»Nooteboom, der Augenmensch und Reisende, der Liebhaber von Fotografie und Malerei, liefert uns keine lyrischen Reiseimpressionen, sondern Meditationen über Sehen und Schauen, Das Gesicht des Auge. Paradoxie ist im Spiel, mehr noch: Mystik. Gleich zu Beginn heißt es lapidar: 'Wer nicht das Anschauen bricht, / sieht nichts.' Aber wie bricht man das Anschauen? Durch Gesetz und Konstruktion. Der Gedichtsequenz ist das Muster einer musikalischen Messe unterlegt...« Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1996Archäologie des Augenscheins
Gallert und Gestalt: Cees Nooteboom schreibt auch Gedichte
Cees Nooteboom ist nicht nur ein bedeutender Erzähler, er schreibt auch Gedichte, gute Gedichte. Das muß nicht zwangsläufig so sein, im Gegenteil. Verirrt sich ein Prosaist in die Lyrik, wuchert in den Versen oft redundantes Sprachmaterial. Schreibt ein Lyriker Prosa, verhakt er sich gern am Detail und bremst den Fluß der Ereignisse immer wieder ab. Nooteboom aber zeigt, wie beide poetische Strategien, die ausgreifend erzählende und die elliptisch verdichtende, anzuwenden sind, ohne bestehende Grenzen zu verwischen. Zwischen epischer Formulierung und lyrischem Sprechakt findet er einen gemeinsamen Nenner: die Archäologie des Sehens. Gedicht für Gedicht entwirft er so unter der Hand eine Poetik, die auch seinen Erzählungen und Romanen entspricht.
"In Wahrheit, was ist sie, die Literatur, wenn nicht diese geistige Nachstellung, als Diskurs unternommen zwecks der Bestimmung oder, in Hinsicht auf sich selber, der Beweisführung, daß das Schauspiel einem imaginären Verstehen entspricht, es ist wahr, in der Hoffnung, sich darin zu spiegeln." Dieses Notat stammt von Stéphane Mallarmé aus dem Jahre 1895, und es trifft, ein Jahrhundert vorweggenommen, ins Zentrum dieser Gedichte. Denn der Zyklus "Das Gesicht des Auges" beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema der fehlenden Übereinkunft von Sprachwelt und Realwelt, von reflektierter und von erlebter Wirklichkeit. Während allerdings Mallarmé das Dilemma der Nichtabbildbarkeit durch eine in Sprache gebrachte und aus Sprache hervorgehende Musikalität zu lösen versuchte, da "Musik und Literatur das wechselseitige Antlitz, hier zur Dunkelheit sich weitend, aufleuchtend da mit Gewißheit, ein und desselben Phänomens sind, ich nannte es die Idee", setzt Nootebooms Skepsis schon vorher ein.
Nicht erst der Sprachgebrauch unterliegt einer gesellschaftlichen Manipulation. Schon die Sprachbildung scheint ihm zu ideologisieren: "Schau auf die Dinge, wie stehen sie da / in ihrer metaphysischen Unschuld, / ungewiß ihres Daseins." Die Daseinsgewißheit, aber auch die Schuld beginnt beim Betrachten, und die Betrachtung ist ein Lichtreiz auf der Netzhaut des Auges. "Die sichtbare Welt schleust das Bild / durchs geöffnete Auge. Das innere Auge / entfaltet es, macht es neu / in neuen Helligkeiten. Denen gib Namen."
Das Auge ist der Ort, der Bewußtsein und damit Irrtümer schafft. Zugleich formuliert das Auge, indem es anschaut und Dinge in den Blick nimmt, ein Begehren; es äußert das Motiv des Betrachters. "Wir sind gefangen in unserer Absicht, deine Augen / sind außerhalb, wie bei Argus, bevor ihn Hermes erschlug." Die angeredete Person in dieser Zeile, die auch in anderen Gedichten wiederkehrt, ist das Alter ego des Autors, eine blinde Figur in einer sehenden. So kreisen die lyrischen Zeilen monologisch um die sichtbare Welt und löschen stets aus, was sie erschaffen. Sie sind "Übung(en) in Rechtsinnigkeit / gegen den Betrug / des Sehens. / Der Heilige mit dem Löwen / und dem Schädel / ist kein Sänger. / Wer nicht das Anschauen / bricht, / sieht nichts."
Dieser "Bruch des Sehens", verstanden als ein Bruch mit herrschenden Deutungsprinzipien, denn "Jedes Bild / ist ein Erbstück / von Bildern", ist allerdings noch nicht gleichbedeutend damit, ein freies, von Wissen unbelastetes Verhältnis zu den Dingen gewonnen zu haben. Vielmehr führt er zu einer weiteren Abstraktion des Blickes, bis dieser seine Natur und Natürlichkeit abgestreift hat und im Angeschauten nur noch den Symbolwert erkennt, das heißt die zur Sprache taugliche Wahrheit.
Es ist reiner Gedankenstoff, der aufgehäuft und im Rhythmus eines oft sinnzersetzenden Sprechens verstechnisch gegliedert wird. Genau kalkuliert formieren sich Denksätze zu Bildern, die deshalb nicht surreal verschwimmen, da sie an einem umrissenen Ausgangspunkt des Gedankens fixiert bleiben. Die Logik der Metapher ist gewissermaßen über die Metapher geschaltet, und sei es auch nur mit einem Wort.
"Innerhalb der gläsernen Kuppel, / deren Glas kein Glas ist, / der zähen Gallerte / aus Einsicht und Aussicht, / sehen sie sich, / eine Spiegelung, reduziert / auf ein Auge. // Sehender Stein, der blutet, / Diamant mit Apfel und Iris, / Haut, Ball, Netz, Lid, / Spielzeug für Seelen. // In diesem gekrümmten All / vollzieht sich ihr Leben, / zur Ansicht bei sich selbst, / dem runden Gesicht des Sehers / hinter dem Schleier der Braut." Dieses Gedicht mit dem Titel "Erleuchtung" ist nicht nur eines der schönsten dieser konzentrierten, ein Thema immer wieder neu aufgreifenden Sammlung. Es gibt darüber hinaus sehr prägnant Auskunft über ein Verfahren, das, ganz im Geist Mallarmés, nichts mit Worten sagen will, sondern über sie etwas sagt. Man kann Textgebilde wie dieses tatsächlich "ansehen". KURT DRAWERT
Cees Nooteboom: "Das Gesicht des Auges". Gedichte. Niederländisch und deutsch in der Übertragung von Ard Posthuma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 85 S., geb., 18,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gallert und Gestalt: Cees Nooteboom schreibt auch Gedichte
Cees Nooteboom ist nicht nur ein bedeutender Erzähler, er schreibt auch Gedichte, gute Gedichte. Das muß nicht zwangsläufig so sein, im Gegenteil. Verirrt sich ein Prosaist in die Lyrik, wuchert in den Versen oft redundantes Sprachmaterial. Schreibt ein Lyriker Prosa, verhakt er sich gern am Detail und bremst den Fluß der Ereignisse immer wieder ab. Nooteboom aber zeigt, wie beide poetische Strategien, die ausgreifend erzählende und die elliptisch verdichtende, anzuwenden sind, ohne bestehende Grenzen zu verwischen. Zwischen epischer Formulierung und lyrischem Sprechakt findet er einen gemeinsamen Nenner: die Archäologie des Sehens. Gedicht für Gedicht entwirft er so unter der Hand eine Poetik, die auch seinen Erzählungen und Romanen entspricht.
"In Wahrheit, was ist sie, die Literatur, wenn nicht diese geistige Nachstellung, als Diskurs unternommen zwecks der Bestimmung oder, in Hinsicht auf sich selber, der Beweisführung, daß das Schauspiel einem imaginären Verstehen entspricht, es ist wahr, in der Hoffnung, sich darin zu spiegeln." Dieses Notat stammt von Stéphane Mallarmé aus dem Jahre 1895, und es trifft, ein Jahrhundert vorweggenommen, ins Zentrum dieser Gedichte. Denn der Zyklus "Das Gesicht des Auges" beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema der fehlenden Übereinkunft von Sprachwelt und Realwelt, von reflektierter und von erlebter Wirklichkeit. Während allerdings Mallarmé das Dilemma der Nichtabbildbarkeit durch eine in Sprache gebrachte und aus Sprache hervorgehende Musikalität zu lösen versuchte, da "Musik und Literatur das wechselseitige Antlitz, hier zur Dunkelheit sich weitend, aufleuchtend da mit Gewißheit, ein und desselben Phänomens sind, ich nannte es die Idee", setzt Nootebooms Skepsis schon vorher ein.
Nicht erst der Sprachgebrauch unterliegt einer gesellschaftlichen Manipulation. Schon die Sprachbildung scheint ihm zu ideologisieren: "Schau auf die Dinge, wie stehen sie da / in ihrer metaphysischen Unschuld, / ungewiß ihres Daseins." Die Daseinsgewißheit, aber auch die Schuld beginnt beim Betrachten, und die Betrachtung ist ein Lichtreiz auf der Netzhaut des Auges. "Die sichtbare Welt schleust das Bild / durchs geöffnete Auge. Das innere Auge / entfaltet es, macht es neu / in neuen Helligkeiten. Denen gib Namen."
Das Auge ist der Ort, der Bewußtsein und damit Irrtümer schafft. Zugleich formuliert das Auge, indem es anschaut und Dinge in den Blick nimmt, ein Begehren; es äußert das Motiv des Betrachters. "Wir sind gefangen in unserer Absicht, deine Augen / sind außerhalb, wie bei Argus, bevor ihn Hermes erschlug." Die angeredete Person in dieser Zeile, die auch in anderen Gedichten wiederkehrt, ist das Alter ego des Autors, eine blinde Figur in einer sehenden. So kreisen die lyrischen Zeilen monologisch um die sichtbare Welt und löschen stets aus, was sie erschaffen. Sie sind "Übung(en) in Rechtsinnigkeit / gegen den Betrug / des Sehens. / Der Heilige mit dem Löwen / und dem Schädel / ist kein Sänger. / Wer nicht das Anschauen / bricht, / sieht nichts."
Dieser "Bruch des Sehens", verstanden als ein Bruch mit herrschenden Deutungsprinzipien, denn "Jedes Bild / ist ein Erbstück / von Bildern", ist allerdings noch nicht gleichbedeutend damit, ein freies, von Wissen unbelastetes Verhältnis zu den Dingen gewonnen zu haben. Vielmehr führt er zu einer weiteren Abstraktion des Blickes, bis dieser seine Natur und Natürlichkeit abgestreift hat und im Angeschauten nur noch den Symbolwert erkennt, das heißt die zur Sprache taugliche Wahrheit.
Es ist reiner Gedankenstoff, der aufgehäuft und im Rhythmus eines oft sinnzersetzenden Sprechens verstechnisch gegliedert wird. Genau kalkuliert formieren sich Denksätze zu Bildern, die deshalb nicht surreal verschwimmen, da sie an einem umrissenen Ausgangspunkt des Gedankens fixiert bleiben. Die Logik der Metapher ist gewissermaßen über die Metapher geschaltet, und sei es auch nur mit einem Wort.
"Innerhalb der gläsernen Kuppel, / deren Glas kein Glas ist, / der zähen Gallerte / aus Einsicht und Aussicht, / sehen sie sich, / eine Spiegelung, reduziert / auf ein Auge. // Sehender Stein, der blutet, / Diamant mit Apfel und Iris, / Haut, Ball, Netz, Lid, / Spielzeug für Seelen. // In diesem gekrümmten All / vollzieht sich ihr Leben, / zur Ansicht bei sich selbst, / dem runden Gesicht des Sehers / hinter dem Schleier der Braut." Dieses Gedicht mit dem Titel "Erleuchtung" ist nicht nur eines der schönsten dieser konzentrierten, ein Thema immer wieder neu aufgreifenden Sammlung. Es gibt darüber hinaus sehr prägnant Auskunft über ein Verfahren, das, ganz im Geist Mallarmés, nichts mit Worten sagen will, sondern über sie etwas sagt. Man kann Textgebilde wie dieses tatsächlich "ansehen". KURT DRAWERT
Cees Nooteboom: "Das Gesicht des Auges". Gedichte. Niederländisch und deutsch in der Übertragung von Ard Posthuma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 85 S., geb., 18,80 DM.
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