Malaysia in den Fünfzigerjahren: Der Ausnahmezustand wird verhängt, die Regierung fürchtet ein Übergreifen des Kommunismus aus China. Die junge Siew Li verlässt ihre Familie, um im Dschungel für die Freiheit zu kämpfen. Ihre Kinder werden aufwachsen, ohne von ihr zu wissen, ihr Mann wird alleine alt. Als sich jedoch die Londoner Journalistin Revathi auf die Spuren der damaligen Verbrechen begibt, wird daraus eine Suche nach der verschwundenen Siew Li, und Revathi taucht tief ein in die verdrängte Geschichte Malaysias und Singapurs. Von den 50er Jahren bis in die Gegenwart spannt sich Jeremy Tiangs berührender Roman einer Familie, deren Leben von politischer Willkür erschüttert und von der Suche nach der Wahrheit geleitet wird.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Fridtjof Küchemann lernt die Geschichte des Stadtstaates Singapur kennen mit Jeremy Tiangs sechs Jahrzehnte umspannendem Familienroman. Wie gewaltvoll diese war und welche Spuren sie in der Psyche ihrer Bewohner hinterlassen hat, das ist das Thema des Buches, erläutert der Rezensent. Tiangs klarer, nüchterner Ton, der dem drastischen Geschehen (koloniale Massaker, Bombenanschläge etc.) kontrastiert, geben der Geschichte laut Küchemann nur noch mehr Gewicht. Die Komposition aus familiärer Schicksals- und nationaler Gewaltgeschichte findet Küchmann gelungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2020Chrysanthemen sind keine Liebesgabe
Postkoloniale Traumatisierung: Jeremy Tiangs Familienroman aus der Geschichte Singapurs
Das Sterbebett könnte für den, der es erlebt, eine letzte Gelegenheit sein, von den Liebsten Abschied zu nehmen, Streitigkeiten beizulegen und Feindschaften zu beenden. Aber es bedeutet auch, Bilanz ziehen zu müssen und das kann zum irdischen Fegefeuer werden.
Jason, einer der sechs Erzähler in Jeremy Tiangs Roman „Das Gewicht der Zeit“, blickt verbittert auf sein Leben zurück. Wen hat er nicht alles verloren? Seine Schwester Mollie, die als junge Frau durch einen Terroranschlag ums Leben kam, 1965 während der Konfrontation zwischen Indonesien und Malaysia. Seine Frau Siew Li, die kurz zuvor verschwand und ihn und ihre dreijährigen Zwillinge zurückließ. Aktiv im linken Widerstand flüchtete sie vor staatlicher Verfolgung, um sich einer Gruppe kommunistischer Guerillakämpfer im Dschungel anzuschließen. Seinen Sohn Henry, der nach London ausgewandert ist, um dort an einer Universität Geschichte zu unterrichten. Und seine Tochter Janet, der es selbst an seinem Sterbebett schwerfällt, Zuneigung zu zeigen. Jason war seinen Kindern kein guter Vater. Er hat sie alleine groß gezogen, geschlagen und nie erzählt, wohin ihre Mutter ging. Als Henry alte Briefe von Siew Li entdeckt, fängt er aber an, nachzuforschen und folgt den Spuren der unbekannten Mutter.
Der aus Singapur stammende und in New York lebende Schriftsteller Jeremy Tiang erzählt in sechs Kapiteln, aus je einer anderen Perspektive die Geschichte einer singapurischen Familie seit den fünfziger Jahren. Seine Figuren sprechen von linkem Widerstand und staatlicher Unterdrückung. „Das Gewicht der Zeit“ wurde 2018 mit dem renommierten Singapore Literature Prize ausgezeichnet.
Es ist ein Buch über das Ausgeliefertsein an politische Umstände, über das Gefühl der Machtlosigkeit, und insofern sehr zeitgenössisch, so sehr es ein Kapitel postkolonialer Geschichte wiedergibt. Je nachdem, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird, lässt einen der Roman resigniert, zuversichtlich, kämpferisch und versöhnlich zurück.
Der englische Originaltitel „State of Emergency“, ist der Bessere, denn er lässt sich mit Notstandsgesetz oder Ausnahmezustand übersetzen, aber das „state“ kann man auch als „Staat“ deuten, sodass sich der Notstand eben auch auf das Land bezieht, in dem der Roman spielt. Denn Jeremy Tiang porträtiert Singapur als einen Staat, in dem der Notstand System hat.
In den fünfziger Jahren, Malaysia war noch englische Kolonie, wird der Ausnahmezustand zum ersten Mal verhängt. Die Regierung fürchtet, der Kommunismus aus China könnte übergreifen. Bürgerrechte werden eingeschränkt und die Polizei kann auf einmal Verdächtige ohne Anklage willkürlich wegsperren. So wird Siew Li noch als Schülerin inhaftiert. Der Abzug der Briten 1963 ändert daran wenig. Auch Stella, Siew Lis Nichte, wird unschuldig Opfer polizeilicher Willkür. Sie erfährt keine Unterstützung und die Presse berichtet einseitig. Bekannte und selbst Familienmitglieder haben Angst und sind bedacht auf den eigenen Vorteil. Die Geschichte wiederholt sich.
Tiang beschreibt ein Land, das nicht nur auf politischer Ebene von seiner kolonialen Vergangenheit geprägt ist. Die Singapurer chinesischer Abstammung, die größte ethnische Gruppe des Landes, sind gespalten. Die Oberschicht will sein wie die Briten, selbst die chinesische Sprache haben sie verlernt. Tiang zeigt ihre kulturelle Entfremdung am Beispiel unpassender Geschenke: Chrysanthemen symbolisieren nach chinesischem Brauch den Tod und werden für Beerdigungen besorgt. Jason überreicht Siew Li einen ganzen Strauß, als er ihr als Jugendlicher Avancen macht. Der nach England ausgewanderte Henry schenkt sie später seiner Schwester.
Siew Lis Mutter besteht darauf, deren künftigen Schwiegereltern Schweinefüße zu schicken, obwohl die Schwiegerfamilie zur englischsprachigen Elite Singapurs gehört und diese Tradition nicht kennt: „So viele Möglichkeiten, ein Mensch zu sein, und die meisten Leute waren überzeugt, ihr Weg sei der einzig richtige“, denkt Siew Li. Ein bemerkenswerter Relativismus, denn obwohl sie einen Jungen aus der Oberschicht geheiratet hat, wird sie sich den Ma Gong anschließen, einer Gruppe kommunistischer Widerstandskämpfer, bereit für die Sache zu töten.
Womöglich ist es die Geisteshaltung des Autors, die aus dieser Zeile spricht. Denn in „Das Gewicht der Zeit“ zeigt er Sympathie für all seine so unterschiedlichen Figuren, lässt verschiedene Sichten auf das Land, in dem sie leben, gleichberechtigt stattfinden. Jede seiner Figuren hat ihre Motive und so zeigt der Roman, mit welchen Traumata postkoloniale Staaten noch heute zu kämpfen haben, ohne vorwurfsvoll zu sein. Eine große Übung in Empathie.
THILO EGGERBAUER
„So viele Möglichkeiten, ein
Mensch zu sein“, und Sympathie
bringt Tiang für alle auf
Jeremy Tiang:
Das Gewicht der Zeit. Roman. Aus dem
Englischen von Susann Urban. Residenz Verlag, Salzburg 2020.
302 Seiten, 24 Euro.
Der Schriftsteller Jeremy Tiang, Jahrgang 1977.
Foto: Oliver Rockwell
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Postkoloniale Traumatisierung: Jeremy Tiangs Familienroman aus der Geschichte Singapurs
Das Sterbebett könnte für den, der es erlebt, eine letzte Gelegenheit sein, von den Liebsten Abschied zu nehmen, Streitigkeiten beizulegen und Feindschaften zu beenden. Aber es bedeutet auch, Bilanz ziehen zu müssen und das kann zum irdischen Fegefeuer werden.
Jason, einer der sechs Erzähler in Jeremy Tiangs Roman „Das Gewicht der Zeit“, blickt verbittert auf sein Leben zurück. Wen hat er nicht alles verloren? Seine Schwester Mollie, die als junge Frau durch einen Terroranschlag ums Leben kam, 1965 während der Konfrontation zwischen Indonesien und Malaysia. Seine Frau Siew Li, die kurz zuvor verschwand und ihn und ihre dreijährigen Zwillinge zurückließ. Aktiv im linken Widerstand flüchtete sie vor staatlicher Verfolgung, um sich einer Gruppe kommunistischer Guerillakämpfer im Dschungel anzuschließen. Seinen Sohn Henry, der nach London ausgewandert ist, um dort an einer Universität Geschichte zu unterrichten. Und seine Tochter Janet, der es selbst an seinem Sterbebett schwerfällt, Zuneigung zu zeigen. Jason war seinen Kindern kein guter Vater. Er hat sie alleine groß gezogen, geschlagen und nie erzählt, wohin ihre Mutter ging. Als Henry alte Briefe von Siew Li entdeckt, fängt er aber an, nachzuforschen und folgt den Spuren der unbekannten Mutter.
Der aus Singapur stammende und in New York lebende Schriftsteller Jeremy Tiang erzählt in sechs Kapiteln, aus je einer anderen Perspektive die Geschichte einer singapurischen Familie seit den fünfziger Jahren. Seine Figuren sprechen von linkem Widerstand und staatlicher Unterdrückung. „Das Gewicht der Zeit“ wurde 2018 mit dem renommierten Singapore Literature Prize ausgezeichnet.
Es ist ein Buch über das Ausgeliefertsein an politische Umstände, über das Gefühl der Machtlosigkeit, und insofern sehr zeitgenössisch, so sehr es ein Kapitel postkolonialer Geschichte wiedergibt. Je nachdem, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird, lässt einen der Roman resigniert, zuversichtlich, kämpferisch und versöhnlich zurück.
Der englische Originaltitel „State of Emergency“, ist der Bessere, denn er lässt sich mit Notstandsgesetz oder Ausnahmezustand übersetzen, aber das „state“ kann man auch als „Staat“ deuten, sodass sich der Notstand eben auch auf das Land bezieht, in dem der Roman spielt. Denn Jeremy Tiang porträtiert Singapur als einen Staat, in dem der Notstand System hat.
In den fünfziger Jahren, Malaysia war noch englische Kolonie, wird der Ausnahmezustand zum ersten Mal verhängt. Die Regierung fürchtet, der Kommunismus aus China könnte übergreifen. Bürgerrechte werden eingeschränkt und die Polizei kann auf einmal Verdächtige ohne Anklage willkürlich wegsperren. So wird Siew Li noch als Schülerin inhaftiert. Der Abzug der Briten 1963 ändert daran wenig. Auch Stella, Siew Lis Nichte, wird unschuldig Opfer polizeilicher Willkür. Sie erfährt keine Unterstützung und die Presse berichtet einseitig. Bekannte und selbst Familienmitglieder haben Angst und sind bedacht auf den eigenen Vorteil. Die Geschichte wiederholt sich.
Tiang beschreibt ein Land, das nicht nur auf politischer Ebene von seiner kolonialen Vergangenheit geprägt ist. Die Singapurer chinesischer Abstammung, die größte ethnische Gruppe des Landes, sind gespalten. Die Oberschicht will sein wie die Briten, selbst die chinesische Sprache haben sie verlernt. Tiang zeigt ihre kulturelle Entfremdung am Beispiel unpassender Geschenke: Chrysanthemen symbolisieren nach chinesischem Brauch den Tod und werden für Beerdigungen besorgt. Jason überreicht Siew Li einen ganzen Strauß, als er ihr als Jugendlicher Avancen macht. Der nach England ausgewanderte Henry schenkt sie später seiner Schwester.
Siew Lis Mutter besteht darauf, deren künftigen Schwiegereltern Schweinefüße zu schicken, obwohl die Schwiegerfamilie zur englischsprachigen Elite Singapurs gehört und diese Tradition nicht kennt: „So viele Möglichkeiten, ein Mensch zu sein, und die meisten Leute waren überzeugt, ihr Weg sei der einzig richtige“, denkt Siew Li. Ein bemerkenswerter Relativismus, denn obwohl sie einen Jungen aus der Oberschicht geheiratet hat, wird sie sich den Ma Gong anschließen, einer Gruppe kommunistischer Widerstandskämpfer, bereit für die Sache zu töten.
Womöglich ist es die Geisteshaltung des Autors, die aus dieser Zeile spricht. Denn in „Das Gewicht der Zeit“ zeigt er Sympathie für all seine so unterschiedlichen Figuren, lässt verschiedene Sichten auf das Land, in dem sie leben, gleichberechtigt stattfinden. Jede seiner Figuren hat ihre Motive und so zeigt der Roman, mit welchen Traumata postkoloniale Staaten noch heute zu kämpfen haben, ohne vorwurfsvoll zu sein. Eine große Übung in Empathie.
THILO EGGERBAUER
„So viele Möglichkeiten, ein
Mensch zu sein“, und Sympathie
bringt Tiang für alle auf
Jeremy Tiang:
Das Gewicht der Zeit. Roman. Aus dem
Englischen von Susann Urban. Residenz Verlag, Salzburg 2020.
302 Seiten, 24 Euro.
Der Schriftsteller Jeremy Tiang, Jahrgang 1977.
Foto: Oliver Rockwell
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2020Hat man euch gelehrt, mich zu hassen?
Warum verließ die Mutter Mann und Kinder ohne Abschied? Jeremy Tiang erzählt ein Familienschicksal aus seiner Heimat Singapur, verwoben mit deren Gewaltgeschichte.
Als er am Abend nach der Beerdigung des Vaters bei seiner Zwillingsschwester zum Essen eingeladen ist und die Fragen seines Schwagers - "Wie läuft's denn so?" - über sich ergehen lässt, kommt Henry die ganze Reise zurück nach Singapur bedeutungslos vor: "Was hatte er erwartet - dass er mit der Vergangenheit abschließen kann?" Nach Jahrzehnten in London ist dem Geschichtsprofessor die alte Heimat fremd geworden. Auch sein Vater war ihm seit langem fremd. Und seine Mutter? Die Zwillinge waren noch Babys, als sie verschwand, ohne Abschied, ohne Lebenszeichen. Ein paar Tage später findet Henry in der Wohnung des Vaters beim Aufräumen Briefe von damals, die dieser seinen Kindern nie gezeigt hat: "Ich hoffe, dass man euch nicht gelehrt hat, mich zu hassen", liest Henry. Man hatte die Kinder nichts gelehrt.
Mehr als sechs Jahrzehnte lässt Jeremy Tiang seinen ersten Roman "Das Gewicht der Zeit" umspannen. Um die Familie von Henry, seinem Vater Jason und seiner Mutter Siew Li, die sich 1961 den kommunistischen Rebellen im Dschungel von Malaya anschloss, und um die ihres Kampfgefährten Nam Teck spinnt er seine Erzählung der Nachkriegsvergangenheit Singapurs,vom Massaker, das britische Soldaten im Dezember 1948 unter den männlichen Bewohnern eines Dorfes in Batang Kali verübten, bis zu den vier Freundschaftsdörfern im Süden Thailands, in denen die einstigen malaysischen Rebellen leben können, nachdem sie 1987 den Dschungel verlassen haben.
Siew Li war erst fünfzehn, als sie für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde: Mitte der Fünfziger hatte sie sich von einer bewunderten Mitschülerin für den Kampf gegen die britischen Kolonisatoren "und diejenigen, die sie nachzuahmen versuchen", begeistern lassen. Der Familie des jungen Jason hätte man diese Nachahmung durchaus nachsagen können. Doch er besucht Siew Li im Gefängnis, obwohl sie sich erst kurz vor ihrer Festnahme kennengelernt haben, er ist derjenige, der sie schließlich nach der Freilassung abholt, er ist - "verlässlich und gedankenlos", wie sie ihn sieht - eine Wohltat für sie. Als Anfang der Sechziger mit dem Putsch in Brunei, mit der Erklärung Indonesiens, eine Konföderation Singapurs mit Malaysia zu bekämpfen, und mit der Angst vor dem weiteren Erstarken von China unterstützter Kommunisten in Singapur der Druck auf Gewerkschaften und linke Politiker steigt, haben die beiden geheiratet und Zwillinge bekommen. Die junge Mutter arbeitet als Wahlkampfmanagerin. Gerade noch rechtzeitig vor einer bevorstehenden Verhaftung gewarnt, bleibt ihr nur die Flucht - ohne Abschied von Mann und Kindern.
In sechs ausgreifenden Kapiteln folgt Jeremy Tiang seinen Figuren und verwebt ihre Geschichten sorgfältig miteinander und mit der Geschichte des Stadtstaats: Jason muss mit dem Verlust seiner Frau und dem Alleinsein mit Zwillingen klarkommen. Wenige Jahre später stirbt seine Schwester bei einem Bombenanschlag indonesischer Terroristen. Siew Li flüchtet nach Kuala Lumpur und geht schließlich "nach drinnen", in den Widerstand im Dschungel, aus dem es kein Zurück gibt. Ihr späterer Kampfgefährte Nam Teck, den Siew Li als jungen Automechaniker in Kuala Lumpur kennenlernt, stammt aus einem Lager hinter zweieinhalb Meter hohem Stacheldraht, in das die Hinterbliebenen von Batang Kali gebracht worden waren. Die Londoner Journalistin Revathi mit Wurzeln in Singapur recherchiert 1970 dieses Massaker für eine englische Zeitung und lernt, wie gegenwärtig die Grausamkeit des Kolonialreichs und der bewaffnete Widerstand dagegen immer noch sind. Jasons Nichte Stella wird noch in den achtziger Jahren nach einem Besuch bei Henry in London vom Geheimdienst am Flughafen in Singapur aufgegriffen und unter dem Verdacht gefoltert, eine Marxistin zu sein. Henry selbst wird nach dem Tod seines Vaters auf einmal mit Spuren seiner Mutter konfrontiert und macht sich schließlich auf nach Thailand, um nach ihr zu suchen.
Der Leser sieht Jason in der Hilflosigkeit des Alters, im Schockzustand nach dem Bombenanschlag, aber auch als neugierigen jungen Mann und jähzornigen Alleinerziehenden. Er sieht seine Frau, der erst auf der Straße klarwird, dass sie sich nicht verabschieden konnte von ihren Kindern, und ebendiese Siew Li, wie sie schon auf dem Weg "nach drinnen" von Nam Teck unvermittelt gefragt wird, was ihr zugestoßen sei, das sie so weit gebracht hat - um dann die Frage zu erwidern. Ein ehemaliger Sergeant der Royal Scots Fusiliers, die in Malaya gekämpft haben, resümiert im Interview mit der Journalistin aus London brüsk: "Wir haben gewonnen, was auch immer das heißen mag." Als Stella nach den ersten Tagen der Haft nicht mehr mit Wasserschocks und Ohrfeigen misshandelt wird, ertappt sie sich bei Mitgefühl für ihre Peiniger: "Schließlich machten die nur ihre Arbeit." Und als sie Revathi und Henry nach Jasons Beerdigung mitnimmt zu einem Treffen von Leuten, die in Singapur als Kommunisten verfolgt worden sind, gesteht Stella den Gästen aus London: "Ich überlebe nur."
Mit feinem Gespür beschreibt Jeremy Tiang die Deformationen, die Singapurs gewaltreiche Geschichte in Biographie und Psyche seiner Figuren verursacht hat - bei denen, die in die Kämpfe selbst verwickelt waren, wie auch bei denen, die versucht haben, ihnen auszuweichen, oder lange angenommen hatten, nichts mit ihnen zu tun zu haben. Die Klarheit seiner Sprache, die Nüchternheit seiner Schilderungen geben dem, wovon Jeremy Tiang erzählt, nur noch größeres Gewicht.
Der National Arts Council von Singapur hatte die Arbeit an diesem Buch zunächst nach Lektüre eines Exposés mit 12 000 Dollar gefördert, um nach Lektüre einer ersten Fassung den noch nicht ausbezahlten Rest der Fördersumme einzubehalten. Man erkenne den literarischen Wert der Arbeit an, wurde dem Schriftsteller und Übersetzer, der heute in New York lebt, im Jahr 2011 mitgeteilt, allerdings gebe es Bedenken wegen einiger empfindlicher Themen des Romans. 2017 schließlich konnte das Buch veröffentlicht werden, um 2018 mit dem Singapore Literature Prize ausgezeichnet zu werden. Das zeigt, welche Last auch heute noch auf der hierzulande wenig bekannten Geschichte des südostasiatischen Stadtstaates liegt.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Jeremy Tiang: "Das Gewicht der Zeit". Roman.
Aus dem Englischen von Susann Urban. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 304 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum verließ die Mutter Mann und Kinder ohne Abschied? Jeremy Tiang erzählt ein Familienschicksal aus seiner Heimat Singapur, verwoben mit deren Gewaltgeschichte.
Als er am Abend nach der Beerdigung des Vaters bei seiner Zwillingsschwester zum Essen eingeladen ist und die Fragen seines Schwagers - "Wie läuft's denn so?" - über sich ergehen lässt, kommt Henry die ganze Reise zurück nach Singapur bedeutungslos vor: "Was hatte er erwartet - dass er mit der Vergangenheit abschließen kann?" Nach Jahrzehnten in London ist dem Geschichtsprofessor die alte Heimat fremd geworden. Auch sein Vater war ihm seit langem fremd. Und seine Mutter? Die Zwillinge waren noch Babys, als sie verschwand, ohne Abschied, ohne Lebenszeichen. Ein paar Tage später findet Henry in der Wohnung des Vaters beim Aufräumen Briefe von damals, die dieser seinen Kindern nie gezeigt hat: "Ich hoffe, dass man euch nicht gelehrt hat, mich zu hassen", liest Henry. Man hatte die Kinder nichts gelehrt.
Mehr als sechs Jahrzehnte lässt Jeremy Tiang seinen ersten Roman "Das Gewicht der Zeit" umspannen. Um die Familie von Henry, seinem Vater Jason und seiner Mutter Siew Li, die sich 1961 den kommunistischen Rebellen im Dschungel von Malaya anschloss, und um die ihres Kampfgefährten Nam Teck spinnt er seine Erzählung der Nachkriegsvergangenheit Singapurs,vom Massaker, das britische Soldaten im Dezember 1948 unter den männlichen Bewohnern eines Dorfes in Batang Kali verübten, bis zu den vier Freundschaftsdörfern im Süden Thailands, in denen die einstigen malaysischen Rebellen leben können, nachdem sie 1987 den Dschungel verlassen haben.
Siew Li war erst fünfzehn, als sie für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde: Mitte der Fünfziger hatte sie sich von einer bewunderten Mitschülerin für den Kampf gegen die britischen Kolonisatoren "und diejenigen, die sie nachzuahmen versuchen", begeistern lassen. Der Familie des jungen Jason hätte man diese Nachahmung durchaus nachsagen können. Doch er besucht Siew Li im Gefängnis, obwohl sie sich erst kurz vor ihrer Festnahme kennengelernt haben, er ist derjenige, der sie schließlich nach der Freilassung abholt, er ist - "verlässlich und gedankenlos", wie sie ihn sieht - eine Wohltat für sie. Als Anfang der Sechziger mit dem Putsch in Brunei, mit der Erklärung Indonesiens, eine Konföderation Singapurs mit Malaysia zu bekämpfen, und mit der Angst vor dem weiteren Erstarken von China unterstützter Kommunisten in Singapur der Druck auf Gewerkschaften und linke Politiker steigt, haben die beiden geheiratet und Zwillinge bekommen. Die junge Mutter arbeitet als Wahlkampfmanagerin. Gerade noch rechtzeitig vor einer bevorstehenden Verhaftung gewarnt, bleibt ihr nur die Flucht - ohne Abschied von Mann und Kindern.
In sechs ausgreifenden Kapiteln folgt Jeremy Tiang seinen Figuren und verwebt ihre Geschichten sorgfältig miteinander und mit der Geschichte des Stadtstaats: Jason muss mit dem Verlust seiner Frau und dem Alleinsein mit Zwillingen klarkommen. Wenige Jahre später stirbt seine Schwester bei einem Bombenanschlag indonesischer Terroristen. Siew Li flüchtet nach Kuala Lumpur und geht schließlich "nach drinnen", in den Widerstand im Dschungel, aus dem es kein Zurück gibt. Ihr späterer Kampfgefährte Nam Teck, den Siew Li als jungen Automechaniker in Kuala Lumpur kennenlernt, stammt aus einem Lager hinter zweieinhalb Meter hohem Stacheldraht, in das die Hinterbliebenen von Batang Kali gebracht worden waren. Die Londoner Journalistin Revathi mit Wurzeln in Singapur recherchiert 1970 dieses Massaker für eine englische Zeitung und lernt, wie gegenwärtig die Grausamkeit des Kolonialreichs und der bewaffnete Widerstand dagegen immer noch sind. Jasons Nichte Stella wird noch in den achtziger Jahren nach einem Besuch bei Henry in London vom Geheimdienst am Flughafen in Singapur aufgegriffen und unter dem Verdacht gefoltert, eine Marxistin zu sein. Henry selbst wird nach dem Tod seines Vaters auf einmal mit Spuren seiner Mutter konfrontiert und macht sich schließlich auf nach Thailand, um nach ihr zu suchen.
Der Leser sieht Jason in der Hilflosigkeit des Alters, im Schockzustand nach dem Bombenanschlag, aber auch als neugierigen jungen Mann und jähzornigen Alleinerziehenden. Er sieht seine Frau, der erst auf der Straße klarwird, dass sie sich nicht verabschieden konnte von ihren Kindern, und ebendiese Siew Li, wie sie schon auf dem Weg "nach drinnen" von Nam Teck unvermittelt gefragt wird, was ihr zugestoßen sei, das sie so weit gebracht hat - um dann die Frage zu erwidern. Ein ehemaliger Sergeant der Royal Scots Fusiliers, die in Malaya gekämpft haben, resümiert im Interview mit der Journalistin aus London brüsk: "Wir haben gewonnen, was auch immer das heißen mag." Als Stella nach den ersten Tagen der Haft nicht mehr mit Wasserschocks und Ohrfeigen misshandelt wird, ertappt sie sich bei Mitgefühl für ihre Peiniger: "Schließlich machten die nur ihre Arbeit." Und als sie Revathi und Henry nach Jasons Beerdigung mitnimmt zu einem Treffen von Leuten, die in Singapur als Kommunisten verfolgt worden sind, gesteht Stella den Gästen aus London: "Ich überlebe nur."
Mit feinem Gespür beschreibt Jeremy Tiang die Deformationen, die Singapurs gewaltreiche Geschichte in Biographie und Psyche seiner Figuren verursacht hat - bei denen, die in die Kämpfe selbst verwickelt waren, wie auch bei denen, die versucht haben, ihnen auszuweichen, oder lange angenommen hatten, nichts mit ihnen zu tun zu haben. Die Klarheit seiner Sprache, die Nüchternheit seiner Schilderungen geben dem, wovon Jeremy Tiang erzählt, nur noch größeres Gewicht.
Der National Arts Council von Singapur hatte die Arbeit an diesem Buch zunächst nach Lektüre eines Exposés mit 12 000 Dollar gefördert, um nach Lektüre einer ersten Fassung den noch nicht ausbezahlten Rest der Fördersumme einzubehalten. Man erkenne den literarischen Wert der Arbeit an, wurde dem Schriftsteller und Übersetzer, der heute in New York lebt, im Jahr 2011 mitgeteilt, allerdings gebe es Bedenken wegen einiger empfindlicher Themen des Romans. 2017 schließlich konnte das Buch veröffentlicht werden, um 2018 mit dem Singapore Literature Prize ausgezeichnet zu werden. Das zeigt, welche Last auch heute noch auf der hierzulande wenig bekannten Geschichte des südostasiatischen Stadtstaates liegt.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Jeremy Tiang: "Das Gewicht der Zeit". Roman.
Aus dem Englischen von Susann Urban. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 304 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main