Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eins nimmt der total begeisterte Rezensent Milo Rau vorweg: Lydie Salvayres Figuren sind nicht sympathisch. Eher kommen sie der Hauffschen Beschreibung des "Menschen als Haustier" nahe, und tun dies doch auf eine spannungsgeladene Weise. In der Tat, erklärt der Rezensent, handelt es sich bei ihnen um "belesene Bestien", die man als "Zuchtüberschuss der Post-Evolution" beschreiben könnte. In "Das Gewicht der Erinnerung" etwa setze Salvayre eine alte Frau und ihre Tochter während der Hausbesichtigung durch den Gerichtsvollzieher in Szene. Die Mutter überschütte den Mann mit der Schilderung furchtbarer Geschehnisse während der deutschen Besatzung, und treibe damit zunächst die Tochter in den Wahnsinn. Mehr und mehr stelle sich dieses Szenario allerdings als Gegenüberstellung der "tonlos und präzise" funktionierenden Gesellschaft - mit ihrem von Salvayre verhassten "Jargon", ihrer "Wichtigtuerei" und ihrer "Wortbeschneidung" - und ihres aufbegehrenden, menschlichen Opfers, dem die Sprache gegeben ist. In regelrechten "Oralkaskaden", so der Rezensent, setze sich die Mutter zur Wehr. Wie alle Figuren bei Salvayre spreche sie, weil Verbrechen nicht vergangen sind, sondern "zum Himmel stinken". Doch geht es laut Rezensent nicht darum, die Welt zu zeigen wie sie ist, und auch nicht darum, Mitleid zu erregen. Dafür sind die Figuren "zu intelligent, zu ironisch". Es gehe vielmehr um einen apokalyptischen "Kreuzzug der Sprache", der sich gegen jedes beschwichtigende und vermeintlich ordnende Geplapper (etwa der Psychoanalyse) stelle. Was nicht bedeute, dass inmitten von Salvayres wahrhaft "Rabelaisischen Inzucht der Stile" auf das Denken verzichten würde, wie auch das Ende des Romans bezeuge: Der Gerichtsvollzieher wird von beiden Frauen hinausgeworfen - unter einem Zitat von Cato über die notwendige Bändigung des Bösewichts.
© Perlentaucher Medien GmbH
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