Die Abenteuer eines Forschers im Urwald von Brasilien
Er zog aus, die Pirahã im brasilianischen Urwald zum Christentum zu bekehren, doch am Ende war er es, der durch die Begegnung mit diesen auf ihre Weise glücklich lebenden Menschen seinen Glauben verlor. Fesselnd erzählt der Abenteurer und Forscher Daniel Everett von einer völlig fremden Welt, die ihn mit einer ungewöhnlichen Sprache sowie einer ganz anderen Art zu denken konfrontierte.
Als Daniel Everett 1977 mit Frau und Kindern in den brasilianischen Urwald reiste, wollte er als Missionar den Stamm der Pirahã, der ohne Errungenschaften der modernen Zivilisation an einem Nebenfluss des Amazonas lebt, zum christlichen Glauben bekehren. Er begann die Sprache zu lernen und stellte schnell fest, dass sie allen Erwartungen zuwiderläuft. Die Pirahã kennen weder Farbbezeichnungen wie rot und gelb noch Zahlen, und folglich können sie auch nicht rechnen. Sie sprechen nicht über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben - die ferne Vergangenheit also, Fantasieereignisse oder die Zukunft. Persönlicher Besitz bedeutet ihnen nichts. Everett verbrachte insgesamt sieben Jahre bei den Pirahã, fasziniert von ihrer Sprache, ihrer Sicht auf die Welt und ihrer Lebensweise. Sein Buch ist eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung und der Schilderung spannender anthropologischer und linguistischer Erkenntnisse. Und das Zeugnis einer Erfahrung, die das Leben Everetts gründlich veränderte.
Er zog aus, die Pirahã im brasilianischen Urwald zum Christentum zu bekehren, doch am Ende war er es, der durch die Begegnung mit diesen auf ihre Weise glücklich lebenden Menschen seinen Glauben verlor. Fesselnd erzählt der Abenteurer und Forscher Daniel Everett von einer völlig fremden Welt, die ihn mit einer ungewöhnlichen Sprache sowie einer ganz anderen Art zu denken konfrontierte.
Als Daniel Everett 1977 mit Frau und Kindern in den brasilianischen Urwald reiste, wollte er als Missionar den Stamm der Pirahã, der ohne Errungenschaften der modernen Zivilisation an einem Nebenfluss des Amazonas lebt, zum christlichen Glauben bekehren. Er begann die Sprache zu lernen und stellte schnell fest, dass sie allen Erwartungen zuwiderläuft. Die Pirahã kennen weder Farbbezeichnungen wie rot und gelb noch Zahlen, und folglich können sie auch nicht rechnen. Sie sprechen nicht über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben - die ferne Vergangenheit also, Fantasieereignisse oder die Zukunft. Persönlicher Besitz bedeutet ihnen nichts. Everett verbrachte insgesamt sieben Jahre bei den Pirahã, fasziniert von ihrer Sprache, ihrer Sicht auf die Welt und ihrer Lebensweise. Sein Buch ist eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung und der Schilderung spannender anthropologischer und linguistischer Erkenntnisse. Und das Zeugnis einer Erfahrung, die das Leben Everetts gründlich veränderte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2010Nur das unmittelbar Vorhandene zählt
Ein wunderbarer und zutiefst verstörender Erfahrungsbericht: Der Ethnologe Daniel Everett hat jahrelang mit den Pirahã-Indianern am Amazonas gelebt.
Als Claude Lévi-Strauss vor über achtzig Jahren seine Expedition zu den letzten noch unberührten Indianervölkern Brasiliens unternahm, traf er im Innern des Mato Grosso auf eine Gesellschaft, die ihm im Nachhinein wie eine Verwirklichung von Rousseaus Utopie erschien. Die Nambikwara, ein Volk von Jägern und Sammlern, verfügten nur über die allernotwendigsten materiellen Güter, und ihre soziale Ordnung war auf das Wesentliche reduziert: die Kernfamilie, ein schwach ausgebildetes Häuptlingstum und ein paar rudimentäre Verwandtschaftsregeln. Die Gesellschaft der Nambikwara war so einfach strukturiert, dass sie sich - wie er in den "Traurigen Tropen" schrieb - letztlich der soziologischen Erfahrung entzog. Denn eigentlich bestand sie nur noch aus Individuen.
Diese vielzitierte Passage aus dem Reisebericht des großen französischen Ethnologen kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man Daniel Everetts Beschreibung der brasilianischen Pirahã liest. Auch diese knapp 400 Personen zählende Gesellschaft, die an einem Nebenfluss des Amazonas vom Jagen, Sammeln und Fischen leben, begnügt sich mit einem Minimum an sozialer, politischer und ökonomischer Organisation. Die Pirahã haben eines der einfachsten Verwandtschaftssysteme der Welt, sie kennen keine politischen Führer, sie legen keine Vorräte an, sondern essen, wenn sie zu essen haben, und sie hungern tagelang, wenn der Jagderfolg einmal ausbleibt.
Lévi-Strauss' "rousseauistische" Darstellung der Nambikwara ist verschiedentlich kritisiert worden, weil er sich bei ihnen nur einige Wochen aufhielt. Im Fall des amerikanischen Ethnolinguisten Daniel Everett sind solche Zweifel jedoch kaum angebracht. Seine Aufenthalte bei den Pirahã beliefen sich auf mehr als sieben Jahre. Er wohnte in ihren Dörfern, nahm an ihren alltäglichen Verrichtungen teil, erlernte ihre Sprache und studierte ihre Gebräuche. Allerdings lag die wissenschaftliche Erforschung der Pirahãs zunächst gar nicht in seiner Absicht. Everett war Mitte der siebziger Jahre zu ihnen gekommen, um sie zum Christentum zu bekehren. Den Schilderungen der Entbehrungen, Missverständnisse und Gefahren, die er und seine Familie in dieser Zeit auf sich nehmen mussten, räumt er in dem Buch nicht weniger Platz ein als den Erörterungen des wissenschaftlichen Ertrags seiner Unternehmung. Und sie lesen sich fesselnd wie ein klassischer Abenteuerroman.
Die ersten Kontakte der Pirahã zu Händlern, Regierungsbeamten und Missionaren lagen damals schon viele Jahrzehnte zurück. Dennoch hatten sie sich den Einflüssen der Zivilisation erfolgreich widersetzen können. Ihre Hütten bauten sie immer noch in derselben einfachen Weise wie ihre Vorfahren. Werkzeuge tauschten sie bisweilen ein, ließen sie aber achtlos im Urwald verrotten, wenn sie sie nicht mehr brauchten. Moderne Techniken interessierten sie nicht. Gefallen fanden sie allein am Alkohol, mit dem brasilianische Händler sie gelegentlich versorgten. Auch dem amerikanischen Missionar traten sie anfangs reserviert gegenüber. Sie dachten nicht daran, ihm zu helfen, als seine Familie schwer an Malaria erkrankte. Das mochte ihrer eigenen Einstellung zu Krankheit und Tod noch entsprechen. Empfindlicher traf es den Missionar da schon, dass sie ihn - von einem dubiosen Händler aufgehetzt und unter Alkohol gesetzt - eines Tages fast umgebracht hätten, hätte er sich nicht in seiner Hütte verbarrikadiert.
Dass Daniel Everett und seine Frau trotz allem blieben, mag zunächst an ihrem Sendungsbewusstsein gelegen haben. Beide arbeiteten im Auftrag des Summer Institute of Linguistics, einer wissenschaftlichen Einrichtung, die auf dem Gebiet der Dokumentation und Analyse indigener Sprachen große Verdienste erworben hat. Doch dient das von einer evangelikalen Missionsgesellschaft unterhaltene Institut vor allem religiösen Zielen. Durch seine Forschungsarbeiten soll die Voraussetzung dafür geschaffen werden, das Neue Testament in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Je länger Everett bei den Pirahã lebte und je intensiver er das Studium ihrer Sprache betrieb, desto größer wurden freilich auch seine Zweifel an dem Sinn eines solchen Unternehmens. Lassen sich bestimmte Geschichten und Ereignisse, die sich vor zweitausend Jahren in einer Kultur in Vorderasien abspielten, tatsächlich mit dem sprachlichen Inventar eines im Inneren des Amazonasbeckens lebenden Volkes wiedergeben?
Folgt man seiner Darstellung, dann handelt es sich beim Idiom der Pirahã um eine der schwierigsten und ungewöhnlichsten Sprachen der Welt, die kaum mit einer anderen verwandt ist. Auffällig ist bereits, dass sie lediglich über elf Phoneme verfügt, während die europäischen Sprachen an die vierzig dieser kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten kennen. Das Pirahã benötigt daher zur Bildung von Wörtern weit größere Lautzusammensetzungen als die meisten anderen Sprachen. Überraschend ist aber vor allem, dass es zahlreiche Eigenschaften nicht aufweist, von denen man früher annahm, dass sie eigentlich zu jeder Sprache gehören müssten. Die Gegenwart wird im Pirahã von der Vergangenheit und der Zukunft nur rudimentär unterschieden. Wörter für Farben und Mengen sind unbekannt. Noch außergewöhnlicher aber ist, dass es in dieser Sprache keine Zahlwörter gibt.
Wie Everett bei verschiedenen Versuchen feststellte, kommen auch die Erwachsenen mit dem Zählen und Rechnen nicht zurecht, weil sie in einem sprachlichen Universum groß geworden sind, in dem die abstrakten Zahlkategorien schlichtweg nicht existieren. Eine Besonderheit, in der sich das Pirahã wohl von allen anderen bisher dokumentierten Sprachen unterscheidet, ist das Fehlen der sogenannten Rekursion, also der grammatikalischen Möglichkeit der Bildung von Nebensätzen. Wollen die Pirahã kompliziertere Zusammenhänge ausdrücken, so können sie dies nur, indem sie Abfolgen von Substantiven und Verben kettenförmig aneinanderreihen. Eine Zustandsbestimmung zusammen mit einem Ereignis oder einer Handlung in einen einzigen Satz zu packen erlaubt ihre Sprache nicht.
Die Veröffentlichungen von Everetts ersten Befunden über die ungewöhnlichen sprachlichen Strukturen des Pirahã haben in der amerikanischen Linguistik eine lange Debatte ausgelöst. Durch sie wurde nämlich eine Theorie in Frage gestellt, die die internationale Sprachwissenschaft über Jahrzehnte hin beherrschte. Noam Chomsky hatte in den sechziger Jahren seine These von der generativen Transformationsgrammatik aufgestellt, der zufolge allen Sprachen eine Art von Regelsystem zugrunde liegen soll, das jeder Mensch von Geburt an in sich trägt.
Es bestimmt über Syntax, Phonologie und Morphologie. Seine Gleichförmigkeit macht das Erlernen der eigenen, aber auch jeder anderen Sprache möglich. Wichtige Belegstücke der Chomskyschen Theorie stellten dabei bestimmte sprachliche Universalien dar, zu denen insbesondere die Rekursion zählt. Aber gerade die gibt es im Pirahã nicht. Zur Erklärung dieser und anderer Besonderheiten wendet sich Everett daher älteren Ansätzen zu, wie sie vor allem in der Ethnolinguistik durch Forscher wie Edward Sapir und andere entwickelt worden waren. Anders als Chomsky gingen sie nicht von angeborenen Strukturen aus, sondern legten ihren Schwerpunkt auf die Prägung der Sprache durch die jeweilige Kultur und natürliche Umwelt.
Die Eigenheiten der von den Pirahã gesprochenen Sprache finden Everetts Meinung nach ihre Erklärung darin, dass in ihrer Welt nur das unmittelbare Erleben zählt. Alle sprachlichen Aussagen gingen bei ihnen vom Hier und Jetzt aus. Sie bezögen sich auf die Situation des Sprechers und seiner Zuhörer. Dabei werde nur das als gültig akzeptiert, was die beim Sprechakt Anwesenden selbst erlebt haben. Abstraktionen, die über diesen persönlichen Erfahrungsbereich hinausgingen, hätten für sie keinerlei Wert. Aus diesem Grund benötigten sie auch keine Zahlen oder Mengenangaben. Denn auf das unmittelbar Vorhandene könne man immer hindeuten. Schöpfungsmythen und andere weit in der Vergangenheit liegende Ereignisse seien den Pirahã fremd, weil kein Lebender sie aus eigener Anschauung bezeugen könne.
Ihre Verwandtschaftstermini gingen aus demselben Grund nur bis zur Generation der Großeltern zurück. Wenn sie keine Lebensmittelvorräte anlegten, dann deshalb, weil ihnen die Zukunft nicht weniger fern läge als die Vergangenheit. Träume würden ihnen dagegen als Fortsetzung der Realität gelten. Auch Naturgeister, von deren Erscheinungen Einzelne immer wieder berichteten, wären für sie Teil der gelebten Wirklichkeit, während sie die Idee einer Schöpfergottheit oder eines höchsten Wesens als absurd ansähen. Denn für solche transzendenten Gestalten gäbe es eben keine unmittelbare Evidenz.
In der Hingabe an die unmittelbare Gegenwart sieht Everett auch die Ursache für das gesteigerte Glücksempfinden der Pirahã. Denn um die Zukunft würden sie sich ebenso wenig Sorgen machen, wie das für immer Vergangene sie noch berühren könne. Die Fixierung auf das Hic et Nunc bietet ihm auch den Schlüssel dafür, weshalb sie der christlichen Botschaft so wenig abgewinnen konnten. Hätte er denn selbst Jesus je gesehen? Oder würde er irgendjemand kennen, der ihm wirklich begegnet sei? So und ähnlich fragten sie ihn immer wieder, wenn er ihnen vom Christentum erzählte.
Je tiefer Daniel Everett in die Sprach- und Gedankenwelt der Pirahã eindrang, desto weniger konnte er sich ihren Argumentationen verschließen. Das Buch, das wie ein Abenteuerroman beginnt, verwandelt sich so in einen Bildungsroman. Es berichtet von der Konversion des Autors. Denn Everett sah sich nach seinem eigenen Eingeständnis bald nicht mehr dazu fähig, sich mit derselben Naivität wie früher zu seinem Glauben zu bekennen. Die ganz im Hier und Jetzt lebenden Pirahã hatten ihn zu ihrer eigenen Weltsicht bekehrt. Obgleich seine Familie darüber zerbrach, wurden seine Zweifel so groß, dass er seine missionarische Tätigkeit aufgab und sich nur noch der Forschung widmete.
Diese überraschende Wende bildet den Höhe- und Endpunkt eines Buches, in dem persönliche Erlebnisse und wissenschaftliche Einsichten geschickt miteinander kombiniert werden, um sich wechselseitig zu kommentieren. Mit Lévi-Strauss' "Traurigen Tropen" hat es mehr gemeinsam als die anrührende Schilderung einer Gesellschaft, die dem Ansturm der Moderne lange getrotzt und ihre Eigenheiten bis in die Gegenwart zu behaupten verstanden hat. Wissenschaftliche Abhandlung und persönliches Bekenntnisbuch in einem, nimmt es die alte Tradition des philosophischen Reiseberichts wieder auf. Man legt es nur ungern aus der Hand. Was alleine stört, ist der für die deutsche Ausgabe gewählte plakative Titel. Leider wird er diesem vielschichtigen und ambitiösen Werk alles andere als gerecht.
KARL-HEINZ KOHL
Daniel L. Everett: "Das glücklichste Volk". Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 414 S., geb., Abb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein wunderbarer und zutiefst verstörender Erfahrungsbericht: Der Ethnologe Daniel Everett hat jahrelang mit den Pirahã-Indianern am Amazonas gelebt.
Als Claude Lévi-Strauss vor über achtzig Jahren seine Expedition zu den letzten noch unberührten Indianervölkern Brasiliens unternahm, traf er im Innern des Mato Grosso auf eine Gesellschaft, die ihm im Nachhinein wie eine Verwirklichung von Rousseaus Utopie erschien. Die Nambikwara, ein Volk von Jägern und Sammlern, verfügten nur über die allernotwendigsten materiellen Güter, und ihre soziale Ordnung war auf das Wesentliche reduziert: die Kernfamilie, ein schwach ausgebildetes Häuptlingstum und ein paar rudimentäre Verwandtschaftsregeln. Die Gesellschaft der Nambikwara war so einfach strukturiert, dass sie sich - wie er in den "Traurigen Tropen" schrieb - letztlich der soziologischen Erfahrung entzog. Denn eigentlich bestand sie nur noch aus Individuen.
Diese vielzitierte Passage aus dem Reisebericht des großen französischen Ethnologen kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man Daniel Everetts Beschreibung der brasilianischen Pirahã liest. Auch diese knapp 400 Personen zählende Gesellschaft, die an einem Nebenfluss des Amazonas vom Jagen, Sammeln und Fischen leben, begnügt sich mit einem Minimum an sozialer, politischer und ökonomischer Organisation. Die Pirahã haben eines der einfachsten Verwandtschaftssysteme der Welt, sie kennen keine politischen Führer, sie legen keine Vorräte an, sondern essen, wenn sie zu essen haben, und sie hungern tagelang, wenn der Jagderfolg einmal ausbleibt.
Lévi-Strauss' "rousseauistische" Darstellung der Nambikwara ist verschiedentlich kritisiert worden, weil er sich bei ihnen nur einige Wochen aufhielt. Im Fall des amerikanischen Ethnolinguisten Daniel Everett sind solche Zweifel jedoch kaum angebracht. Seine Aufenthalte bei den Pirahã beliefen sich auf mehr als sieben Jahre. Er wohnte in ihren Dörfern, nahm an ihren alltäglichen Verrichtungen teil, erlernte ihre Sprache und studierte ihre Gebräuche. Allerdings lag die wissenschaftliche Erforschung der Pirahãs zunächst gar nicht in seiner Absicht. Everett war Mitte der siebziger Jahre zu ihnen gekommen, um sie zum Christentum zu bekehren. Den Schilderungen der Entbehrungen, Missverständnisse und Gefahren, die er und seine Familie in dieser Zeit auf sich nehmen mussten, räumt er in dem Buch nicht weniger Platz ein als den Erörterungen des wissenschaftlichen Ertrags seiner Unternehmung. Und sie lesen sich fesselnd wie ein klassischer Abenteuerroman.
Die ersten Kontakte der Pirahã zu Händlern, Regierungsbeamten und Missionaren lagen damals schon viele Jahrzehnte zurück. Dennoch hatten sie sich den Einflüssen der Zivilisation erfolgreich widersetzen können. Ihre Hütten bauten sie immer noch in derselben einfachen Weise wie ihre Vorfahren. Werkzeuge tauschten sie bisweilen ein, ließen sie aber achtlos im Urwald verrotten, wenn sie sie nicht mehr brauchten. Moderne Techniken interessierten sie nicht. Gefallen fanden sie allein am Alkohol, mit dem brasilianische Händler sie gelegentlich versorgten. Auch dem amerikanischen Missionar traten sie anfangs reserviert gegenüber. Sie dachten nicht daran, ihm zu helfen, als seine Familie schwer an Malaria erkrankte. Das mochte ihrer eigenen Einstellung zu Krankheit und Tod noch entsprechen. Empfindlicher traf es den Missionar da schon, dass sie ihn - von einem dubiosen Händler aufgehetzt und unter Alkohol gesetzt - eines Tages fast umgebracht hätten, hätte er sich nicht in seiner Hütte verbarrikadiert.
Dass Daniel Everett und seine Frau trotz allem blieben, mag zunächst an ihrem Sendungsbewusstsein gelegen haben. Beide arbeiteten im Auftrag des Summer Institute of Linguistics, einer wissenschaftlichen Einrichtung, die auf dem Gebiet der Dokumentation und Analyse indigener Sprachen große Verdienste erworben hat. Doch dient das von einer evangelikalen Missionsgesellschaft unterhaltene Institut vor allem religiösen Zielen. Durch seine Forschungsarbeiten soll die Voraussetzung dafür geschaffen werden, das Neue Testament in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Je länger Everett bei den Pirahã lebte und je intensiver er das Studium ihrer Sprache betrieb, desto größer wurden freilich auch seine Zweifel an dem Sinn eines solchen Unternehmens. Lassen sich bestimmte Geschichten und Ereignisse, die sich vor zweitausend Jahren in einer Kultur in Vorderasien abspielten, tatsächlich mit dem sprachlichen Inventar eines im Inneren des Amazonasbeckens lebenden Volkes wiedergeben?
Folgt man seiner Darstellung, dann handelt es sich beim Idiom der Pirahã um eine der schwierigsten und ungewöhnlichsten Sprachen der Welt, die kaum mit einer anderen verwandt ist. Auffällig ist bereits, dass sie lediglich über elf Phoneme verfügt, während die europäischen Sprachen an die vierzig dieser kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten kennen. Das Pirahã benötigt daher zur Bildung von Wörtern weit größere Lautzusammensetzungen als die meisten anderen Sprachen. Überraschend ist aber vor allem, dass es zahlreiche Eigenschaften nicht aufweist, von denen man früher annahm, dass sie eigentlich zu jeder Sprache gehören müssten. Die Gegenwart wird im Pirahã von der Vergangenheit und der Zukunft nur rudimentär unterschieden. Wörter für Farben und Mengen sind unbekannt. Noch außergewöhnlicher aber ist, dass es in dieser Sprache keine Zahlwörter gibt.
Wie Everett bei verschiedenen Versuchen feststellte, kommen auch die Erwachsenen mit dem Zählen und Rechnen nicht zurecht, weil sie in einem sprachlichen Universum groß geworden sind, in dem die abstrakten Zahlkategorien schlichtweg nicht existieren. Eine Besonderheit, in der sich das Pirahã wohl von allen anderen bisher dokumentierten Sprachen unterscheidet, ist das Fehlen der sogenannten Rekursion, also der grammatikalischen Möglichkeit der Bildung von Nebensätzen. Wollen die Pirahã kompliziertere Zusammenhänge ausdrücken, so können sie dies nur, indem sie Abfolgen von Substantiven und Verben kettenförmig aneinanderreihen. Eine Zustandsbestimmung zusammen mit einem Ereignis oder einer Handlung in einen einzigen Satz zu packen erlaubt ihre Sprache nicht.
Die Veröffentlichungen von Everetts ersten Befunden über die ungewöhnlichen sprachlichen Strukturen des Pirahã haben in der amerikanischen Linguistik eine lange Debatte ausgelöst. Durch sie wurde nämlich eine Theorie in Frage gestellt, die die internationale Sprachwissenschaft über Jahrzehnte hin beherrschte. Noam Chomsky hatte in den sechziger Jahren seine These von der generativen Transformationsgrammatik aufgestellt, der zufolge allen Sprachen eine Art von Regelsystem zugrunde liegen soll, das jeder Mensch von Geburt an in sich trägt.
Es bestimmt über Syntax, Phonologie und Morphologie. Seine Gleichförmigkeit macht das Erlernen der eigenen, aber auch jeder anderen Sprache möglich. Wichtige Belegstücke der Chomskyschen Theorie stellten dabei bestimmte sprachliche Universalien dar, zu denen insbesondere die Rekursion zählt. Aber gerade die gibt es im Pirahã nicht. Zur Erklärung dieser und anderer Besonderheiten wendet sich Everett daher älteren Ansätzen zu, wie sie vor allem in der Ethnolinguistik durch Forscher wie Edward Sapir und andere entwickelt worden waren. Anders als Chomsky gingen sie nicht von angeborenen Strukturen aus, sondern legten ihren Schwerpunkt auf die Prägung der Sprache durch die jeweilige Kultur und natürliche Umwelt.
Die Eigenheiten der von den Pirahã gesprochenen Sprache finden Everetts Meinung nach ihre Erklärung darin, dass in ihrer Welt nur das unmittelbare Erleben zählt. Alle sprachlichen Aussagen gingen bei ihnen vom Hier und Jetzt aus. Sie bezögen sich auf die Situation des Sprechers und seiner Zuhörer. Dabei werde nur das als gültig akzeptiert, was die beim Sprechakt Anwesenden selbst erlebt haben. Abstraktionen, die über diesen persönlichen Erfahrungsbereich hinausgingen, hätten für sie keinerlei Wert. Aus diesem Grund benötigten sie auch keine Zahlen oder Mengenangaben. Denn auf das unmittelbar Vorhandene könne man immer hindeuten. Schöpfungsmythen und andere weit in der Vergangenheit liegende Ereignisse seien den Pirahã fremd, weil kein Lebender sie aus eigener Anschauung bezeugen könne.
Ihre Verwandtschaftstermini gingen aus demselben Grund nur bis zur Generation der Großeltern zurück. Wenn sie keine Lebensmittelvorräte anlegten, dann deshalb, weil ihnen die Zukunft nicht weniger fern läge als die Vergangenheit. Träume würden ihnen dagegen als Fortsetzung der Realität gelten. Auch Naturgeister, von deren Erscheinungen Einzelne immer wieder berichteten, wären für sie Teil der gelebten Wirklichkeit, während sie die Idee einer Schöpfergottheit oder eines höchsten Wesens als absurd ansähen. Denn für solche transzendenten Gestalten gäbe es eben keine unmittelbare Evidenz.
In der Hingabe an die unmittelbare Gegenwart sieht Everett auch die Ursache für das gesteigerte Glücksempfinden der Pirahã. Denn um die Zukunft würden sie sich ebenso wenig Sorgen machen, wie das für immer Vergangene sie noch berühren könne. Die Fixierung auf das Hic et Nunc bietet ihm auch den Schlüssel dafür, weshalb sie der christlichen Botschaft so wenig abgewinnen konnten. Hätte er denn selbst Jesus je gesehen? Oder würde er irgendjemand kennen, der ihm wirklich begegnet sei? So und ähnlich fragten sie ihn immer wieder, wenn er ihnen vom Christentum erzählte.
Je tiefer Daniel Everett in die Sprach- und Gedankenwelt der Pirahã eindrang, desto weniger konnte er sich ihren Argumentationen verschließen. Das Buch, das wie ein Abenteuerroman beginnt, verwandelt sich so in einen Bildungsroman. Es berichtet von der Konversion des Autors. Denn Everett sah sich nach seinem eigenen Eingeständnis bald nicht mehr dazu fähig, sich mit derselben Naivität wie früher zu seinem Glauben zu bekennen. Die ganz im Hier und Jetzt lebenden Pirahã hatten ihn zu ihrer eigenen Weltsicht bekehrt. Obgleich seine Familie darüber zerbrach, wurden seine Zweifel so groß, dass er seine missionarische Tätigkeit aufgab und sich nur noch der Forschung widmete.
Diese überraschende Wende bildet den Höhe- und Endpunkt eines Buches, in dem persönliche Erlebnisse und wissenschaftliche Einsichten geschickt miteinander kombiniert werden, um sich wechselseitig zu kommentieren. Mit Lévi-Strauss' "Traurigen Tropen" hat es mehr gemeinsam als die anrührende Schilderung einer Gesellschaft, die dem Ansturm der Moderne lange getrotzt und ihre Eigenheiten bis in die Gegenwart zu behaupten verstanden hat. Wissenschaftliche Abhandlung und persönliches Bekenntnisbuch in einem, nimmt es die alte Tradition des philosophischen Reiseberichts wieder auf. Man legt es nur ungern aus der Hand. Was alleine stört, ist der für die deutsche Ausgabe gewählte plakative Titel. Leider wird er diesem vielschichtigen und ambitiösen Werk alles andere als gerecht.
KARL-HEINZ KOHL
Daniel L. Everett: "Das glücklichste Volk". Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 414 S., geb., Abb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit viel Neugier und Lust hat Katharina Granzin diesen wissenschaftlichen Rechenschaftsbericht über linguistische Untersuchungen zur Sprache eines Amazonasvolks gelesen, ist das Buch aus ihrer Sicht doch viel mehr als das: nämlich auch Abenteurerreportage, persönlicher Bekenntnis- und Entwicklungsroman sowie eine "großartige Lektion in unabhängigem Denken". Im Zentrum stehen, wie wir lesen, Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Metaphysik und Sprachstruktur, die der Linguist Daniel Everett im Zuge seiner Studien des Volks der Piraha gewann. Zuerst sei er 1977 an den Amazonas gereist, um die Bibel in die Sprache der Pirahas zu übersetzen. Er sei gescheitert, da deren Sprache so strukturiert sei, dass sie Vorstellungen nur von Unmittelbarem bilden könne. Am Ende habe Everett seinen Glauben verloren. Und zwar nicht nur den an Gott, sondern auch den an die Allgemeingültigkeit von Noam Chomskys einflussreicher Theorie von universell angeborenen Sprachstrukturen. Dass sie als "Nichtlinguistin" den Fachargumenten des Buchs mühelos folgen konnte, verdankt die Kritikerin einer "wunderbar prägnanten kleinen Einführung in die linguistischen Grundlagen" gleich zu Beginn des Buchs.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man blickt bei der Lektüre immer auch in den Spiegel der eigenen Kultur - und wird Überraschendes entdecken.« Saarländischer Rundfunk