Das Buch enthält sämtliche Sonette des großen Dichters aus den Jahren 1975 bis 2019 - formvollendet, sinnlich und von großer Schönheit. Andreas Reimann ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker unserer Zeit. Diese Gedichte werden bleiben. »Komm auf ein wort ins sonettarium!Und was dir drin mißfällt, mein freund: bewein's! Ansonsten: allen alles. Keinem keins.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2020Einst wurde ich bestraft für die Gedichte
Widerstand ist seine Zier: Im Rahmen der Werkausgabe des Leipziger Lyrikers Andreas Reimann erscheinen seine Sonette aus mehr als vierzig Jahren
In Leipzig wurde nach der Wende Beethovens Andenken ein wenig beschnitten: durch Umbenennung des vorderen Teils der Beethovenstraße in "Straße des 17. Juni". Nicht, dass es sich um einen besonders schönen Straßenzug gehandelt hätte, aber er führte an einem Justizkomplex der DDR vorbei, der Bezirksstaatsanwaltschaft, Volkspolizei sowie Bezirksgericht umfasste. Und unter der Adresse Beethovenstraße 2 A firmierte auch ein Dienstgebäude der Stasi samt zugehöriger Untersuchungshaftanstalt. Die Erinnerung daran wird durch eine Gedenkplakette für die Opfer des DDR-Regimes bewahrt - und durch eines der eindrucksvollsten Gefängnisgedichte in deutscher Sprache, geschrieben 1975 von Andreas Reimann, sieben Jahre nachdem er dort wegen des Vorwurfs staatsfeindlicher Hetze interniert gewesen war, für die er dann zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt werden sollte.
Reimann kleidete sein Elend als Untersuchungshäftling in die klassisch-lyrische Form des Sonetts und nannte es "Beethovenstraße zwei a":
Zwei körper lang die zelle. Breit: drei schritte,
wenn einer kurz tritt. In des hohlraums mitte
auf einem vielbesessen schemel hockt
die nummer krumm, verängstigt und verstockt.
Die wandfarb', pah!, erfand ein grünkohl-kacker!
Der holzwurm mulmt sich durch das brett-brett wacker.
Glasziegel vor der luke. Und wenn's wintert,
dann ist der heizer leider dienst- verhindert.
"Aufwärm dich beim verhör!" Im zahnputzbecher
des morgens ein zylinder eis. "Kein wort
wirst du dir hier notiern, du schreib- verbrecher!"
Und neben dem spion stinkt der abort.
O umsicht!: Freßnapf und besteck aus plast!,
daß auch nicht aus dem leben flieht der gast.
Dichter in der DDR - man denke nur an Peter Hacks, Johannes Bobrowski oder Volker Braun - nahmen besonders gern klassische Formen auf, egal, ob sie staatsnah oder staatsfern waren. Erstere wollten die literarischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft nutzbar machen für die Lyrik im Sozialismus, Letztere durch Heraufbeschwörung der Tradition ihren Widerstand gegen die politische Indienstnahme der Künste ausdrücken. Reimann zählte zu dieser zweiten Gruppe, obwohl der 1946 geborene Leipziger bereits als Teenager im "Neuen Deutschland" veröffentlichte und zum Studium am Literaturinstitut seiner Heimatstadt zugelassen wurde, der Kaderschmiede der DDR-Literatur. Bald aber verweigerte sich Reimann den staatlichen Vorgaben des sozialistischen Realismus, wurde vom Institut relegiert und durfte seinen ersten Gedichtband nicht publizieren. Die Freiheit verlor er dann wegen seines Protests gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.
Nach der Haftzeit wandte sich Reimann immer stärker den Traditionen der Dichtkunst zu, und 1975 erschien sein verspätetes Buchdebüt: der Gedichtband "Die Weisheit des Fleisches". Natürlich war darin das im selben Jahr entstandene "Beethovenstraße zwei a" nicht enthalten, doch Reimann fand in seiner Lyrik zumindest ein privates Ventil für den Ekel über die bestehenden Verhältnisse: "nun ja, mein vers, magst du als irrlicht lichtern", heißt es in einem anderen Sonett. In der DDR kam 1979 noch ein zweites Buch heraus, danach nichts mehr. "Das wort ,zu früh', das ich zu tragen habe", spricht Reimann 2014 in seinem "Nachruf für n." an, doch für ihn als Schriftsteller kam die Wende von 1989 noch zur rechten Zeit.
Denn seitdem ist sein umfangreiches Schaffen sichtbar geworden, das jetzt in einer elfbändigen Werkausgabe zugänglich gemacht wird, und eine besondere Rolle nehmen darin die Sonette ein, nicht zuletzt, weil sie auch die von August von Platen bevorzugte Form waren, dem im neunzehnten Jahrhundert als Homosexueller verfemten Dichter, dem sich Reimann verbunden fühlt. Denn auch er durfte seine Homosexualität in der DDR nicht öffentlich ausleben, machte sie aber zum Gegenstand mehrerer lyrischer Liebeserklärungen, die im jüngst erschienenen fünften Band der "Werke" ein ganzes Kapitel füllen: alles Sonette wie auch sonst in diesem Buch, das insgesamt deren 140 enthält und deshalb "Das große Sonettarium" betitelt ist, nachdem es 1995 bereits einen Reimann-Gedichtband namens "Das Sonettarium" gegeben hat, dessen Inhalt nun aber wesentlich vermehrt wurde: um Gedichte aus den Jahren 1965 bis 2019. Unter anderem aber auch durch eines ("Die überlegenen"), das nur aus dreizehn statt der bei Sonetten zwingenden vierzehn Zeilen besteht, aus vier Terzinen und einer separierten Schlusszeile, einem Fremdkörper also im Sonetten-Buch, der der Aufmerksamkeit von Autor wie Lektorat entging, jedoch von Reimann nun schelmisch als "Ungereimtheit" im Konvolut bezeichnet wird.
Dabei ist Reimann ein treuer Vasall des Reims, aber ein Freibeuter der Sonett-Schematik, die sich bei ihm nur selten an der klassischen Abfolge von zwei Quartetten und zwei Terzetten orientiert. Freiheit ist bei ihm nicht nur politisch konnotiert. Ihr dienen auch Antilaben und Enjambements, die Reimanns Gedichte nicht bloß beim Vortrag dramatisieren. Wer Lyrik lesen und das Leben mag, der lese die lebendige Lyrik von Reimann - kaum ein deutscher Gegenwartslyriker dichtet in so deutlicher Sprache.
Einst wurde ich bestraft für die gedichte,
und die gedichte wurden totgeschwiegen.
"Dein lebenswandel macht dein werk zunichte!",
sprach mir ein freund.
"Wir sind nicht totzukriegen!",
so prahlte ich. "Wenn man die akte schließt,
den lebenslauf, die schäbigen berichte,
wird sagen man: Was auch gewesen ist:
Von einem dichter zählen die gedichte!"
ANDREAS PLATTHAUS
Andreas Reimann: "Das große Sonettarium".
Gedichte. Werke, Band 5.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019. 184 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Widerstand ist seine Zier: Im Rahmen der Werkausgabe des Leipziger Lyrikers Andreas Reimann erscheinen seine Sonette aus mehr als vierzig Jahren
In Leipzig wurde nach der Wende Beethovens Andenken ein wenig beschnitten: durch Umbenennung des vorderen Teils der Beethovenstraße in "Straße des 17. Juni". Nicht, dass es sich um einen besonders schönen Straßenzug gehandelt hätte, aber er führte an einem Justizkomplex der DDR vorbei, der Bezirksstaatsanwaltschaft, Volkspolizei sowie Bezirksgericht umfasste. Und unter der Adresse Beethovenstraße 2 A firmierte auch ein Dienstgebäude der Stasi samt zugehöriger Untersuchungshaftanstalt. Die Erinnerung daran wird durch eine Gedenkplakette für die Opfer des DDR-Regimes bewahrt - und durch eines der eindrucksvollsten Gefängnisgedichte in deutscher Sprache, geschrieben 1975 von Andreas Reimann, sieben Jahre nachdem er dort wegen des Vorwurfs staatsfeindlicher Hetze interniert gewesen war, für die er dann zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt werden sollte.
Reimann kleidete sein Elend als Untersuchungshäftling in die klassisch-lyrische Form des Sonetts und nannte es "Beethovenstraße zwei a":
Zwei körper lang die zelle. Breit: drei schritte,
wenn einer kurz tritt. In des hohlraums mitte
auf einem vielbesessen schemel hockt
die nummer krumm, verängstigt und verstockt.
Die wandfarb', pah!, erfand ein grünkohl-kacker!
Der holzwurm mulmt sich durch das brett-brett wacker.
Glasziegel vor der luke. Und wenn's wintert,
dann ist der heizer leider dienst- verhindert.
"Aufwärm dich beim verhör!" Im zahnputzbecher
des morgens ein zylinder eis. "Kein wort
wirst du dir hier notiern, du schreib- verbrecher!"
Und neben dem spion stinkt der abort.
O umsicht!: Freßnapf und besteck aus plast!,
daß auch nicht aus dem leben flieht der gast.
Dichter in der DDR - man denke nur an Peter Hacks, Johannes Bobrowski oder Volker Braun - nahmen besonders gern klassische Formen auf, egal, ob sie staatsnah oder staatsfern waren. Erstere wollten die literarischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft nutzbar machen für die Lyrik im Sozialismus, Letztere durch Heraufbeschwörung der Tradition ihren Widerstand gegen die politische Indienstnahme der Künste ausdrücken. Reimann zählte zu dieser zweiten Gruppe, obwohl der 1946 geborene Leipziger bereits als Teenager im "Neuen Deutschland" veröffentlichte und zum Studium am Literaturinstitut seiner Heimatstadt zugelassen wurde, der Kaderschmiede der DDR-Literatur. Bald aber verweigerte sich Reimann den staatlichen Vorgaben des sozialistischen Realismus, wurde vom Institut relegiert und durfte seinen ersten Gedichtband nicht publizieren. Die Freiheit verlor er dann wegen seines Protests gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.
Nach der Haftzeit wandte sich Reimann immer stärker den Traditionen der Dichtkunst zu, und 1975 erschien sein verspätetes Buchdebüt: der Gedichtband "Die Weisheit des Fleisches". Natürlich war darin das im selben Jahr entstandene "Beethovenstraße zwei a" nicht enthalten, doch Reimann fand in seiner Lyrik zumindest ein privates Ventil für den Ekel über die bestehenden Verhältnisse: "nun ja, mein vers, magst du als irrlicht lichtern", heißt es in einem anderen Sonett. In der DDR kam 1979 noch ein zweites Buch heraus, danach nichts mehr. "Das wort ,zu früh', das ich zu tragen habe", spricht Reimann 2014 in seinem "Nachruf für n." an, doch für ihn als Schriftsteller kam die Wende von 1989 noch zur rechten Zeit.
Denn seitdem ist sein umfangreiches Schaffen sichtbar geworden, das jetzt in einer elfbändigen Werkausgabe zugänglich gemacht wird, und eine besondere Rolle nehmen darin die Sonette ein, nicht zuletzt, weil sie auch die von August von Platen bevorzugte Form waren, dem im neunzehnten Jahrhundert als Homosexueller verfemten Dichter, dem sich Reimann verbunden fühlt. Denn auch er durfte seine Homosexualität in der DDR nicht öffentlich ausleben, machte sie aber zum Gegenstand mehrerer lyrischer Liebeserklärungen, die im jüngst erschienenen fünften Band der "Werke" ein ganzes Kapitel füllen: alles Sonette wie auch sonst in diesem Buch, das insgesamt deren 140 enthält und deshalb "Das große Sonettarium" betitelt ist, nachdem es 1995 bereits einen Reimann-Gedichtband namens "Das Sonettarium" gegeben hat, dessen Inhalt nun aber wesentlich vermehrt wurde: um Gedichte aus den Jahren 1965 bis 2019. Unter anderem aber auch durch eines ("Die überlegenen"), das nur aus dreizehn statt der bei Sonetten zwingenden vierzehn Zeilen besteht, aus vier Terzinen und einer separierten Schlusszeile, einem Fremdkörper also im Sonetten-Buch, der der Aufmerksamkeit von Autor wie Lektorat entging, jedoch von Reimann nun schelmisch als "Ungereimtheit" im Konvolut bezeichnet wird.
Dabei ist Reimann ein treuer Vasall des Reims, aber ein Freibeuter der Sonett-Schematik, die sich bei ihm nur selten an der klassischen Abfolge von zwei Quartetten und zwei Terzetten orientiert. Freiheit ist bei ihm nicht nur politisch konnotiert. Ihr dienen auch Antilaben und Enjambements, die Reimanns Gedichte nicht bloß beim Vortrag dramatisieren. Wer Lyrik lesen und das Leben mag, der lese die lebendige Lyrik von Reimann - kaum ein deutscher Gegenwartslyriker dichtet in so deutlicher Sprache.
Einst wurde ich bestraft für die gedichte,
und die gedichte wurden totgeschwiegen.
"Dein lebenswandel macht dein werk zunichte!",
sprach mir ein freund.
"Wir sind nicht totzukriegen!",
so prahlte ich. "Wenn man die akte schließt,
den lebenslauf, die schäbigen berichte,
wird sagen man: Was auch gewesen ist:
Von einem dichter zählen die gedichte!"
ANDREAS PLATTHAUS
Andreas Reimann: "Das große Sonettarium".
Gedichte. Werke, Band 5.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019. 184 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main