Erzählungen, Pasticci, Phantasien
Pulcinellen sind in Italiens Süden spezielle Charaktermasken der Commedia dell'arte, unverschämt listige Diener, Säufer, Bettler, Krüppel. Wenn sie tot sind, endlich, kommt morgens die Stadtreinigung, "kehrt sie auf einen Haufen mit den zerquetschten Orangen und den nassen Zeitungen und kippt sie dann an einer stillen, hässlichen Stelle ins Meer". Ob Mosebach vom Zustand der letzten Pulcinellenschar in Neapel, von der ungeklärten Beziehung dreier Schiffspassagiere oder von der Höllenwohnung Don Giovannis erzählt oder den Leser gar in den Zirkel der venezianischen Hofberichterstatter versetzt: mit seinen siebzehn poetischen Texten entführt er in ferne Länder und vergangene Zeiten und offeriert eine wunderbare Sammlung literarischer Spielereien, die den Leser mit geradezu perfidem Witz und einer Prise altehrwürdigem englischen Nonsens betören.
Pulcinellen sind in Italiens Süden spezielle Charaktermasken der Commedia dell'arte, unverschämt listige Diener, Säufer, Bettler, Krüppel. Wenn sie tot sind, endlich, kommt morgens die Stadtreinigung, "kehrt sie auf einen Haufen mit den zerquetschten Orangen und den nassen Zeitungen und kippt sie dann an einer stillen, hässlichen Stelle ins Meer". Ob Mosebach vom Zustand der letzten Pulcinellenschar in Neapel, von der ungeklärten Beziehung dreier Schiffspassagiere oder von der Höllenwohnung Don Giovannis erzählt oder den Leser gar in den Zirkel der venezianischen Hofberichterstatter versetzt: mit seinen siebzehn poetischen Texten entführt er in ferne Länder und vergangene Zeiten und offeriert eine wunderbare Sammlung literarischer Spielereien, die den Leser mit geradezu perfidem Witz und einer Prise altehrwürdigem englischen Nonsens betören.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.1996Don Giovannis Höllenwohnung
Und andere Traumorte: Martin Mosebachs neue Pasticci
Wer weiß, wie viele Dinge es gibt, über die heute kein Mensch mehr etwas weiß? Niemand, außer vielleicht Martin Mosebach, dessen Prosa auf eigenartige und derzeit einzigartige Weise eine Nostalgie gestaltet, für die das Bedürfnis zu fehlen scheint. So informiert er in seinen neuen Stücken über den Stand des Pulcinellenwesens in Neapel, die Einrichtung von Don Giovannis Höllenwohnung, die Nashorn-Kontroverse in der Schweiz oder die Honneurs des Cavaliere Bentrovato. Mosebachs Berichterstatter sind pedantische Phänomenologen des Nichtwissenswerten, deren Beschreibungen einer fremdartig vertrauten Lebenswelt das konventionelle Sinnbegehren in höchster Präzision ins Leere geleiten. Für den Leser dieser Texte ist das so vergnüglich wie irritierend, dem Unbefugten aber mag es so ergehen wie dem Konsumenten der Kreationen des Meisters der "Neuen Küche": "Wer sich einem Gericht von seiner Hand mit Verstand näherte, der war in Gefahr, diesen Verstand nach der ersten Probe zu verlieren, weil die Erscheinung der Vollkommenheit die menschlichen Fassungskräfte überwältigt."
Als Modell und Motiv einer infinitesimalen erzählerischen Zweckmäßigkeit ohne Zweck erscheint bei Mosebach die russische Puppe. Die Stücke spotten der Organik, ihr Bau ist an nichts gebunden als eine ultimative Sichtbarkeit der Dinge. Sie enden daher in der Regel in sinnfreier Emblematik: "Um die Sonne voll auf die Tasse treffen zu lassen, neigte ich sie stärker, und bevor die nun zwangsläufig überlaufende Schokolade sie mit braunrotem Vorhang endgültig meinen Blicken entzog, wurde ich für meine Mühe belohnt und erkannte in den Strahlen einer vergoldenden Herbstsonne für einen Augenblick lang auf der Fahne ein Osterlamm, das auf einer Wiese lag." Weitgehend frei von Moral, Kritik und Lehre verbleibt das fiktiv Tradierte in einem seltsamen Schwebezustand: Folgenlosigkeit erscheint als ästhetische Maxime. So empfehlen sich diese visuellen Virtuosenstückchen als Einschlaflektüre des postmodernen Zeitalters: "Er schloß das Buch, löschte das Licht und schlief beruhigt ein."
Doch Vorsicht! Bei leichtem Schlaf und Traum können die ästhetizistischen Sätze zu einem beunruhigenden Eigenleben erwachen, und dann können sich die Gestalten Mosebachs in Chiffren der Sinnverlassenheit verwandeln. Es ist ein ernster Narr, der hier die Schellentrommel schlägt. Er beherrscht sein Instrument so perfekt, wie es nur in Spätzeiten vorkommt. FRIEDMAR APEL
Martin Mosebach: "Das Grab der Pulcinellen". Erzählungen, Pasticci, Phantasien. Berlin Verlag, Berlin 1996. 176 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und andere Traumorte: Martin Mosebachs neue Pasticci
Wer weiß, wie viele Dinge es gibt, über die heute kein Mensch mehr etwas weiß? Niemand, außer vielleicht Martin Mosebach, dessen Prosa auf eigenartige und derzeit einzigartige Weise eine Nostalgie gestaltet, für die das Bedürfnis zu fehlen scheint. So informiert er in seinen neuen Stücken über den Stand des Pulcinellenwesens in Neapel, die Einrichtung von Don Giovannis Höllenwohnung, die Nashorn-Kontroverse in der Schweiz oder die Honneurs des Cavaliere Bentrovato. Mosebachs Berichterstatter sind pedantische Phänomenologen des Nichtwissenswerten, deren Beschreibungen einer fremdartig vertrauten Lebenswelt das konventionelle Sinnbegehren in höchster Präzision ins Leere geleiten. Für den Leser dieser Texte ist das so vergnüglich wie irritierend, dem Unbefugten aber mag es so ergehen wie dem Konsumenten der Kreationen des Meisters der "Neuen Küche": "Wer sich einem Gericht von seiner Hand mit Verstand näherte, der war in Gefahr, diesen Verstand nach der ersten Probe zu verlieren, weil die Erscheinung der Vollkommenheit die menschlichen Fassungskräfte überwältigt."
Als Modell und Motiv einer infinitesimalen erzählerischen Zweckmäßigkeit ohne Zweck erscheint bei Mosebach die russische Puppe. Die Stücke spotten der Organik, ihr Bau ist an nichts gebunden als eine ultimative Sichtbarkeit der Dinge. Sie enden daher in der Regel in sinnfreier Emblematik: "Um die Sonne voll auf die Tasse treffen zu lassen, neigte ich sie stärker, und bevor die nun zwangsläufig überlaufende Schokolade sie mit braunrotem Vorhang endgültig meinen Blicken entzog, wurde ich für meine Mühe belohnt und erkannte in den Strahlen einer vergoldenden Herbstsonne für einen Augenblick lang auf der Fahne ein Osterlamm, das auf einer Wiese lag." Weitgehend frei von Moral, Kritik und Lehre verbleibt das fiktiv Tradierte in einem seltsamen Schwebezustand: Folgenlosigkeit erscheint als ästhetische Maxime. So empfehlen sich diese visuellen Virtuosenstückchen als Einschlaflektüre des postmodernen Zeitalters: "Er schloß das Buch, löschte das Licht und schlief beruhigt ein."
Doch Vorsicht! Bei leichtem Schlaf und Traum können die ästhetizistischen Sätze zu einem beunruhigenden Eigenleben erwachen, und dann können sich die Gestalten Mosebachs in Chiffren der Sinnverlassenheit verwandeln. Es ist ein ernster Narr, der hier die Schellentrommel schlägt. Er beherrscht sein Instrument so perfekt, wie es nur in Spätzeiten vorkommt. FRIEDMAR APEL
Martin Mosebach: "Das Grab der Pulcinellen". Erzählungen, Pasticci, Phantasien. Berlin Verlag, Berlin 1996. 176 S., geb., 34,- DM.
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