Das neue Buch des Kölner Medizinhistorikers Klaus Bergdolt zeigt die vielfältige und faszinierende Entwicklung der europäischen Medizinethik von der Antike bis zur Gegenwart. Der Blick in die Vergangenheit, der in der aktuellen Bioethik-Debatte bisher kaum eine Rolle spielt, sensibilisiert nicht nur gegen allzu schnelle Anpassungen an den Zeitgeist, sondern ruft in Erinnerung, daß es für viele medizinethische Fragestellungen keine Lösung ohne gewichtige Gegenargumente geben kann. Fragen der Medizinethik rücken zunehmend in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Während Philosophen, Theologen, Politiker, Journalisten, Ärzte und Naturwissenschaftler den aktuellen Diskurs in der Bioethik nachhaltig beeinflussen, wurden medizin- und kulturhistorische Argumente bisher kaum berücksichtigt. Zwar war das Ethos der Ärzte und Naturforscher niemals einheitlich, doch lassen sich seit frühester Zeit, ungeachtet aller Diskontinuitäten und Brüche, charakteristische Argumentationsmuster aufzeigen. Auch wird die Brisanz mancher aktueller Probleme wie etwa der gesundheitsökonomischen Wertung von Lebensqualität oder der Diskussion über die Euthanasie in ihrer ganzen Dimension erst im Rückblick verständlich. Klaus Bergdolt ruft in Erinnerung, daß es für komplizierte medizinethische Fragestellungen kaum Lösungen ohne Widersprüche und legitime Gegenargumente geben kann. Oft genug war die Menschenwürde gerade dann in Gefahr, wenn Forscher, Politiker und wissenschaftlich geprägte Ethiker dem "gesunden Menschenverstand" folgten. Die Geschichte der medizinischen Ethik mahnt zur Toleranz, aber auch zu Vorsicht und Wachsamkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2004Der Arzt als Geschäftsmann
Klaus Bergdolt prüft das Gewissen der Medizin
Es ist einige JahrE her, als mir mein früherer Hausarzt gestand, daß man als niedergelassener Mediziner in erster Linie Unternehmer sei. Man mag über eine solche Auffassung die Nase rümpfen und auf die ärztliche Ethik verweisen, die den Altruismus seit jeher beschwört, von dem in der Praxis aber meist wenig zu spüren ist, schon gar nicht in Zeiten, in denen im Gesundheitswesen gespart werden muß. Besser aber ist, man schaut einmal in der Geschichte der ärztlichen Ethik nach.
Dort lernt man, daß es in der Renaissance Stimmen im ärztlichen Lager gab, die es nicht als ehrenrührig ansahen, wenn ein Arzt als Geschäftsmann handelte und sein Ethos am Erfolg orientierte. Zu ihnen gehört, wie man jetzt beim Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt nachlesen kann, der italienische Arzt Gabriele Zerbi, der 1495 ein Buch mit dem Titel "Opus perutile de cautelis medicorum" veröffentlichte. In dieser vielbeachteten Schrift, in der vom vorbildlichen Arzt die Rede ist, wird empfohlen, daß man sich vor unordentlichen, unzuverlässigen und widerspenstigen Kranken hüten möge, da sie nur Probleme verursachten. Eine aussichtslose Therapie solle man nicht versuchen, um nicht seinem Ruf und damit seinem Einkommen zu schaden. Seine Honorarforderungen solle der Arzt nachdrücklich, aber im freundlichen und gemäßigten Ton vorbringen, am besten solange der Kranke Schmerzen habe.
Nicht nur über die pekuniäre Seite des Arztberufes und ihre ethische Problematik erfahren wir hier etwas. Es wird deutlich, daß viele der ethischen Fragen, die uns heute im medizinischen Alltag auf den Nägeln brennen, früher diskutiert wurden und die Argumente kaum besser geworden sind. Es waren keine geringen Geister, die sich mit schwer zu entscheidenden Problemen, die Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod betreffen, auseinandergesetzt haben. So findet sich in den hippokratischen Schriften aus dem vierten Jahrhundert vor Christus der bemerkenswerte Satz: "Alle Kranken gesund zu machen ist unmöglich." Gleichwohl scheint die moderne Medizin häufig von dem Gedanken angetrieben zu sein - man denke an die Gentherapieforschung -, allen Menschen die Gesundheit wiederzugeben.
Daß es in der Medizingeschichte konkrete Utopien gegeben hat, die nicht unbedingt immer das Patientenwohl im Auge hatten, macht das Kapitel über die medizinische Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert deutlich. Man forderte, daß der Arzt in erster Linie "Diener des Staates" sein sollte. Gesundheitserhaltung galt als erste Bürgerpflicht. Der "ideale Kranke", so Bergdolt, war "der passive Patient, dessen ,aufgeklärtes Verhalte'n sich im Gehorsam gegenüber dem Arzt bestätigte." Es gab Zeitgenossen, die dieser von Ärzten gepredigten Moral wenig Sympathie entgegenbrachten, wie Immanuel Kant. In seiner Schrift "Was ist Aufklärung?" (1784) wird die Patientenautonomie beschworen: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig, zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
In einer Zeit, in der Skandale um "Todesengel" in Alten- und Pflegeheimen für Schlagzeilen sorgen und über ethisch erlaubte Formen der Sterbehilfe diskutiert wird, lohnt sich, wie Bergdolt betont, der Blick nicht nur in die jüngste Vergangenheit, sondern auch in Zeiten, die uns heute fern erscheinen, wie der Beginn der Moderne um 1500. Damals wurde in utopistischen Gesellschaftsentwürfen der Euthanasie-Gedanke, der antiken Ursprungs ist, aufgegriffen. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert lehnte die Mehrheit der ärztlichen Autoren eine aktive Sterbhilfe selbst bei schwersten Leiden kategorisch ab. Dann mehrten sich die Stimmen, die sich gegen eine ärztliche "Gefühlsethik" aussprachen und eine aktive Euthanasie forderten, und zwar längst vor 1933, wie am Beispiel Ernst Haeckels aufgezeigt wird. Dieser Arzt und Naturforscher vertrat die Meinung, daß man es mit unheilbaren Menschen ebenso wie mit treuen Hunden machen, nämlich diesen den "Gnadentod" geben solle.
Je weiter Bergdolt in der Geschichte der ärztlichen Moral voranschreitet, desto kürzer werden die behandelten Zeitabschnitte. Dem gesamten zwanzigsten Jahrhundert sind knapp fünfzig Seiten gewidmet. Das mag mancher Leser bedauern, doch ist in der Tat über den Nürnberger Kodex von 1947 und seine Vorgeschichte bereits viel geschrieben worden, während die älteren, nicht weniger interessanten moralischen Grundsatzdebatten unter Ärzten es verdienen, wieder ins Bewußtsein gerufen zu werden. Insofern wünscht man Bergdolts Blick zurück in die Vergangenheit viele Leser, die sich zwar leider nicht mehr so sehr für die Medizingeschichte interessieren, aber immerhin für medizinethische Fragestellungen.
ROBERT JÜTTE
Klaus Bergdolt: "Das Gewissen der Medizin". Ärztliche Moral von der Antike bis heute. C. H. Beck Verlag, München 2004. 377 S., 4 Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Bergdolt prüft das Gewissen der Medizin
Es ist einige JahrE her, als mir mein früherer Hausarzt gestand, daß man als niedergelassener Mediziner in erster Linie Unternehmer sei. Man mag über eine solche Auffassung die Nase rümpfen und auf die ärztliche Ethik verweisen, die den Altruismus seit jeher beschwört, von dem in der Praxis aber meist wenig zu spüren ist, schon gar nicht in Zeiten, in denen im Gesundheitswesen gespart werden muß. Besser aber ist, man schaut einmal in der Geschichte der ärztlichen Ethik nach.
Dort lernt man, daß es in der Renaissance Stimmen im ärztlichen Lager gab, die es nicht als ehrenrührig ansahen, wenn ein Arzt als Geschäftsmann handelte und sein Ethos am Erfolg orientierte. Zu ihnen gehört, wie man jetzt beim Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt nachlesen kann, der italienische Arzt Gabriele Zerbi, der 1495 ein Buch mit dem Titel "Opus perutile de cautelis medicorum" veröffentlichte. In dieser vielbeachteten Schrift, in der vom vorbildlichen Arzt die Rede ist, wird empfohlen, daß man sich vor unordentlichen, unzuverlässigen und widerspenstigen Kranken hüten möge, da sie nur Probleme verursachten. Eine aussichtslose Therapie solle man nicht versuchen, um nicht seinem Ruf und damit seinem Einkommen zu schaden. Seine Honorarforderungen solle der Arzt nachdrücklich, aber im freundlichen und gemäßigten Ton vorbringen, am besten solange der Kranke Schmerzen habe.
Nicht nur über die pekuniäre Seite des Arztberufes und ihre ethische Problematik erfahren wir hier etwas. Es wird deutlich, daß viele der ethischen Fragen, die uns heute im medizinischen Alltag auf den Nägeln brennen, früher diskutiert wurden und die Argumente kaum besser geworden sind. Es waren keine geringen Geister, die sich mit schwer zu entscheidenden Problemen, die Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod betreffen, auseinandergesetzt haben. So findet sich in den hippokratischen Schriften aus dem vierten Jahrhundert vor Christus der bemerkenswerte Satz: "Alle Kranken gesund zu machen ist unmöglich." Gleichwohl scheint die moderne Medizin häufig von dem Gedanken angetrieben zu sein - man denke an die Gentherapieforschung -, allen Menschen die Gesundheit wiederzugeben.
Daß es in der Medizingeschichte konkrete Utopien gegeben hat, die nicht unbedingt immer das Patientenwohl im Auge hatten, macht das Kapitel über die medizinische Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert deutlich. Man forderte, daß der Arzt in erster Linie "Diener des Staates" sein sollte. Gesundheitserhaltung galt als erste Bürgerpflicht. Der "ideale Kranke", so Bergdolt, war "der passive Patient, dessen ,aufgeklärtes Verhalte'n sich im Gehorsam gegenüber dem Arzt bestätigte." Es gab Zeitgenossen, die dieser von Ärzten gepredigten Moral wenig Sympathie entgegenbrachten, wie Immanuel Kant. In seiner Schrift "Was ist Aufklärung?" (1784) wird die Patientenautonomie beschworen: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig, zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
In einer Zeit, in der Skandale um "Todesengel" in Alten- und Pflegeheimen für Schlagzeilen sorgen und über ethisch erlaubte Formen der Sterbehilfe diskutiert wird, lohnt sich, wie Bergdolt betont, der Blick nicht nur in die jüngste Vergangenheit, sondern auch in Zeiten, die uns heute fern erscheinen, wie der Beginn der Moderne um 1500. Damals wurde in utopistischen Gesellschaftsentwürfen der Euthanasie-Gedanke, der antiken Ursprungs ist, aufgegriffen. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert lehnte die Mehrheit der ärztlichen Autoren eine aktive Sterbhilfe selbst bei schwersten Leiden kategorisch ab. Dann mehrten sich die Stimmen, die sich gegen eine ärztliche "Gefühlsethik" aussprachen und eine aktive Euthanasie forderten, und zwar längst vor 1933, wie am Beispiel Ernst Haeckels aufgezeigt wird. Dieser Arzt und Naturforscher vertrat die Meinung, daß man es mit unheilbaren Menschen ebenso wie mit treuen Hunden machen, nämlich diesen den "Gnadentod" geben solle.
Je weiter Bergdolt in der Geschichte der ärztlichen Moral voranschreitet, desto kürzer werden die behandelten Zeitabschnitte. Dem gesamten zwanzigsten Jahrhundert sind knapp fünfzig Seiten gewidmet. Das mag mancher Leser bedauern, doch ist in der Tat über den Nürnberger Kodex von 1947 und seine Vorgeschichte bereits viel geschrieben worden, während die älteren, nicht weniger interessanten moralischen Grundsatzdebatten unter Ärzten es verdienen, wieder ins Bewußtsein gerufen zu werden. Insofern wünscht man Bergdolts Blick zurück in die Vergangenheit viele Leser, die sich zwar leider nicht mehr so sehr für die Medizingeschichte interessieren, aber immerhin für medizinethische Fragestellungen.
ROBERT JÜTTE
Klaus Bergdolt: "Das Gewissen der Medizin". Ärztliche Moral von der Antike bis heute. C. H. Beck Verlag, München 2004. 377 S., 4 Abb., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass sich Ärzte bisweilen in erster Linie als Unternehmer fühlen ist kein Phänomen der Gegenwart. Rezensent Robert Jütte berichtet in seiner Besprechung von Klaus Bergdolts Geschichte der ärztlichen Ethik, dass es in der Renaissance Stimmen im ärztlichen Lager gab, "die es nicht als ehrenrührig ansahen, wenn ein Arzt als Geschäftsmann handelte und sein Ethos am Erfolg orientierte". Bergdolt behandle aber nicht nur die pekuniäre Seite des Arztberufes und ihre ethische Problematik, er verdeutliche auch, dass viele der aktuellen medizinethischen Fragen, das Thema Sterbehilfe etwa, bereits früher diskutiert wurden. Verständlich findet es Jütte, dass die behandelten Zeitabschnitte umso kürzer werden, je weiter Bergdolt in der Geschichte der ärztlichen Moral voranschreitet. Schließlich ist über den Nürnberger Kodex von 1947 und seine Vorgeschichte bereits viel geschrieben worden, meint der Rezensent, "während die älteren, nicht weniger interessanten moralischen Grundsatzdebatten unter Ärzten es verdienten, wieder ins Bewusstsein gerufen zu werden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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