Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.1997Lichter als das Tageslicht
Monster, Minnesang und Rosenranken: Die Sagenwelt des Mittelalters
Drei verschiedene Geisteswelten sind in diesem Band mittelalterlicher Sagen vereint: die der altnordischen Götterlehre, der Edda, die der deutschen Heldensage von Gudrun bis zu den Nibelungen und die der Epen um den Artuskreis und den Gral. Damit ist der Weg von der geschlossenen Schicksalswelt zu den üppig aufblühenden Wundern des christlichen Europa nachvollziehbar.
Weil das Schicksal in der Edda den höchsten Rang einnimmt, gehört das Wissen von ihm zu den wertvollsten Gütern. Wer es erlangen will, muß stets einen anderen befragen, mag es nun ein Rabe oder eine Seherin sein. Die herausfordernde, freche, scharf zugespitzte Rede ist ein Kennzeichen dieser ganz auf Dialog eingestellten Welt. Wenn es für die "Streitkultur" der Gegenwart ein mythologisches Vorbild gibt, dann sind es die in verletzender Offenheit geführten Rededuelle der Edda. Und die grausige Kehrseite solcher Direktheit ist die gnadenlose Rache, die in der Geschichte von Wieland dem Schmied zu eigener Virtuosität ausgebildet wird.
Licht und Finsternis haben gegenüber der Antike an Intensität gewonnen. Kein Grieche ist so düster wie Hagen, und vom christlichen Gott sagt Frau Herzeleide ihrem Sohn Parzival, er sei "lichter als das helle Tageslicht". So kommt es, daß hier die Menschen farbiger erscheinen: Bleich wie Amfortas, braun wie das Waldwesen, grün wie Robin Hood, mit dessen Geschichte der Band schließt. Parzival sieht im Schnee drei rote Blutstropfen, die ihn, "weiß und rot wie Milch und Blut", an das Bild der Gattin Kondwiramur erinnern. Einer trägt am Hut eine Pfauenfeder; der Gral prunkt mit funkelnden Edelsteinen. Und wenn Artus sich mit seiner Gemahlin versöhnt, dann wegen der Schamröte in ihrem Gesicht, die ihren Liebreiz nur steigert.
Und noch etwas ist neu: Die Helden, die auf Abenteuer ausziehen und dabei oft genug der Verzweiflung nahe kommen, sind, wenn sie aus ihr wieder auftauchen, innerlich gewandelt. "Ywain war ein anderer geworden", heißt es einmal. In dieser Welt ist man einer, aber man wird, durch die Fügung des Wunders, ein anderer. Das Geschehen steht im Zeichen der Trinität. Nicht zufällig bildet deshalb die Erzählung von Parzival die Mitte des Bandes, der christliche Festkalender mit dem Karfreitag als Hauptdatum ordnet die Zeit. Die Illustrationen gehen darauf ein, indem sie das Kreuz in immer neuen Versionen, in Stein, in Holz und rosenumrankt ins Bild stellen.
Johannes Carstensen hat sich dem mittelalterlichen Ton meist glücklich angenähert. Kein Zweifel, daß hier eine lesbare Bearbeitung vorliegt. Gegen eine vorschnelle Kanonisierung dieser Sammlung aber muß eingewandt werden, daß Carstensen kein Dichter war: Unschöne Prägungen wie "kampffroh" und die allzu häufige "Betroffenheit" stören. Deshalb wird für die Nibelungen eher die Nacherzählung von Franz Fühmann den bleibenden Maßstab abgeben. Auch die lebendigen Bearbeitungen von Martin Beheim-Schwarzbach verdienten es, nicht ganz in Vergessenheit zu geraten.
Ein Glücksfall sind freilich die Illustrationen von Tatjana Hauptmann. Früher hat sie die Mainzelmännchen gezeichnet, bundesrepublikanische Zwerge in domestizierter Form. In diesem Band gewinnen Sie ihre dämonische, kichernde Substanz zurück. Tatjana Hauptmanns kleine Monster gehören zum Besten, was in dieser Gattung erreicht wurde, und auch der Gegenpol - das Liebliche der Frauen - gelingt ihr. Die Probleme liegen eher in der Mitte, wo des Karikaturistischen manchmal zuviel ist: Minnesänger müssen nicht aussehen wie die Stammtischbrüder von Deix.
Dies sind Sagen für Kinder, die ihren Schwab und die Bibel in den Hauptzügen kennen und in der stärker konturierten Welt der Antike bereits zu Hause sind. Ihnen wird die Sammlung einen Weg in das mittelalterliche Europa eröffnen.
LORENZ JÄGER "Das große Sagenbuch". Die schönsten Götter-, Helden- und Rittersagen des Mittelalters. Nacherzählt von Johannes Carstensen mit Bildern von Tatjana Hauptmann. 240 S., geb., Diogenes-Verlag, Zürich 1997, 69.-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Monster, Minnesang und Rosenranken: Die Sagenwelt des Mittelalters
Drei verschiedene Geisteswelten sind in diesem Band mittelalterlicher Sagen vereint: die der altnordischen Götterlehre, der Edda, die der deutschen Heldensage von Gudrun bis zu den Nibelungen und die der Epen um den Artuskreis und den Gral. Damit ist der Weg von der geschlossenen Schicksalswelt zu den üppig aufblühenden Wundern des christlichen Europa nachvollziehbar.
Weil das Schicksal in der Edda den höchsten Rang einnimmt, gehört das Wissen von ihm zu den wertvollsten Gütern. Wer es erlangen will, muß stets einen anderen befragen, mag es nun ein Rabe oder eine Seherin sein. Die herausfordernde, freche, scharf zugespitzte Rede ist ein Kennzeichen dieser ganz auf Dialog eingestellten Welt. Wenn es für die "Streitkultur" der Gegenwart ein mythologisches Vorbild gibt, dann sind es die in verletzender Offenheit geführten Rededuelle der Edda. Und die grausige Kehrseite solcher Direktheit ist die gnadenlose Rache, die in der Geschichte von Wieland dem Schmied zu eigener Virtuosität ausgebildet wird.
Licht und Finsternis haben gegenüber der Antike an Intensität gewonnen. Kein Grieche ist so düster wie Hagen, und vom christlichen Gott sagt Frau Herzeleide ihrem Sohn Parzival, er sei "lichter als das helle Tageslicht". So kommt es, daß hier die Menschen farbiger erscheinen: Bleich wie Amfortas, braun wie das Waldwesen, grün wie Robin Hood, mit dessen Geschichte der Band schließt. Parzival sieht im Schnee drei rote Blutstropfen, die ihn, "weiß und rot wie Milch und Blut", an das Bild der Gattin Kondwiramur erinnern. Einer trägt am Hut eine Pfauenfeder; der Gral prunkt mit funkelnden Edelsteinen. Und wenn Artus sich mit seiner Gemahlin versöhnt, dann wegen der Schamröte in ihrem Gesicht, die ihren Liebreiz nur steigert.
Und noch etwas ist neu: Die Helden, die auf Abenteuer ausziehen und dabei oft genug der Verzweiflung nahe kommen, sind, wenn sie aus ihr wieder auftauchen, innerlich gewandelt. "Ywain war ein anderer geworden", heißt es einmal. In dieser Welt ist man einer, aber man wird, durch die Fügung des Wunders, ein anderer. Das Geschehen steht im Zeichen der Trinität. Nicht zufällig bildet deshalb die Erzählung von Parzival die Mitte des Bandes, der christliche Festkalender mit dem Karfreitag als Hauptdatum ordnet die Zeit. Die Illustrationen gehen darauf ein, indem sie das Kreuz in immer neuen Versionen, in Stein, in Holz und rosenumrankt ins Bild stellen.
Johannes Carstensen hat sich dem mittelalterlichen Ton meist glücklich angenähert. Kein Zweifel, daß hier eine lesbare Bearbeitung vorliegt. Gegen eine vorschnelle Kanonisierung dieser Sammlung aber muß eingewandt werden, daß Carstensen kein Dichter war: Unschöne Prägungen wie "kampffroh" und die allzu häufige "Betroffenheit" stören. Deshalb wird für die Nibelungen eher die Nacherzählung von Franz Fühmann den bleibenden Maßstab abgeben. Auch die lebendigen Bearbeitungen von Martin Beheim-Schwarzbach verdienten es, nicht ganz in Vergessenheit zu geraten.
Ein Glücksfall sind freilich die Illustrationen von Tatjana Hauptmann. Früher hat sie die Mainzelmännchen gezeichnet, bundesrepublikanische Zwerge in domestizierter Form. In diesem Band gewinnen Sie ihre dämonische, kichernde Substanz zurück. Tatjana Hauptmanns kleine Monster gehören zum Besten, was in dieser Gattung erreicht wurde, und auch der Gegenpol - das Liebliche der Frauen - gelingt ihr. Die Probleme liegen eher in der Mitte, wo des Karikaturistischen manchmal zuviel ist: Minnesänger müssen nicht aussehen wie die Stammtischbrüder von Deix.
Dies sind Sagen für Kinder, die ihren Schwab und die Bibel in den Hauptzügen kennen und in der stärker konturierten Welt der Antike bereits zu Hause sind. Ihnen wird die Sammlung einen Weg in das mittelalterliche Europa eröffnen.
LORENZ JÄGER "Das große Sagenbuch". Die schönsten Götter-, Helden- und Rittersagen des Mittelalters. Nacherzählt von Johannes Carstensen mit Bildern von Tatjana Hauptmann. 240 S., geb., Diogenes-Verlag, Zürich 1997, 69.-DM.
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