Eine Hütte an einem Berghang in den Alpen, umgeben von Fels und karger Natur. Hier will eine Frau das Wesen der Einsamkeit erforschen. Sie erlegt sich die Einschränkungen des Alleinseins auf, um seine Freiheiten zu erfahren. Systematisch setzt sie sich mit ihrer Umgebung auseinander: erkundet, vermisst, pflanzt, erntet, trainiert Körper und Geist, trotzt dabei den immer extremeren Wetterverhältnissen. Jedes Mal, wenn die Felsmassen unter dem Donner erzittern, scheint das Ende der Welt ein Stück näher zu rücken - doch noch etwas anderes nähert sich ihr in ihrer Ausgesetztheit. Ein Mensch? Ein Tier? Was oder wer auch immer der Eindringling ist, zwischen den sturmumtosten Gipfeln, ausgesetzt dem rohen Spiel der Elemente, auf einem schmalen Grat zwischen Wahn und Erkenntnis, braut sich etwas zusammen. Die Wege der beiden Eremiten werden sich bald kreuzen - denn die Welt fordert zum Spiel auf, und spielen kann man nicht mit sich allein.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Alex Rühle schaut staunend und bewundernd zu Céline Minard auf, wenn von einem radikalen Rückzug auf 2000 Meter Höhe erzählt, wo sich die Erzählerin in aller Einsamkeit die gewaltige Natur aneignet. Rühle feiert geradezu, wie scharfsinnig Minard Abenteuerroman und philosophisches Tagebuch verflicht, dabei mit Horrorelementen nicht spart und die Konfrontation mit der Natur unverfälscht und imposant schildert, ohne jemals einer Romantisierung zu verfallen. An der nüchternen Erzählweise der französischen Schriftstellerin, die von Western bis Sciencefiction alle Genres stilsicher zu beherrschen scheint, erkennt und schätzt Rühle: Hier geht es nicht um das Grübeln über den Sinn des Lebens im asketischen Rückzug, es geht um das Leben selbst. So besticht das Buch mit präzisen und klaren Sätzen, die die eigene Begeisterung der Autorin für das Klettern und die Berge spiegeln: "Jeder Handgriff sitzt, im Text wie im Gelände", hält Rühle überwältigt fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2018Die großeAbkapselung
Anarchisch-alpiner Buddhismus: Die französische Autorin Céline Minard ist eine versierte Genre-Jongleurin. Jetzt hat sie mit "Das große Spiel" einen Überlebensroman geschrieben.
Eine elementare Versuchskonstellation: Als Haus eine Überlebenskapsel, "eine Lebensröhre", an einen steilen Berghang geheftet. Vorräte - von Trockenfrüchten bis Rum - und gutes Werkzeug, um einen Garten zu kultivieren, Berge zu erklimmen, Tiere zu erlegen. Ein wildes Territorium von zweihundert Hektar. Der feste Vorsatz, sich eine Methode aufzuerlegen, die aus nützlichen Gesten und beruhigenden Routinen besteht. Das sind die Vorgaben, die sich die anonyme Erzählerin und Protagonistin macht, die Céline Minard "Das große Spiel" spielen lässt. Sie berichtet, wie es sich im Laufe eines halben Jahres, zwischen Frühjahr und Herbst, in luftiger Höhe entwickelt.
Céline Minard hat das deutsche Publikum durch den Western "Mit heiler Haut" und die rockige Lebensbeichte "So long, Luise" als versierte Genre-Jongleurin kennengelernt: Dieses Mal versucht sie sich in dem des Überlebensromans. Auf den Fußstapfen Hemingways lässt sie ihre Protagonistin auf die Wildnis prallen, auch wenn das namenlose Bergmassiv am ehesten in den europäischen Alpen zu vermuten wäre. Während die Berge in "So long, Luise" Schauplatz einer drogenbefeuerten Orgie waren, dienen sie nun als Kulisse einer asketischen Existenz: "Die Gesten der Autarkie ausüben, einfache, alltägliche Gesten, das waren die Gewohnheiten, die ich mir zulegen wollte. Ich habe dieses Gebiet mit seinen besonderen Bedingungen besetzt, ein Gebiet, das es mir erlaubt, nicht jeden Morgen einem Undankbaren, einem Schwachsinnigen, einem Neider zu begegnen. Das mir die Freiheit lässt, an andere Dinge zu denken, bei einer nützlichen und mechanischen Tätigkeit."
Der Beginn der alpinen Abkapselung lässt sich gut an: Es ist Frühling, der Garten gedeiht, unsere Namenlose fischt Forellen und entdeckt schöne oder ihre bergsteigerischen Talente herausfordernde Ecken. Ein kleine Felsplateau, mitten im Hang gelegen, ist beides: "Ich stand auf einem vielleicht zwanzig Quadratmeter großen Vorsprung, auf dem ein Rinnsal durch einen Teppich aus Moos und Gräsern strömte. Es gab Blumen. Steinbrech und Katzenpfötchen. Der Fels war grün überwuchert. Die Temperatur war angenehm. Man konnte seine Kletterschuhe ausziehen und barfuß laufen. Es fehlte nichts als Vogelzwitschern. Oder eine Leier. Es fehlte nichts, denn es gab das Plätschern des Baches."
Céline Minard liefert einen locus amoenus, einen Lustort, der nach der klassischen Definition von Ernst Robert Curtius entworfen scheint. Obendrein spielt sie mit der Referenz, die Erwähnung der Hirtenmusik und der Fund eines Vergil-Bandes belegen, dass sie den Topos kennt. Vor allem setzt Minard ihr eigenes Programm: Weder Leierspiel noch Vogelsang braucht es, wenn die elementare Natur zu Wort kommt.
In dieser mal erhabenen, mal idyllischen Szenerie findet sich die Erzählerin gut ein - bis sich eines Tages ein Mensch zeigt. Und was für einer! "Das Gesicht war frappant, ein runder Schädel, mit einem kurzen weißen Flaum bedeckt, aufgeblasene Wangen, hohl und bartlos, kaum erkennbare Brauen, lange Wimpern, Haut wie Pergament." Der Sonderling sieht aus wie ein "Wollpaket" und setzt einen zwanzig Zentimeter langen Fingernagel geschickt ein. Es scheint sich um einen Mönch zu handeln, der auf dem Gebiet der Erzählerin seine Gewohnheiten pflegt, wie nächtliche Gongschläge im Wald verraten. Durch den Neuzugang lässt er sich nicht abschrecken; auch den schwer zugänglichen Lustort besetzt er, stürzt frech die dort gelagerten Rumvorräte. Die gesuchte Einsamkeit ist dahin.
Die Erzählerin weiß anfangs nicht, ob sie dieses halb animalische Etwas überhaupt als Mitmensch ernst nehmen soll. Beunruhigend ist es: "Was treibt dieser verdammte Mönch auf meinem Territorium? Ist es ein Überfall, eine durchstreifende Inbesitznahme, Unruhestiftung?" Ein Territorialstreit flammt auf, der Mönch lässt sich jedoch nicht einschüchtern und erwidert Provokationen mit gelassener Schamlosigkeit: "Aber ich kann ihm nicht drohen. Wer sollte einem Idioten ein Versprechen geben (mit Ausnahme eines anderen Idioten)? Man muss den anderen Idioten spielen. Also werde ich den anderen Idioten spielen. Die Idiotin. Ja!" So wird das Wollpaket zum Prüfstein des Projekts Einsamkeit.
Das Wesen erweist sich als unerwartet komplex. Es ist gar kein Mönch, sondern eine Frau, die zwar obszön schmutzig und fürchterlich primitiv ist, aber zugleich äußerst behende: Sie baut eine Seiltanzanlage und betanzt sie mit der ekstatischen Grazie eines Derwischs, zeigt beeindruckende Talente als Diebin und Bergsteigerin. Neben der animalischen Seite beweist sie große geistige Kraft, der Leser bekommt mehr und mehr den Eindruck, ein fast phantastisches Wesen vor sich zu haben, irgendwo zwischen Murmeltier und Nonne - eine buddhistische Meditations- und Saufkünstlerin. Nach einer Erzählung über einen chinesischen General verleiht die Heldin ihr den Namen Dongbin, der eines Unsterblichen der taoistischen Mythologie. Sie fragt sich, ob sie ihr nacheifern soll: "Heißt Seelenfrieden finden, beweglich und dumm wie ein Huhn zu werden?" Am Ende des halben Jahres hat sie eine Art Modus Vivendi mit ihr gefunden: Die Abgeschiedenheit, die darin besteht, "nicht die Perspektive einer Rettung zu haben", wird Dongbin kaum aufheben - dazu ist sie viel zu unfassbar. Die Erzählerin begreift das putzige Wesen vielmehr als Teil des großen Spiels, weil erst durch einen Menschen, und sei dieser ein halbes Tier, ihre eigene Existenz ganz in die Waagschale geworfen wird.
Céline Minard wiederum gelingt mit "Das große Spiel" ein Roman, der ausgewogener und besser dosiert ist als "So long, Luise". Sie entwirft eine spannende fundamentalexistentielle Konstellation, und durch ihre feine Art, immer einen Schritt zur Seite zu gehen, versteht sie es, die Erwartung stets aufs Neue anzuschüren. Sie ist selbst ein wenig eine Dongbin, welche Landmarken unmerklich verrückt und dem Leser die Orientierung raubt - nur einen Hauch, aber doch genug, um ihm die Erfahrung des Neuen zu bieten. Die Literatur als anarchisch-alpiner Buddhismus: eine spannende Partie.
NIKLAS BENDER
Céline Minard: "Das große Spiel".
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anarchisch-alpiner Buddhismus: Die französische Autorin Céline Minard ist eine versierte Genre-Jongleurin. Jetzt hat sie mit "Das große Spiel" einen Überlebensroman geschrieben.
Eine elementare Versuchskonstellation: Als Haus eine Überlebenskapsel, "eine Lebensröhre", an einen steilen Berghang geheftet. Vorräte - von Trockenfrüchten bis Rum - und gutes Werkzeug, um einen Garten zu kultivieren, Berge zu erklimmen, Tiere zu erlegen. Ein wildes Territorium von zweihundert Hektar. Der feste Vorsatz, sich eine Methode aufzuerlegen, die aus nützlichen Gesten und beruhigenden Routinen besteht. Das sind die Vorgaben, die sich die anonyme Erzählerin und Protagonistin macht, die Céline Minard "Das große Spiel" spielen lässt. Sie berichtet, wie es sich im Laufe eines halben Jahres, zwischen Frühjahr und Herbst, in luftiger Höhe entwickelt.
Céline Minard hat das deutsche Publikum durch den Western "Mit heiler Haut" und die rockige Lebensbeichte "So long, Luise" als versierte Genre-Jongleurin kennengelernt: Dieses Mal versucht sie sich in dem des Überlebensromans. Auf den Fußstapfen Hemingways lässt sie ihre Protagonistin auf die Wildnis prallen, auch wenn das namenlose Bergmassiv am ehesten in den europäischen Alpen zu vermuten wäre. Während die Berge in "So long, Luise" Schauplatz einer drogenbefeuerten Orgie waren, dienen sie nun als Kulisse einer asketischen Existenz: "Die Gesten der Autarkie ausüben, einfache, alltägliche Gesten, das waren die Gewohnheiten, die ich mir zulegen wollte. Ich habe dieses Gebiet mit seinen besonderen Bedingungen besetzt, ein Gebiet, das es mir erlaubt, nicht jeden Morgen einem Undankbaren, einem Schwachsinnigen, einem Neider zu begegnen. Das mir die Freiheit lässt, an andere Dinge zu denken, bei einer nützlichen und mechanischen Tätigkeit."
Der Beginn der alpinen Abkapselung lässt sich gut an: Es ist Frühling, der Garten gedeiht, unsere Namenlose fischt Forellen und entdeckt schöne oder ihre bergsteigerischen Talente herausfordernde Ecken. Ein kleine Felsplateau, mitten im Hang gelegen, ist beides: "Ich stand auf einem vielleicht zwanzig Quadratmeter großen Vorsprung, auf dem ein Rinnsal durch einen Teppich aus Moos und Gräsern strömte. Es gab Blumen. Steinbrech und Katzenpfötchen. Der Fels war grün überwuchert. Die Temperatur war angenehm. Man konnte seine Kletterschuhe ausziehen und barfuß laufen. Es fehlte nichts als Vogelzwitschern. Oder eine Leier. Es fehlte nichts, denn es gab das Plätschern des Baches."
Céline Minard liefert einen locus amoenus, einen Lustort, der nach der klassischen Definition von Ernst Robert Curtius entworfen scheint. Obendrein spielt sie mit der Referenz, die Erwähnung der Hirtenmusik und der Fund eines Vergil-Bandes belegen, dass sie den Topos kennt. Vor allem setzt Minard ihr eigenes Programm: Weder Leierspiel noch Vogelsang braucht es, wenn die elementare Natur zu Wort kommt.
In dieser mal erhabenen, mal idyllischen Szenerie findet sich die Erzählerin gut ein - bis sich eines Tages ein Mensch zeigt. Und was für einer! "Das Gesicht war frappant, ein runder Schädel, mit einem kurzen weißen Flaum bedeckt, aufgeblasene Wangen, hohl und bartlos, kaum erkennbare Brauen, lange Wimpern, Haut wie Pergament." Der Sonderling sieht aus wie ein "Wollpaket" und setzt einen zwanzig Zentimeter langen Fingernagel geschickt ein. Es scheint sich um einen Mönch zu handeln, der auf dem Gebiet der Erzählerin seine Gewohnheiten pflegt, wie nächtliche Gongschläge im Wald verraten. Durch den Neuzugang lässt er sich nicht abschrecken; auch den schwer zugänglichen Lustort besetzt er, stürzt frech die dort gelagerten Rumvorräte. Die gesuchte Einsamkeit ist dahin.
Die Erzählerin weiß anfangs nicht, ob sie dieses halb animalische Etwas überhaupt als Mitmensch ernst nehmen soll. Beunruhigend ist es: "Was treibt dieser verdammte Mönch auf meinem Territorium? Ist es ein Überfall, eine durchstreifende Inbesitznahme, Unruhestiftung?" Ein Territorialstreit flammt auf, der Mönch lässt sich jedoch nicht einschüchtern und erwidert Provokationen mit gelassener Schamlosigkeit: "Aber ich kann ihm nicht drohen. Wer sollte einem Idioten ein Versprechen geben (mit Ausnahme eines anderen Idioten)? Man muss den anderen Idioten spielen. Also werde ich den anderen Idioten spielen. Die Idiotin. Ja!" So wird das Wollpaket zum Prüfstein des Projekts Einsamkeit.
Das Wesen erweist sich als unerwartet komplex. Es ist gar kein Mönch, sondern eine Frau, die zwar obszön schmutzig und fürchterlich primitiv ist, aber zugleich äußerst behende: Sie baut eine Seiltanzanlage und betanzt sie mit der ekstatischen Grazie eines Derwischs, zeigt beeindruckende Talente als Diebin und Bergsteigerin. Neben der animalischen Seite beweist sie große geistige Kraft, der Leser bekommt mehr und mehr den Eindruck, ein fast phantastisches Wesen vor sich zu haben, irgendwo zwischen Murmeltier und Nonne - eine buddhistische Meditations- und Saufkünstlerin. Nach einer Erzählung über einen chinesischen General verleiht die Heldin ihr den Namen Dongbin, der eines Unsterblichen der taoistischen Mythologie. Sie fragt sich, ob sie ihr nacheifern soll: "Heißt Seelenfrieden finden, beweglich und dumm wie ein Huhn zu werden?" Am Ende des halben Jahres hat sie eine Art Modus Vivendi mit ihr gefunden: Die Abgeschiedenheit, die darin besteht, "nicht die Perspektive einer Rettung zu haben", wird Dongbin kaum aufheben - dazu ist sie viel zu unfassbar. Die Erzählerin begreift das putzige Wesen vielmehr als Teil des großen Spiels, weil erst durch einen Menschen, und sei dieser ein halbes Tier, ihre eigene Existenz ganz in die Waagschale geworfen wird.
Céline Minard wiederum gelingt mit "Das große Spiel" ein Roman, der ausgewogener und besser dosiert ist als "So long, Luise". Sie entwirft eine spannende fundamentalexistentielle Konstellation, und durch ihre feine Art, immer einen Schritt zur Seite zu gehen, versteht sie es, die Erwartung stets aufs Neue anzuschüren. Sie ist selbst ein wenig eine Dongbin, welche Landmarken unmerklich verrückt und dem Leser die Orientierung raubt - nur einen Hauch, aber doch genug, um ihm die Erfahrung des Neuen zu bieten. Die Literatur als anarchisch-alpiner Buddhismus: eine spannende Partie.
NIKLAS BENDER
Céline Minard: "Das große Spiel".
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
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»Die Einsamkeit ist das Trainigscamp, was sie sucht ist das Leben an sich.« - Petra Lohrmann, gute-literatur-meine-empfehlung.de Petra Lohrmann Gute Literatur - Meine Empfehlung 20180501