»Da war eine kleine Wolke / von Kinderhänden gehängt / in einen leeren Himmel.« So könnte eine kleine Schöpfungsgeschichte anfangen, aus den Kindertagen, als es noch so aussah, als sei die Welt überschaubar, und das war sie natürlich schon damals nicht. Weil sie es aber auch später nicht geworden ist, brauchen wir Gedichte, wirklich: Auch sie sind, jedes für sich und alles in allem, kleine Schöpfungsgeschichten. Ein Wort, ein Satz, und aus Bildern und Klängen, Erinnerungen und Phantasien entsteht ein neuer Kosmos, der an Empfindungen rührt, die wir kennen, und in Bereiche führt, die wir uns mit seiner Hilfe erst erschließen. Klaus Reichert weiß viel von diesem demiurgischen Zauber, und er weiß auch viel von den frühen Jahren, der Liebe, dem Wetter um uns und der Natur in uns. Das bringen diese Gedichte zu uns herüber.
Klaus Reicherts Gedichte: Man hört aus ihnen den professionellen Kenner, den Lehrer, den Übersetzer und Vermittler der Literatur, den sensiblen Wort-, Klang- und Versmeister heraus. Immer wieder spitzen ungekennzeichnete Zitate und Anspielungen auf literarische Werke aus seinen Versen hervor; man trifft auf die berühmten "gelben Birnen" Hölderlins und auf sein "Laub voll Trauer", auf Matthias Claudius' "Abendhauch" und auf Büchners "langes Wort", auf Günter Eichs Enttäuschung über "zu viel Abendland" in Rom; und Formulierungen Ingeborg Bachmanns werden gleich mehrfach aufgegriffen, ganz abgesehen von den Gedichten auf den amerikanischen Lyriker Robert Creeley, dessen Werk Reichert übersetzt hat, und auf Friederike Mayröcker, deren Prosa er herausgegeben hat. Doch trotz so viel Gelehrsamkeit wirken die Gedichte anstrengungslos, locker gefügt, nicht belehrend. Der Band gliedert sich in drei Teile, die von den Erinnerungen an die Kindheit in der Nachkriegszeit über die Liebes-, Lebens- und Reiseerfahrungen der fortgeschrittenen Jahre bis zu den Gedanken über Spät- und Endzeiten führen. Alle drei Teile werden zusammengebunden durch die übergeordnete Thematik der Ununterscheidbarkeit von Anfang und Ende, von Erkenntnis und Fragwürdigkeit, vom Bleiben und Vergehen, von der Einsicht in die Begrenztheit und Grenzenlosigkeit des Daseins, kurz: vom Hin und Her, wie es in Wind und Wellen, in den Gezeiten und in den Wolken von Zeit zu Zeit flüchtige Gestalt gewinnt, wie das Gedicht selbst: "GEDICHT, das nur vorüberhuscht, / als wäre nichts gewesen. / Der Sturz des Ikarus - ein Kräuseln / im Meer, das sich gleich schließt". (Klaus Reichert: "Das Gesicht in den Wolken". Gedichte. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2009. 87 S., geb., 18,- [Euro].) WSg
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hans-Herbert Räkel lobt den Autor als Übersetzer. Dass Klaus Reichert nun selber dichtet, kann er ihm nicht verübeln. Und wenn Reichert die Selbstverleugnung gelingt, findet Räkel die in diesem Band versammelten Texte über Erlebtes, Vergangenes und die Liebe sogar gelungen. Leider ist das nicht immer der Fall, und Räkel vernimmt den Autor hinter den Zeilen. Einmal in seinem "betulichen" Bemühen um Effekte. Ein anderes Mal im Versuch, "erotisch zu werden". Laut Räkel ein eher peinliches Unternehmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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