kazantzakis über das Ausland führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Einfluß um so nachhaltiger; man erkennt ihn im Werk der anderen großen Lyriker des Landes, der Nobelpreisträger Seferis und Elytis, bei Jannis Ritsos und Andreas Embirikos, ja in der griechischen Dichtung insgesamt.
Kavafis, der 1863 im ägyptischen Alexandria geboren wurde und dort an seinem siebzigsten Geburtstag 1933 starb, lebte außerhalb der griechischen Landesgrenzen, in bewußter Distanz zum nationalen Griechentum, das sich als legitimer Erbe der Antike verstand und aus diesem Anspruch seine patriotischen Aspirationen bezog. Auch vom innergriechischen Streit um die Volks- und die Hochsprache, "Demotiké" und "Katharevousa", der die griechische Literatur wie das ganze Land in feindliche Lager spaltete und die Ausbildung einer kulturellen Identität lange verhinderte, blieb Kavafis fast unberührt. Bei ihm dominiert die Volkssprache, aber in souveräner Freiheit vermischt mit Elementen der Hochsprache, Archaismen und alexandrinischer Idiomatik. Anders als seine griechischen Zeitgenossen, etwa der "Nationaldichter" Kostis Palamas, steht Kavafis abseits der Tradition klassischen Hellenentums oder gar eines nach Griechenland reimportierten westeuropäischen Philhellenismus. Die Antike aus Marmor und Hexametern ist in seinem Werk bis auf wenige Ausnahmen ausgespart. Es ist nicht hellenisch, sondern hellenistisch geprägt und wurzelt im urbanen Kosmopolitismus Alexandrias, in einem über mehr als tausend Jahre gewachsenen kulturellen Synkretismus, dem erst die Revolution Nassers in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts ein Ende setzte.
Kavafis hat, von wenigen kurzen Reisen nach Athen abgesehen, die letzten fünfzig Jahre seines Lebens in Alexandria verbracht, der leidenschaftlich geliebten Stadt, deren ferner Glanz und versunkene Größe in seinen Versen zu neuem Leben erwacht: "Wo immer du hinfährst, hier wird deine Reise enden. / Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße -/ gib die Hoffnung auf. Hast du dein Leben auf diesem kleinen / Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan." Lawrence Durrell zitiert die Verse in seiner Alexandria-Tetralogie, in der Kavafis selber als "old poet of the city" geisterhaft auftaucht. Die wohlhabende großbürgerliche Familie Kavafis stammte aus Konstantinopel, dem traditionellen Zentrum der griechischen Orthodoxie. Auch in Alexandria, wo sich der Vater als Baumwollhändler niederließ und es zu großem Reichtum brachte, gehörte man zur fest etablierten griechischen Oberschicht - sie bildete eine eigene Welt in diesem Schmelztiegel von Völkern und Kulturen, von Arabern, Juden, Kopten, Armeniern und Briten. Das Bewußtsein dieser Herkunft, die Haltung sozialer Distinktion sind Kavafis nie abhanden gekommen, auch nicht nach dem frühen Tod des Vaters und dem wirtschaftlichen Niedergang der Familie. Er lebte mit der Mutter, als "guter Sohn", mit festen Ritualen, ein gebildeter, ein wenig dandyhafter junger Mann. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als kleiner Beamter im ägyptischen Ministerium für Wasserwirtschaft. Daneben führte er, von früh auf sich seiner homosexuellen Veranlagung bewußt, das Leben eines erotischen Außenseiters.
Ein Doppelleben also. Hier die Maske der Bürgerlichkeit, verfeinert durch die literarische Ambition des jungen Dichters, der in seiner Wohnung einen Kreis ausgewählter Freunde empfängt und mit Reden von byzantischer Gelehrsamkeit unterhält. Dort die gleichsam unterirdische, von Skandal bedrohte Existenz des Homosexuellen auf der Suche nach flüchtigen Abenteuern. Im Tagebuch notiert er: "Heute abend kam es mir in den Sinn, über meine Liebe zu schreiben. Und doch werde ich es nicht tun. Welche Macht das Vorurteil hat. Ich habe mich davon befreit; aber ich denke an die Versklavten, die dieses Stück Papier unter die Augen bekommen könnten. Und ich halte inne. Welcher Kleinmut! Doch werde ich einen Buchstaben - T - als Symbol dieses Augenblickes aufzeichnen."
Kavafis begriff früh, daß sein Geheimleben das eigentliche Stimulans seiner Kunst war, nicht nur jener Gedichte, deren erlesener homophiler Realismus zu seiner Zeit ungewöhnlich kühn war. Er hat sich mit großer Offenheit, ja Redlichkeit, die nur selten indiskret wurde, zu seinen Neigungen bekannt, lange bevor das Thema in der Literatur des Westens seine Sprengkraft gewann, und er hatte nichts weniger im Sinn als "Befreiung" und Tabubruch, weit eher die sich selbst genügende Feier des sinnlichen Augenblicks. Die meisten dieser Gedichte entstanden aus großem zeitlichem Abstand. Sie gehorchten dem verborgenen Gesetz, dem flüchtigen Augenblick von einst, der jäh dem Gedächtnis entsteigt, im Gedicht Dauer zu verleihen. "Rausch des Fleisches zwischen / Halboffenen Kleidern, / Rasche Entblößung des Körpers - deren Vorstellung / Sechsundzwanzig Jahre durchquert und jetzt / In diesem Gedicht zur Ruhe kommt."
"Ich bin ein Dichter des Alters", hat Kavafis erklärt. Das trifft in doppeltem Sinn zu. Er fand spät zu seinen künstlerischen Mitteln, trotz berühmter Einzelstücke der frühen Zeit wie des vielinterpretierten "Wartens auf die Barbaren". Bis 1911 entstanden nur vierundzwanzig Gedichte, die für ihn "gültig" waren. Und nach einer intensiveren Schaffensphase war er auch in den beiden letzten Lebensjahrzehnten kein Produktionsgenie. Bereits veröffentlichte Texte wurden immer wieder überarbeitet. Das Ergebnis waren Gedichte von oft makelloser Präzision und raffinierter Simplizität, weit entfernt von der lyrischen Emphase und rhetorischen Überhöhung der griechischen Zeitgenossen, ihrer an Gott, Natur und Nation sich berauschenden pompösen Spätromantik. Kavafis setzte dagegen: Knappheit der Mittel, kontrollierte Form, realistische Kargheit, diskrete Ironie. Damit wurde er, sosehr er aus den Tiefen der hellenistischen Vergangenheit schöpfte, zum Autor der Moderne.
Die erste deutsche Kavafis-Übersetzung erschien 1942 in Jerusalem, erstaunlich früh, doch durch die Zeitumstände zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Bahnbrechend war im Jahre 1953 die - noch unvollständige, die meisten erotischen Gedichte aussparende - Übersetzung von Helmut von den Steinen. Mit ihr fand der Dichter aus Alexandria auch in Deutschland Eingang ins Museum der modernen Poesie. 1983 legte Wolfgang Josing eine Kavafis-Edition vor, die das vollständige vom Dichter autorisierte Werk umfaßte. Die neue, von Robert Elsie herausgegebene und übersetzte Ausgabe präsentiert in einem stattlichen Band von fast sechshundert Seiten das "Gesamtwerk": neben den "kanonischen Gedichten" erstmals auch die "unveröffentlichten", "verworfenen" und "unvollendeten", ferner das lyrische Frühwerk und die Prosa der jungen Jahre. Die Vorzüge der Ausgabe sind nicht hoch genug zu rühmen: die noble Ausstattung, das großzügige Druckbild, die Zweisprachigkeit der Gedichte, die Sorgfalt in Anmerkungen, Zeittafel und Bibliographie. Elsies Übersetzung ist ungemein textgetreu, ohne "nachdichterischen" Ehrgeiz. Sie trifft den erzählerischen Duktus vieler Gedichte in einer eher kargen und knappen Sprache von eigenem poetischem Reiz.
Erstmals hat man hier den ganzen Kavafis vor Augen. Und erkennt gerade beim Frühwerk die Mühe, die er aufwenden mußte, um den Bannkreis der Symbolisten zu verlassen, deren Traum vom "vollkommenen", wenngleich schmalen lyrischen Werk er dennoch weiterträumte. Von der eigenen Epoche, ihren geschichtlichen Umbrüchen hat er wenig wahrgenommen, vielleicht weil das Alexandria seiner Zeit im Windschatten weltgeschichtlicher Ereignisse lag. Kavafis hat von seinem Werk gesagt, daß es in seinem Leben wurzele. Doch sind die direkten autobiographischen Spuren darin weitgehend verwischt, und man kann ebensogut der Feststellung von Giorgos Seferis zustimmen, Kavafis "existiere nicht außerhalb seiner Gedichte". In seinem lyrischen Kosmos spielt die Natur, sonst eine der üppigsten Quellen dichterischer Produktion, so gut wie keine Rolle. Kavafis ist, nach einem Wort von Marguerite Yourcenar, eine "wollüstig im Menschlichen eingemauerte Seele".
Hauptreviere seiner Lyrik sind die moderne Großstadt und die Geschichte. Großstadt: die schäbigen Winkel, Hafenstraßen, Kaschemmen und Kafenions Alexandrias. Geschichte: der ferne Orient, Syrien, Kleinasien, Byzanz, die versunkene Welt des Hellenismus, von Kavafis herbeizitiert meist aus den Chroniken der postalexandrinischen Zeit. Auch die Geschichte erfaßt er nicht im "großen", sondern im vergänglichen Augenblick. Verrat, Untreue, Mißtrauen, die Machenschaften der Macht, Perfidie und Intrige bilden die Themen vieler Gedichte, angesiedelt in einer sinnlich-dekadenten Welt, die illusionslos, doch ohne Larmoyanz gesehen wird, mit melancholischer Ironie.
Immer wieder findet in Kavafis' Gedichten ein Austausch persönlicher und historischer Momente statt. Der Geschichte entnimmt er Beispiele und Zitate, die auch für ein modernes Szenario taugen, er deckt durch die Maske des Hellenismus die persönliche Verwundung. Seine Verse verewigen die Momentaufnahmen erotischer Streifzüge durch die Quartiere der Lust, die scharf konturierten Bilder von Knaben, Körpern und brennenden Augen. "Körper, erinnere dich . . .": Dieser Titel eines Kavafis-Gedichtes ist eine Art von geheimem Leitmotiv. Falsch wäre es, in den erotischen Gedichten Liebesgedichte zu sehen, niemals richten sie sich an ein konkretes Gegenüber. Es sind Gedichte über die Liebe - eine Sammlung von Augenblicken der Lust, aus der Erinnerung beschworen. Die Emotion ist darin fast erloschen und weicht einem gelassenen Hedonismus, der jedes Sündenbewußtsein hinter sich gelassen hat: "Freude und Weihrauch meines Lebens, die Erinnerung an die Stunden, / Da ich die Wollust fand und genoß, wie ich sie wollte. / Freude und Weihrauch meines Lebens, daß ich / Alle üblichen Liebesfreuden von mir gewiesen habe."
Manche Gedichte von Kavafis, vor allem aus später Zeit, gewinnen die Qualität von Lehrgedichten. Ihr glühender Kern ist umschlossen von einer Schale aus Lakonismus und Weisheit. Auch darin war er ein Dichter des Alters, daß er die Geschichte als Ausdrucksmedium begriff und das Alter der Welt mit Bewußtsein erlebte. Brecht hatte Kavafis vor Augen, als er einem Gedicht die Überschrift gab: "Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters." Wystan Hugh Auden und Joseph Brodsky haben Kavafis gehuldigt. Marguerite Yourcenar hat einen souveränen Essay über ihn geschrieben, der dieser ersten deutschen Ausgabe des "Gesamtwerks" als Einführung vorangestellt ist.
Konstantinos Kavafis: "Das Gesamtwerk". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Griechischen übertragen und herausgegeben von Robert Elsie. Mit einer Einführung von Marguerite Yourcenar. Ammann Verlag, Zürich 1997. 576 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main