Herausragende Charaktere zertrümmerten im 20. Jahrhundert die gewohnte Ordnung und gaben der Weltgeschichte eine neue Richtung: "Monster" wie Hitler und Stalin, die Abermillionen Opfer hinterließen, "Retter" wie Roosevelt und Churchill, "Mediokritäten" wie Wilhelm II. und Nikolaus II., die ganze Imperien ruinierten. Hans-Peter Schwarz lädt ein, dieses Zeitalter der Diktatoren, der Freiheitskämpfer und der Eroberer zu besichtigen. Er versammelt in dieser einmaligen Porträtgalerie Persönlichkeiten, die das Jahrhundert der Weltkriege prägten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.1999Tyrannen und Staatsmänner
Hans-Peter Schwarz blickt in das Gesicht des zwanzigsten Jahrhunderts
Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Siedler Verlag, Berlin 1998. 845 Seiten, 103 Abbildungen, 68,- Mark.
Es ist originell, "Das Gesicht des 20. Jahrhunderts" als eine Abfolge von Lebensbildern zu zeichnen. Hans-Peter Schwarz hat diese Idee verwirklicht: Als Resultat liegt eine rundum gelungene Darstellung vor. Sachkundig führt der Autor "durch ein Geschichtsmuseum . . ., in dem die Porträts verschiedener Größen des 20. Jahrhunderts zu betrachten sind". In der Tat, kaum ein Säkulum zuvor hat eine solche Vielzahl außergewöhnlicher Persönlichkeiten hervorgebracht: eine ganze Galerie von "Extrapersonen", die Schwarz vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und geistigen Verhältnisse der Zeit präsentiert.
So zu verfahren, also die Geschichte eines Zeitalters im Spiegel seiner Persönlichkeiten zu betrachten, wirkt, zumal nach der ebenso fesselnden wie ertragreichen Lektüre dieses Opus magnum, bis zum Selbstverständlichen plausibel. Dennoch ist das kühne Unternehmen, das Schwarz gewagt hat, alles andere als üblich. Denn in der Historiographie hat über einen langen Zeitraum hinweg ein argumentativ kaum zu beirrender Primat der Gesellschaftsgeschichte dominiert: Mit nicht selten doktrinär wirkender Anstrengung ist sie darum bemüht, jedes individuelle und intentionale Handeln im überpersönlichen Zusammenhang aufgehen zu lassen. Inzwischen hat diese Orientierung der Geschichtswissenschaft, die längst schon zu einer "neuen Orthodoxie" abgesunken war, ihren Zenit überschritten; die notorische Fortschrittlichkeit ihrer in die Jahre gekommenen Repräsentanten wirkt so zünftig, wie ihre Ergebnisse oftmals nur noch langweilig sind. Hohe Zeit also, um, im Sinne eines Wortes von Karl Marx, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen: Hans-Peter Schwarz' überzeugende Deutung unseres Jahrhunderts hat sich dieser Aufgabe mit weitreichender Erklärungskraft unterzogen.
Vor dem Hintergrund des "langen", von 1789 bis 1914 währenden 19. Jahrhunderts tauchen jene Monarchen aus den Jahren vor 1914 auf, Franz Joseph der Erste, Nikolaus der Zweite und Wilhelm der Zweite, die zu "Ruinierern ihrer Imperien" geworden sind und folglich keine Erben mehr hatten. Aus ihrem Versagen zogen neue Potenzen Kraft, aus ihrer Schwäche entstand Gewalt, ihre Dekadenz verlangte nach Vitalität, deren Erscheinungsformen sich vom Verheißungsvollen bis zum Verbrecherischen erstreckten. Erst einmal schien die Zeit reif zu sein für eine sich allerorten ausbreitende Spezies cäsaristischer Generale: Von Hindenburg über Atatürk bis de Gaulle haben sie das neue Jahrhundert in vielfältiger Art und Weise geprägt. Allein, hinter den vom Waffengang der Jahre zwischen 1914 und 1918 begünstigten Kriegsgöttern lauerten im Untergrund bereits jene "Monster", die durch Krieg und Revolution aus den Gullys der Zivilisation an die Macht gespült wurden: Lenin, den Schwarz - in Analogie zu der von George Kennan sogenannten "Urkatastrophe" des Jahres 1914 - als "die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" kennzeichnet; Stalin, "eine Bestie, aber immerhin von Format"; Mussolini, der "Vorbild-Diktator"; Hitler, der "Universalputschist"; und Mao Tse-tung, "ein Monster mit dem Mandat des Himmels".
Manches vom Schicksal dieser "Söhne des Chaos" weist nach dem Urteil des Autors weit über die eigene, leidgeprüfte Zeit hinaus in das kommende 21. Jahrhundert: Stalins Aufstieg aus einem Dritte-Welt-Land wie Georgien an die Spitze der russischen Weltmacht erscheint ihm wie ein exemplarisches Menetekel für zukünftige Heimsuchungen, und Tschiang Kai-scheks mafiöse Warlord-Existenz könnte gleichfalls vom Unheilbringenden vor uns liegender Dekaden künden. Denn die über Jahrhunderte verbindliche Tatsache, wonach einzelne Persönlichkeiten nur dann zu vorteilhafter oder schrecklicher Größe zu wachsen vermochten, wenn sie ihre Karriere mit den Möglichkeiten einer Großmacht verbinden konnten, gilt längst nicht mehr uneingeschränkt. Da der Großmachtbegriff, in bezug auf seine klassischen Kategorien von Raum und Bevölkerung beispielsweise, durch die moderne Waffentechnik relativiert wird, könnte dieser Wandel zu einer Inflation von verantwortungslosem Potentatentum führen. Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts senkte sich die Waage der Geschichte schließlich in die andere, die bessere Richtung. Gewiß, die Staatsmänner der alten Demokratien in Europa versagten während der Zwischenkriegszeit eher, als daß sie mit den neuen Herren der Geschichte, den scheinbaren Rettern und tatsächlichen Tyrannen, fertig geworden wären. Dabei verfügten sie wie beispielsweise Herbert Asquith durchaus über entschlossene "Führungskraft", die freilich im Falle dieses englischen Premierministers aus dem Zeitraum vor und nach der Zäsur des Jahres 1914 mit einer kaum zu überbietenden Phantasielosigkeit gepaart war. David Lloyd George und Stanley Baldwin, Ramsay MacDonald und Neville Chamberlain, Georges Clemenceau und Raymond Poincaré, Aristide Briand und Gustav Stresemann vermochten, alles in allem jedenfalls, das Steuer einer auf den Abgrund zutreibenden Zeit nicht herumzureißen. Erst in der Ausnahmesituation des Zweiten Weltkriegs gelang es Winston Churchill, der über Jahre hinweg nur als "brillanter Versager" verspottet worden war, um den Preis des britischen Empire die Freiheit seines Landes zu verteidigen, zumal er mit Franklin Delano Roosevelt den neuen "Cäsar" der amerikanischen Republik an seiner Seite hatte.
Mit der mächtigen "Gründergeneration der freien Welt", mit Harry S. Truman und Dwight D. Eisenhower, mit Clement Attlee und Ernest Bevin, mit Harold Macmillan, Konrad Adenauer und David Ben Gurion, gewann die Erste Welt, die sich von der Zweiten, der kommunistischen, tödlich herausgefordert sah, ihre erforderliche Stabilität. Zur gleichen Zeit schickten sich die "Größen der Dritten Welt", Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, Gamal Abdel Nasser, Kwameh Nkrumah und Josip Broz, genannt Tito, schließlich auch Indira Gandhi an, die westlichen Ideen des Nationalstaats und des Selbstbestimmungsrechts in die Tat umzusetzen: Zweifellos hat die damit einhergehende Befreiung vom Joch des Kolonialismus die Weltgeschichte von Grund auf revolutioniert.
Daß die "kritischen Dekaden" seit dem Beginn der sechziger Jahre nicht ganz aus den Fugen geraten sind, ist weniger den amerikanischen Präsidenten Kennedy, Johnson, Nixon, Ford und Carter, den "fünf Unglücksraben", wie Schwarz sie charakterisiert, zu verdanken, geht auch nicht auf das Konto der "ahnungslosen Ruinierer ihres Imperiums", Chruschtschow und Breschnew, und stand kaum im Vermögen der europäischen Staatsmänner dieser Zeit, von Harold Wilson und James Callaghan, von Helmut Schmidt, Willy Brandt und François Mitterrand, der "Galionsfigur eines höchst beweglichen Immobilismus". Dieses Verdienst rechnet der Autor viel- mehr den großen Bewegern unserer Zeit zugute, Ronald Reagan und George Bush, Margaret Thatcher und Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, den nicht wenige für "den größten Reformer des Jahrhunderts" halten, und Deng Xiaoping, den Hans-Peter Schwarz als "den intelligentesten Reformer" vorstellt, "den die gesamte Geschichte der kommunistischen Weltbewegung bislang aufzuweisen hat".
Damit hat der Autor die unmittelbare Gegenwart erreicht, in der sich eine fundamentale Besinnung auf das Religiöse beobachten läßt, mehr und mehr sogar an Raum gewinnt und in gegensätzlicher, nicht selten sogar feindlicher Orientierung nach Herrschaft verlangt: Erfolgreich führte Papst Johannes Paul II. seinen Kampf gegen die atheistische Welt des sowjetischen Kommunismus; und in der gleichsam aus vormodernen Zeiten in unser Jahrhundert verschlagenen Persönlichkeit das Ajatollah Chomeini erblickt der Autor die Inkarnation eines "gnadenlosen Aufstandes gegen die Modernität", der im globalen Zusammenhang voranschreite. Im Angesicht dieser Herausforderungen, eines friedlich oder kriegerisch ausgetragenen Kampfes der Kulturen, plädiert Hans-Peter Schwarz am Ende eines Buches, das nur scheinbar pessimistisch gestimmt ist, mit überzeugenden, der Historie entlehnten Argumenten dafür, sich durch die Begegnung mit dem Unheil dieser Welt nicht tatenscheuer Verzweiflung zu überlassen, sondern vielmehr, von Interessen und Werten geleitet, vernünftig zu handeln. Denn der prüfende Blick in das Gesicht des Jahrhunderts zeigt: Tatsächlich ist, so lautet das nüchtern gezogene Resümee des Autors, dank einer Handvoll außergewöhnlicher Staatsmänner das Zeitalter schließlich doch nicht allein zum Jahrhundert der Tyrannen geworden. Vielmehr präsentiert es sich als eine Epoche, in der sich viele Länder und lange Perioden finden, die durch Freiheit, Ordnung, Massenwohlstand und Zivilisiertheit ausgezeichnet waren. Bleibt abschließend nur, einem klugen Buch, das sich durch literarische Qualität auszeichnet und von der ersten bis zur letzten Seite an Spannung nichts einbüßt, viele Leser zu wünschen, die wissen wollen, was es mit unserem Jahrhundert auf sich hat.
KLAUS HILDEBRAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans-Peter Schwarz blickt in das Gesicht des zwanzigsten Jahrhunderts
Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Siedler Verlag, Berlin 1998. 845 Seiten, 103 Abbildungen, 68,- Mark.
Es ist originell, "Das Gesicht des 20. Jahrhunderts" als eine Abfolge von Lebensbildern zu zeichnen. Hans-Peter Schwarz hat diese Idee verwirklicht: Als Resultat liegt eine rundum gelungene Darstellung vor. Sachkundig führt der Autor "durch ein Geschichtsmuseum . . ., in dem die Porträts verschiedener Größen des 20. Jahrhunderts zu betrachten sind". In der Tat, kaum ein Säkulum zuvor hat eine solche Vielzahl außergewöhnlicher Persönlichkeiten hervorgebracht: eine ganze Galerie von "Extrapersonen", die Schwarz vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und geistigen Verhältnisse der Zeit präsentiert.
So zu verfahren, also die Geschichte eines Zeitalters im Spiegel seiner Persönlichkeiten zu betrachten, wirkt, zumal nach der ebenso fesselnden wie ertragreichen Lektüre dieses Opus magnum, bis zum Selbstverständlichen plausibel. Dennoch ist das kühne Unternehmen, das Schwarz gewagt hat, alles andere als üblich. Denn in der Historiographie hat über einen langen Zeitraum hinweg ein argumentativ kaum zu beirrender Primat der Gesellschaftsgeschichte dominiert: Mit nicht selten doktrinär wirkender Anstrengung ist sie darum bemüht, jedes individuelle und intentionale Handeln im überpersönlichen Zusammenhang aufgehen zu lassen. Inzwischen hat diese Orientierung der Geschichtswissenschaft, die längst schon zu einer "neuen Orthodoxie" abgesunken war, ihren Zenit überschritten; die notorische Fortschrittlichkeit ihrer in die Jahre gekommenen Repräsentanten wirkt so zünftig, wie ihre Ergebnisse oftmals nur noch langweilig sind. Hohe Zeit also, um, im Sinne eines Wortes von Karl Marx, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen: Hans-Peter Schwarz' überzeugende Deutung unseres Jahrhunderts hat sich dieser Aufgabe mit weitreichender Erklärungskraft unterzogen.
Vor dem Hintergrund des "langen", von 1789 bis 1914 währenden 19. Jahrhunderts tauchen jene Monarchen aus den Jahren vor 1914 auf, Franz Joseph der Erste, Nikolaus der Zweite und Wilhelm der Zweite, die zu "Ruinierern ihrer Imperien" geworden sind und folglich keine Erben mehr hatten. Aus ihrem Versagen zogen neue Potenzen Kraft, aus ihrer Schwäche entstand Gewalt, ihre Dekadenz verlangte nach Vitalität, deren Erscheinungsformen sich vom Verheißungsvollen bis zum Verbrecherischen erstreckten. Erst einmal schien die Zeit reif zu sein für eine sich allerorten ausbreitende Spezies cäsaristischer Generale: Von Hindenburg über Atatürk bis de Gaulle haben sie das neue Jahrhundert in vielfältiger Art und Weise geprägt. Allein, hinter den vom Waffengang der Jahre zwischen 1914 und 1918 begünstigten Kriegsgöttern lauerten im Untergrund bereits jene "Monster", die durch Krieg und Revolution aus den Gullys der Zivilisation an die Macht gespült wurden: Lenin, den Schwarz - in Analogie zu der von George Kennan sogenannten "Urkatastrophe" des Jahres 1914 - als "die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" kennzeichnet; Stalin, "eine Bestie, aber immerhin von Format"; Mussolini, der "Vorbild-Diktator"; Hitler, der "Universalputschist"; und Mao Tse-tung, "ein Monster mit dem Mandat des Himmels".
Manches vom Schicksal dieser "Söhne des Chaos" weist nach dem Urteil des Autors weit über die eigene, leidgeprüfte Zeit hinaus in das kommende 21. Jahrhundert: Stalins Aufstieg aus einem Dritte-Welt-Land wie Georgien an die Spitze der russischen Weltmacht erscheint ihm wie ein exemplarisches Menetekel für zukünftige Heimsuchungen, und Tschiang Kai-scheks mafiöse Warlord-Existenz könnte gleichfalls vom Unheilbringenden vor uns liegender Dekaden künden. Denn die über Jahrhunderte verbindliche Tatsache, wonach einzelne Persönlichkeiten nur dann zu vorteilhafter oder schrecklicher Größe zu wachsen vermochten, wenn sie ihre Karriere mit den Möglichkeiten einer Großmacht verbinden konnten, gilt längst nicht mehr uneingeschränkt. Da der Großmachtbegriff, in bezug auf seine klassischen Kategorien von Raum und Bevölkerung beispielsweise, durch die moderne Waffentechnik relativiert wird, könnte dieser Wandel zu einer Inflation von verantwortungslosem Potentatentum führen. Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts senkte sich die Waage der Geschichte schließlich in die andere, die bessere Richtung. Gewiß, die Staatsmänner der alten Demokratien in Europa versagten während der Zwischenkriegszeit eher, als daß sie mit den neuen Herren der Geschichte, den scheinbaren Rettern und tatsächlichen Tyrannen, fertig geworden wären. Dabei verfügten sie wie beispielsweise Herbert Asquith durchaus über entschlossene "Führungskraft", die freilich im Falle dieses englischen Premierministers aus dem Zeitraum vor und nach der Zäsur des Jahres 1914 mit einer kaum zu überbietenden Phantasielosigkeit gepaart war. David Lloyd George und Stanley Baldwin, Ramsay MacDonald und Neville Chamberlain, Georges Clemenceau und Raymond Poincaré, Aristide Briand und Gustav Stresemann vermochten, alles in allem jedenfalls, das Steuer einer auf den Abgrund zutreibenden Zeit nicht herumzureißen. Erst in der Ausnahmesituation des Zweiten Weltkriegs gelang es Winston Churchill, der über Jahre hinweg nur als "brillanter Versager" verspottet worden war, um den Preis des britischen Empire die Freiheit seines Landes zu verteidigen, zumal er mit Franklin Delano Roosevelt den neuen "Cäsar" der amerikanischen Republik an seiner Seite hatte.
Mit der mächtigen "Gründergeneration der freien Welt", mit Harry S. Truman und Dwight D. Eisenhower, mit Clement Attlee und Ernest Bevin, mit Harold Macmillan, Konrad Adenauer und David Ben Gurion, gewann die Erste Welt, die sich von der Zweiten, der kommunistischen, tödlich herausgefordert sah, ihre erforderliche Stabilität. Zur gleichen Zeit schickten sich die "Größen der Dritten Welt", Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, Gamal Abdel Nasser, Kwameh Nkrumah und Josip Broz, genannt Tito, schließlich auch Indira Gandhi an, die westlichen Ideen des Nationalstaats und des Selbstbestimmungsrechts in die Tat umzusetzen: Zweifellos hat die damit einhergehende Befreiung vom Joch des Kolonialismus die Weltgeschichte von Grund auf revolutioniert.
Daß die "kritischen Dekaden" seit dem Beginn der sechziger Jahre nicht ganz aus den Fugen geraten sind, ist weniger den amerikanischen Präsidenten Kennedy, Johnson, Nixon, Ford und Carter, den "fünf Unglücksraben", wie Schwarz sie charakterisiert, zu verdanken, geht auch nicht auf das Konto der "ahnungslosen Ruinierer ihres Imperiums", Chruschtschow und Breschnew, und stand kaum im Vermögen der europäischen Staatsmänner dieser Zeit, von Harold Wilson und James Callaghan, von Helmut Schmidt, Willy Brandt und François Mitterrand, der "Galionsfigur eines höchst beweglichen Immobilismus". Dieses Verdienst rechnet der Autor viel- mehr den großen Bewegern unserer Zeit zugute, Ronald Reagan und George Bush, Margaret Thatcher und Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, den nicht wenige für "den größten Reformer des Jahrhunderts" halten, und Deng Xiaoping, den Hans-Peter Schwarz als "den intelligentesten Reformer" vorstellt, "den die gesamte Geschichte der kommunistischen Weltbewegung bislang aufzuweisen hat".
Damit hat der Autor die unmittelbare Gegenwart erreicht, in der sich eine fundamentale Besinnung auf das Religiöse beobachten läßt, mehr und mehr sogar an Raum gewinnt und in gegensätzlicher, nicht selten sogar feindlicher Orientierung nach Herrschaft verlangt: Erfolgreich führte Papst Johannes Paul II. seinen Kampf gegen die atheistische Welt des sowjetischen Kommunismus; und in der gleichsam aus vormodernen Zeiten in unser Jahrhundert verschlagenen Persönlichkeit das Ajatollah Chomeini erblickt der Autor die Inkarnation eines "gnadenlosen Aufstandes gegen die Modernität", der im globalen Zusammenhang voranschreite. Im Angesicht dieser Herausforderungen, eines friedlich oder kriegerisch ausgetragenen Kampfes der Kulturen, plädiert Hans-Peter Schwarz am Ende eines Buches, das nur scheinbar pessimistisch gestimmt ist, mit überzeugenden, der Historie entlehnten Argumenten dafür, sich durch die Begegnung mit dem Unheil dieser Welt nicht tatenscheuer Verzweiflung zu überlassen, sondern vielmehr, von Interessen und Werten geleitet, vernünftig zu handeln. Denn der prüfende Blick in das Gesicht des Jahrhunderts zeigt: Tatsächlich ist, so lautet das nüchtern gezogene Resümee des Autors, dank einer Handvoll außergewöhnlicher Staatsmänner das Zeitalter schließlich doch nicht allein zum Jahrhundert der Tyrannen geworden. Vielmehr präsentiert es sich als eine Epoche, in der sich viele Länder und lange Perioden finden, die durch Freiheit, Ordnung, Massenwohlstand und Zivilisiertheit ausgezeichnet waren. Bleibt abschließend nur, einem klugen Buch, das sich durch literarische Qualität auszeichnet und von der ersten bis zur letzten Seite an Spannung nichts einbüßt, viele Leser zu wünschen, die wissen wollen, was es mit unserem Jahrhundert auf sich hat.
KLAUS HILDEBRAND
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