"Man sollte Polgar lesen, weil er Vergnügen macht und gescheit ist." (Elke Heidenreich)
Der Erzähler Polgar hatte viele Themen. An seinem Tisch im Kaffeehaus - für Polgar der "Ort der Leidenschaften" - schrieb er über Städte und Landschaften, Dinge und Tiere. Die Wiener Jahre nach 1918, das glanzvolle Berlin der untergehenden Weimarer Republik und das Leben des Emigranten sind in seine Texte eingeflossen. Doch vor allem schrieb er über die Menschen - und nicht zuletzt auch immer über sich selbst.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Harry Rowohlt
Der Erzähler Polgar hatte viele Themen. An seinem Tisch im Kaffeehaus - für Polgar der "Ort der Leidenschaften" - schrieb er über Städte und Landschaften, Dinge und Tiere. Die Wiener Jahre nach 1918, das glanzvolle Berlin der untergehenden Weimarer Republik und das Leben des Emigranten sind in seine Texte eingeflossen. Doch vor allem schrieb er über die Menschen - und nicht zuletzt auch immer über sich selbst.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Harry Rowohlt
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2004Seereise mit Spazierstock
Schaum des Erlebten: Die Welt des Alfred Polgar
Alfred Polgar richtete sich in dem Genre ein, das innerhalb einer Zeitung den wenigsten Platz bietet: in der Glosse, in einer äußeren Spalte, in einer Ecke des großen Blattes. Nur der Meldung wird noch weniger Raum gewährt. Doch könnte man sich vorstellen, dass Polgar sich gerne auch deren noch strengere Ökonomie zu eigen gemacht hätte.
Auf solch beschränktem Platz sollte sowohl das Leben, einschließlich des Todes, als auch die Welt untergebracht werden. Mit weniger gab er sich nicht zufrieden, was sich als folgenreich für seine Sprache erwies. Der Raummangel zwang ihn zu großer Sparsamkeit, Einfachheit und Souveränität. Vielleicht haben seine Texte deshalb überlebt, während Massen von Zeitungsartikeln aus jener Zeit längst Makulatur sind. Dabei wusste Polgar, was er tat. „Etwas Enge braucht das Herz zum Gefühl unendlicher Weite”, schreibt er über eine Seereise.
Im Nachhinein ist es schwierig, sich Alfred Polgar ohne Stock vorzustellen, obwohl er ihn vielleicht nicht benutzte und nicht einmal brauchte. Ganz sicher musste er sich nicht darauf stützen; Polgar ist stets er selber, er steht auf eigenen Beinen. Er braucht den Stock auch nicht, um damit zu schlagen oder herumzufuchteln. Schon gar nicht, um damit auf etwas zu zeigen: Ein Gentlemen zeigt nie auf etwas. Möglicherweise benutzt er den Stock, um in etwas hineinzupieksen, das er im Vorübergehen findet. Doch vor allem braucht er ihn, um ihn nach vorn und nach hinten zu schwingen und damit elegante Arabesken in die Luft zu zeichnen, während er selbst unterwegs ist, um zu illustrieren, was seine eigentliche Aufgabe ist, das Flanieren also - und das weniger in einem Park oder auf einer Straße als im Reich der Gedanken und Gefühle. Auch wenn seine Kenntnisse über das Leben und die Welt seine Haltung so prägen, dass er sich leicht nach hinten lehnen muss. Weil er immer alles durchschaut, oder auch aus Verblüffung, ja Ekel. Dabei zeugt seine Haltung stets von Stil, von Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen. Sie ist jugendlich.
Alfred Polgars Welt kann in seinen Artikeln als eine Welt erscheinen, in der es nur wenige Menschen gibt, aber sehr viel Zeit zur Verfügung steht, die man nicht für etwas Bestimmtes verwenden muss. Dabei ist seine Welt keineswegs auf Cafés und Theaterfoyers begrenzt. Er geht zum Sechstagerennen, ist im Gerichtssaal, im Hotel, im Kino, auf Ausstellungen und auf einer Yacht, er ist in den Ferien und sogar auf dem Tennisplatz (auf der Tribüne, von Sport versteht er sehr wenig). In erstaunlich vielen Milieus scheint er zu Hause zu sein, und das einzige was ihn - hin und wieder - aus der Fassung bringt, ist Dummheit, diese prinzipientreueste aller menschlichen Äußerungen. Mit Ironie kommt man Dummheit nur selten bei. Stattdessen ist Polgar erstaunt, mit einem Erstaunen, das manchmal in Entsetzen übergeht.
Der Blick auf Leni Riefenstahl
Es kommt vor, dass er versucht, die Methode der Dummheit gegen diese selbst zu wenden. Er kann eine Idee oder eine Vorstellung aufnehmen und sie bis an ihr Ende weiterführen, um sie auf diese Weise bedenklich werden zu lassen. Oft geschieht das in der Absicht, eine Gemeinheit, eine Absurdität oder eine Anmaßung offen zu legen; in seiner Welt gehört das Lächerliche zu den wenigen Sünden, die es tatsächlich gibt. Doch es sollte bald schlimmer werden: Denn seine Welt verschwand ja nicht nur, sie wurde zum größten Teil ausgelöscht. Frühzeitig nimmt er die Zeichen des Kommenden wahr, und wenn Polgar über Hitler und dessen Gefolgschaft schreibt, verändert sich der Ton, und es herrscht ein unterkühltes Pathos.
Bald ist er selbst Flüchtling; der Mann aus Europa und Österreich - dem Land der „Verschmelzung von Brutalität und Gemütlichkeit” -, landet als Emigrant in den Vereinigten Staaten. Doch auch nachdem die Welt untergegangen ist, bleibt er intellektuell unbarmherzig: Weder Leni Riefenstahl noch Mathilde Ludendorff, die Witwe des Generalfeldmarschalls, erscheinen in seinen Schilderungen aus dem Gerichtssaal im München der Nachkriegszeit als harmlos - nein, was man erkennt, ist kalter Opportunismus und antisemitische Hysterie.
Dass er in einem Hotelzimmer in Zürich, in der neutralen Schweiz, stirbt, als Gast in seinem eigenen Europa, mag manchem als konsequent erscheinen. Oder sogar als symbolisch. Doch ist es weder das eine noch das andere, sondern nur ein Beispiel für Zufälle, die, wenn sie zusammengeführt werden, wie schlechte Literatur wirken. Oder, um es in Polgars eigenen Worten auszudrücken: „Allerdings ist und geschieht kaum irgend etwas auf Erden, von dem nicht zu sagen wäre, das Leben sei wie es oder es sei wie das Leben, welches ja auch eben dieser seiner unvergleichlichen Vergleichbarkeit die hervorragende Rolle dankt, die es in der Literatur spielt.”
Harry Rowohlt hat Polgar-Texte in einer Fülle ausgewählt, die uns schon durch ihren Reichtum einen Eindruck von dem Schmerz vermittelt, den er beim Fortlassen empfunden haben muss. Irgendwo redet Polgar vom „Schaum des Erlebten”; genau das ist es, was er seinen Lesern bietet. Wer findet, dass dieses banal oder unzureichend sei, versteht vermutlich auch die Schönheit der Brandung nicht.
RICHARD SWARTZ
ALFRED POLGAR: Das große Lesebuch. Zusammengetragen von Harry Rowohlt. Kain & Aber Verlag, Zürich 2003. 427 Seiten, 22,80 Euro.
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Schaum des Erlebten: Die Welt des Alfred Polgar
Alfred Polgar richtete sich in dem Genre ein, das innerhalb einer Zeitung den wenigsten Platz bietet: in der Glosse, in einer äußeren Spalte, in einer Ecke des großen Blattes. Nur der Meldung wird noch weniger Raum gewährt. Doch könnte man sich vorstellen, dass Polgar sich gerne auch deren noch strengere Ökonomie zu eigen gemacht hätte.
Auf solch beschränktem Platz sollte sowohl das Leben, einschließlich des Todes, als auch die Welt untergebracht werden. Mit weniger gab er sich nicht zufrieden, was sich als folgenreich für seine Sprache erwies. Der Raummangel zwang ihn zu großer Sparsamkeit, Einfachheit und Souveränität. Vielleicht haben seine Texte deshalb überlebt, während Massen von Zeitungsartikeln aus jener Zeit längst Makulatur sind. Dabei wusste Polgar, was er tat. „Etwas Enge braucht das Herz zum Gefühl unendlicher Weite”, schreibt er über eine Seereise.
Im Nachhinein ist es schwierig, sich Alfred Polgar ohne Stock vorzustellen, obwohl er ihn vielleicht nicht benutzte und nicht einmal brauchte. Ganz sicher musste er sich nicht darauf stützen; Polgar ist stets er selber, er steht auf eigenen Beinen. Er braucht den Stock auch nicht, um damit zu schlagen oder herumzufuchteln. Schon gar nicht, um damit auf etwas zu zeigen: Ein Gentlemen zeigt nie auf etwas. Möglicherweise benutzt er den Stock, um in etwas hineinzupieksen, das er im Vorübergehen findet. Doch vor allem braucht er ihn, um ihn nach vorn und nach hinten zu schwingen und damit elegante Arabesken in die Luft zu zeichnen, während er selbst unterwegs ist, um zu illustrieren, was seine eigentliche Aufgabe ist, das Flanieren also - und das weniger in einem Park oder auf einer Straße als im Reich der Gedanken und Gefühle. Auch wenn seine Kenntnisse über das Leben und die Welt seine Haltung so prägen, dass er sich leicht nach hinten lehnen muss. Weil er immer alles durchschaut, oder auch aus Verblüffung, ja Ekel. Dabei zeugt seine Haltung stets von Stil, von Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen. Sie ist jugendlich.
Alfred Polgars Welt kann in seinen Artikeln als eine Welt erscheinen, in der es nur wenige Menschen gibt, aber sehr viel Zeit zur Verfügung steht, die man nicht für etwas Bestimmtes verwenden muss. Dabei ist seine Welt keineswegs auf Cafés und Theaterfoyers begrenzt. Er geht zum Sechstagerennen, ist im Gerichtssaal, im Hotel, im Kino, auf Ausstellungen und auf einer Yacht, er ist in den Ferien und sogar auf dem Tennisplatz (auf der Tribüne, von Sport versteht er sehr wenig). In erstaunlich vielen Milieus scheint er zu Hause zu sein, und das einzige was ihn - hin und wieder - aus der Fassung bringt, ist Dummheit, diese prinzipientreueste aller menschlichen Äußerungen. Mit Ironie kommt man Dummheit nur selten bei. Stattdessen ist Polgar erstaunt, mit einem Erstaunen, das manchmal in Entsetzen übergeht.
Der Blick auf Leni Riefenstahl
Es kommt vor, dass er versucht, die Methode der Dummheit gegen diese selbst zu wenden. Er kann eine Idee oder eine Vorstellung aufnehmen und sie bis an ihr Ende weiterführen, um sie auf diese Weise bedenklich werden zu lassen. Oft geschieht das in der Absicht, eine Gemeinheit, eine Absurdität oder eine Anmaßung offen zu legen; in seiner Welt gehört das Lächerliche zu den wenigen Sünden, die es tatsächlich gibt. Doch es sollte bald schlimmer werden: Denn seine Welt verschwand ja nicht nur, sie wurde zum größten Teil ausgelöscht. Frühzeitig nimmt er die Zeichen des Kommenden wahr, und wenn Polgar über Hitler und dessen Gefolgschaft schreibt, verändert sich der Ton, und es herrscht ein unterkühltes Pathos.
Bald ist er selbst Flüchtling; der Mann aus Europa und Österreich - dem Land der „Verschmelzung von Brutalität und Gemütlichkeit” -, landet als Emigrant in den Vereinigten Staaten. Doch auch nachdem die Welt untergegangen ist, bleibt er intellektuell unbarmherzig: Weder Leni Riefenstahl noch Mathilde Ludendorff, die Witwe des Generalfeldmarschalls, erscheinen in seinen Schilderungen aus dem Gerichtssaal im München der Nachkriegszeit als harmlos - nein, was man erkennt, ist kalter Opportunismus und antisemitische Hysterie.
Dass er in einem Hotelzimmer in Zürich, in der neutralen Schweiz, stirbt, als Gast in seinem eigenen Europa, mag manchem als konsequent erscheinen. Oder sogar als symbolisch. Doch ist es weder das eine noch das andere, sondern nur ein Beispiel für Zufälle, die, wenn sie zusammengeführt werden, wie schlechte Literatur wirken. Oder, um es in Polgars eigenen Worten auszudrücken: „Allerdings ist und geschieht kaum irgend etwas auf Erden, von dem nicht zu sagen wäre, das Leben sei wie es oder es sei wie das Leben, welches ja auch eben dieser seiner unvergleichlichen Vergleichbarkeit die hervorragende Rolle dankt, die es in der Literatur spielt.”
Harry Rowohlt hat Polgar-Texte in einer Fülle ausgewählt, die uns schon durch ihren Reichtum einen Eindruck von dem Schmerz vermittelt, den er beim Fortlassen empfunden haben muss. Irgendwo redet Polgar vom „Schaum des Erlebten”; genau das ist es, was er seinen Lesern bietet. Wer findet, dass dieses banal oder unzureichend sei, versteht vermutlich auch die Schönheit der Brandung nicht.
RICHARD SWARTZ
ALFRED POLGAR: Das große Lesebuch. Zusammengetragen von Harry Rowohlt. Kain & Aber Verlag, Zürich 2003. 427 Seiten, 22,80 Euro.
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Bravo, Harry! Bravo, Alfred!! kann ich da nur ausrufen, und im Übrigen auf den angenehmen Umstand verweisen, dass Rowohlts Textauswahl notwendigerweise geglückt sein muss, da Polgars Werk bekanntlich nach dem faustischen Lebensprinzip aufgebaut ist: wo ihr's packt, da ist's interessant. (...) Kurzum, Alfred Polgar ist ein zeitgemäßer Schriftsteller. Immer noch. Immer wieder aufs Neue. Wiener Zeitung