Es ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte - so gut wie keine Talkshow, keine Demonstration, kein Leitartikel kommt ohne Verweis auf das Grundgesetz aus, doch als es vor sechzig Jahren in Kraft trat, ahnte niemand, wie sehr dies kleine Buch das Land verändern würde. Christian Bommarius schildert die dramatischen Umstände, unter denen es entstand. Er erzählt von den 73 Männern und vier Frauen, die drei Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, mitten im Kalten Krieg, während der Berliner Blockade, zusammenkamen, um über eine demokratische Verfassung zu beraten, wie sie die Deutschen in ihrer Geschichte noch nicht besessen hatten: bedeutende Politiker der Weimarer Republik wie Paul Löbe, solche, die die Geschicke der Bundesrepublik bestimmen sollten wie Konrad Adenauer oder Theodor Heuss, aber auch heute vergessene Opfer des Nationalsozialismus wie der Kommunist Max Reimann, der Jahre im Konzentrationslager war. Doch Bommarius zeigt nicht nur, welche Richtungskämpfe um die Zukunft Deutschlands damals ausgetragen wurden, sondern auch, wie das Grundgesetz über Jahrzehnte die deutsche Lebenswirklichkeit gespiegelt und zugleich geprägt hat - und lässt so, wie nebenbei, sechzig Jahre Bundesrepublik Revue passieren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009Ein Anker für das zerstörte und besiegte Land
Das vor sechzig Jahren geschaffene Grundgesetz macht deutlich: Nicht der Mensch ist für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Über Christian Bommarius’ „Biographie” unserer Verfassung Von Dieter Grimm
Christian Bommarius nennt sein Buch über das Grundgesetz eine „Biographie”. Biographie bedeutet Lebensbeschreibung. Dafür hat der Atem des Autors nicht gereicht. Das Buch setzt mit der Hungersnot Bonner Studenten im Sommer 1948 ein, kurz bevor dort der Parlamentarische Rat seine Arbeit am Grundgesetz aufnahm. Es springt dann zurück zum 20. Juli 1944 und zu den Prozessen gegen die Verschwörer vor dem Volksgerichtshof. Beim Parlamentarischen Rat kommt es wieder auf Seite 162 an. Auf Seite 215 ist das Grundgesetz fertig. Für seine 60-jährige Lebensgeschichte bleiben danach noch 57 Seiten. Das ist schade, denn an Entstehungsgeschichten des Grundgesetzes fehlt es nicht, wohl aber an Entwicklungs- und erst recht an Wirkungsgeschichten.
Christian Bommarius ist Journalist und hat ein journalistisches, kein wissenschaftliches Buch geschrieben. Seine Stärken bestehen vor allem in der lebhaften Schilderung der Umstände, unter
denen das Grundgesetz entstand, keineswegs nur der politischen, sondern gerade auch der Lebensumstände und Befindlichkeiten der Gesellschaft in dem
zerstörten und besiegten Land. Die
meisten Abschnitte beginnen mit einer Betroffenen-Geschichte, die eine Brücke zum überindividuellen Geschehen
schlagen soll. Das geschieht mal in
erhellender Weise, mal ist es etwas hergeholt, sorgt aber jedenfalls für die Ein-
ordnung der Verfassungsfrage in den Alltag der Bevölkerung, in dem andere
Probleme drängender waren als ein Grundgesetz.
Wie diese anderen Probleme längerfristig gelöst wurden, hing aber nicht zum geringsten von den rechtlichen
Rahmenbedingungen ab, die in der Verfassung verankert wurden. Dazu ist im Buch weniger zu finden. Bommarius
erzählt anschaulich, wie es zum Grundgesetz kam, wie die Akteure dachten
und taktierten, welche Rolle die westlichen Siegermächte spielten, welche die schon früher wieder erstandenen Länder und ihre Ministerpräsidenten, welche
die Parteien, welche die katholische
Kirche, welche die Frauen. Einige der wichtigsten Auseinandersetzungen
werden lebendig. Anrührend lesen sich die Seiten, auf denen es um die Abschaffung der Todesstrafe und die Herstellung der Gleichberechtigung von Mann und Frau geht.
Leitmotiv ist die „Kopernikanische Wende”, die das Grundgesetz für den Autor in der deutschen Verfassungsgeschichte vollzogen hat. Darunter versteht er die Umkehrung des Verhältnisses von Mensch und Staat: Nicht mehr ist der Mensch für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Ausdruck findet das in dem Entschluss, die Grundrechte im Rang zu erhöhen, sie auf das Prinzip der Menschenwürde zu gründen und ihnen mittels eines Verfassungsgerichts auch praktische Relevanz zu verleihen. Darin waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rats nach der Erfahrung mit der gescheiterten Weimarer Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur in der Tat einig, ebenso wie in dem Willen, die Demokratie gegen ihre Gegner wirksam zu verteidigen.
Ohne diesen historischen Hintergrund ist das Grundgesetz gar nicht zu verstehen. Bommarius unterschlägt das keineswegs. Aber wenn man auf die Verfassungsgeschichte zurückgreift, müsste man sie etwas genauer kennen. Der Autor scheint verwundert darüber zu sein, dass jemand die Weimarer Verfassung als die „demokratischste der Welt” bezeichnen konnte. Doch war das eine selbst im Ausland verbreitete Ansicht der zwanziger Jahre. Dass die Weimarer Republik nie ein Rechtsstaat gewesen sei, kann man nur sagen, wenn man sich nicht näher mit ihr befasst hat. Es ist gerade ein Grundzug der deutschen Verfassungsgeschichte, dass sie nach der gescheiterten Revolution von 1848 ganz auf den Ausbau des Rechtsstaats bei Vernachlässigung der Demokratie setzte.
Nicht minder kurzsichtig ist die Auffassung, dass die Grundrechte vor 1949 lediglich politische Proklamationen, keine Rechtssätze, gewesen seien, zutreffend dagegen, dass sie nicht gerichtlich einklagbar waren. Das ist aber nicht nur das „Elend der deutschen Verfassungstradition”. Es war in keinem der damaligen Verfassungsstaaten mit Ausnahme der USA anders. Die Entscheidung des Grundgesetzes für die Normenkontrolle wird entsprechend hoch gelobt. Aber die Behauptung, dass sie nicht in die deutsche Verfassungstradition passte, kann man nur aufstellen, wenn man die Paulskirchen-Verfassung von 1849 aus der deutschen Verfassungstradition wegdefiniert. Sie sah als erste Verfassung der Welt überhaupt ein voll ausgebildetes Verfassungsgericht vor.
Zu großen Kontroversen kam es im Parlamentarischen Rat dagegen über die Staatsorganisation, namentlich über die Frage, wie föderalistisch der neue Staat gestaltet sein sollte. Hier schalteten sich auch die Alliierten in die deutschen Beratungen ein. Darüber ist bei Bommarius viel zu lesen. Die Wirtschaftsverfassung, bei der die Gegensätze ebenfalls heftig aufeinander prallten, nachdem der Konsens der ersten Nachkriegsjahre über die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft schon bald geschwunden war, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes, die diesen Konflikt überbrücken sollte und seine Lösung an die Politik weiterreichte, spielt in dem Buch keine Rolle.
In allen Kapiteln geht Erzählung vor Analyse. Die tieferen Schichten der Grundgesetzentstehung werden nicht
erreicht. Ein Abschnitt beginnt zwar
mit Lassalles bekannter Aussage, die bestehenden Machtverhältnisse bildeten die Verfassung eines Landes. Das hätte der Auftakt zu einer Strukturana-
lyse sein können. Dem Autor diente diese provokative Behauptung aber nur als
rhetorische Brücke dazu, dass jetzt etwas über Machtverhältnisse im Nachkriegsdeutschland kommt. Die Erzählung ist vorwiegend akteurzentriert. Das macht sie anschaulich und lebendig. Aber nicht alles Persönliche trägt zur Erklärung
bei. Ist es wirklich von Bedeutung, dass Hermann Brill im Unterausschuss
sich „um kurz nach 16.00 Uhr zu Wort meldete”?
Das zeithistorische Kolorit, das den Entstehungsteil auszeichnet, schwindet im Entwicklungsteil. Das Buch wird kurzatmig und erschöpft sich im Wesentlichen in einer Aneinanderreihung wichtiger verfassungsgerichtlicher Urteile. Die Verfassungsänderungen werden kurz gestreift. Der Beitrag der Verfassungsinterpretation und der Staatspraxis zur Entwicklung des Grundgesetzes kommen nicht in den Blick. Auch die Akteure treten nun in den Hintergrund. Von den drei namentlich genannten Verfassungsrichtern wird einer falsch geschrieben (Gerhard Leibholz), der dritte gehört nicht hier hin. Günter Dürig, als Autor des zu Recht hervorgehobenen Lüth-
Urteils von 1958 ausgegeben, war nie
Verfassungsrichter. Das Lüth-Urteil stammt aus der Feder von Theodor Ritterspach.
Der Autor entlässt den Leser mit einer harten Kritik an einer Politik, die angesichts der Terrorismusgefahr die „Kopernikanische Wende”, die wir den Gründern verdanken, wieder rückgängig zu machen versuche, indem sie die grundrechtliche Freiheit der Sicherheit opfere, während der Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht, unter eine Belagerung gerate, der die Bürger selber nicht mehr entschieden genug entgegenträten. Noch nachhaltiger scheint freilich die Gefahr, welche dem Grundgesetz durch die Art und Weise droht, in der die europäische Integration fortschreitet. Bommarius lässt sich darauf nicht weiter ein. Das Bundesverfassungsgericht muss es: Es berät derzeit über die Verfassungsmäßigkeit des Lissabon-Vertrages.
Christian Bommarius
Das Grundgesetz
Eine Biographie. Rowohlt, Berlin 2009. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Der Rezensent Dieter Grimm, 71, war von 1987 bis 1999 Richter am
Bundesverfassungsgericht.
Zu großen Kontroversen kam es über die Frage, wie föderalistisch der neue Staat sein sollte
Nachhaltiger scheint die Gefahr, die dem Grundgesetz durch die europäische Integration droht
Nach den bitteren Erfahrungen mit der gescheiterten Weimarer Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur sollten die auf dem Prinzip der Menschenwürde bauenden Grundrechte einen besonders herausgehobenen Platz in der neuen Verfassung haben – sie werden in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes garantiert. Im Bild der Wortlaut des Artikels 5 (Meinungsfreiheit) auf einer Plexiglaswand am Berliner Reichstag. Foto: ZB/pa
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Das vor sechzig Jahren geschaffene Grundgesetz macht deutlich: Nicht der Mensch ist für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Über Christian Bommarius’ „Biographie” unserer Verfassung Von Dieter Grimm
Christian Bommarius nennt sein Buch über das Grundgesetz eine „Biographie”. Biographie bedeutet Lebensbeschreibung. Dafür hat der Atem des Autors nicht gereicht. Das Buch setzt mit der Hungersnot Bonner Studenten im Sommer 1948 ein, kurz bevor dort der Parlamentarische Rat seine Arbeit am Grundgesetz aufnahm. Es springt dann zurück zum 20. Juli 1944 und zu den Prozessen gegen die Verschwörer vor dem Volksgerichtshof. Beim Parlamentarischen Rat kommt es wieder auf Seite 162 an. Auf Seite 215 ist das Grundgesetz fertig. Für seine 60-jährige Lebensgeschichte bleiben danach noch 57 Seiten. Das ist schade, denn an Entstehungsgeschichten des Grundgesetzes fehlt es nicht, wohl aber an Entwicklungs- und erst recht an Wirkungsgeschichten.
Christian Bommarius ist Journalist und hat ein journalistisches, kein wissenschaftliches Buch geschrieben. Seine Stärken bestehen vor allem in der lebhaften Schilderung der Umstände, unter
denen das Grundgesetz entstand, keineswegs nur der politischen, sondern gerade auch der Lebensumstände und Befindlichkeiten der Gesellschaft in dem
zerstörten und besiegten Land. Die
meisten Abschnitte beginnen mit einer Betroffenen-Geschichte, die eine Brücke zum überindividuellen Geschehen
schlagen soll. Das geschieht mal in
erhellender Weise, mal ist es etwas hergeholt, sorgt aber jedenfalls für die Ein-
ordnung der Verfassungsfrage in den Alltag der Bevölkerung, in dem andere
Probleme drängender waren als ein Grundgesetz.
Wie diese anderen Probleme längerfristig gelöst wurden, hing aber nicht zum geringsten von den rechtlichen
Rahmenbedingungen ab, die in der Verfassung verankert wurden. Dazu ist im Buch weniger zu finden. Bommarius
erzählt anschaulich, wie es zum Grundgesetz kam, wie die Akteure dachten
und taktierten, welche Rolle die westlichen Siegermächte spielten, welche die schon früher wieder erstandenen Länder und ihre Ministerpräsidenten, welche
die Parteien, welche die katholische
Kirche, welche die Frauen. Einige der wichtigsten Auseinandersetzungen
werden lebendig. Anrührend lesen sich die Seiten, auf denen es um die Abschaffung der Todesstrafe und die Herstellung der Gleichberechtigung von Mann und Frau geht.
Leitmotiv ist die „Kopernikanische Wende”, die das Grundgesetz für den Autor in der deutschen Verfassungsgeschichte vollzogen hat. Darunter versteht er die Umkehrung des Verhältnisses von Mensch und Staat: Nicht mehr ist der Mensch für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Ausdruck findet das in dem Entschluss, die Grundrechte im Rang zu erhöhen, sie auf das Prinzip der Menschenwürde zu gründen und ihnen mittels eines Verfassungsgerichts auch praktische Relevanz zu verleihen. Darin waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rats nach der Erfahrung mit der gescheiterten Weimarer Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur in der Tat einig, ebenso wie in dem Willen, die Demokratie gegen ihre Gegner wirksam zu verteidigen.
Ohne diesen historischen Hintergrund ist das Grundgesetz gar nicht zu verstehen. Bommarius unterschlägt das keineswegs. Aber wenn man auf die Verfassungsgeschichte zurückgreift, müsste man sie etwas genauer kennen. Der Autor scheint verwundert darüber zu sein, dass jemand die Weimarer Verfassung als die „demokratischste der Welt” bezeichnen konnte. Doch war das eine selbst im Ausland verbreitete Ansicht der zwanziger Jahre. Dass die Weimarer Republik nie ein Rechtsstaat gewesen sei, kann man nur sagen, wenn man sich nicht näher mit ihr befasst hat. Es ist gerade ein Grundzug der deutschen Verfassungsgeschichte, dass sie nach der gescheiterten Revolution von 1848 ganz auf den Ausbau des Rechtsstaats bei Vernachlässigung der Demokratie setzte.
Nicht minder kurzsichtig ist die Auffassung, dass die Grundrechte vor 1949 lediglich politische Proklamationen, keine Rechtssätze, gewesen seien, zutreffend dagegen, dass sie nicht gerichtlich einklagbar waren. Das ist aber nicht nur das „Elend der deutschen Verfassungstradition”. Es war in keinem der damaligen Verfassungsstaaten mit Ausnahme der USA anders. Die Entscheidung des Grundgesetzes für die Normenkontrolle wird entsprechend hoch gelobt. Aber die Behauptung, dass sie nicht in die deutsche Verfassungstradition passte, kann man nur aufstellen, wenn man die Paulskirchen-Verfassung von 1849 aus der deutschen Verfassungstradition wegdefiniert. Sie sah als erste Verfassung der Welt überhaupt ein voll ausgebildetes Verfassungsgericht vor.
Zu großen Kontroversen kam es im Parlamentarischen Rat dagegen über die Staatsorganisation, namentlich über die Frage, wie föderalistisch der neue Staat gestaltet sein sollte. Hier schalteten sich auch die Alliierten in die deutschen Beratungen ein. Darüber ist bei Bommarius viel zu lesen. Die Wirtschaftsverfassung, bei der die Gegensätze ebenfalls heftig aufeinander prallten, nachdem der Konsens der ersten Nachkriegsjahre über die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft schon bald geschwunden war, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes, die diesen Konflikt überbrücken sollte und seine Lösung an die Politik weiterreichte, spielt in dem Buch keine Rolle.
In allen Kapiteln geht Erzählung vor Analyse. Die tieferen Schichten der Grundgesetzentstehung werden nicht
erreicht. Ein Abschnitt beginnt zwar
mit Lassalles bekannter Aussage, die bestehenden Machtverhältnisse bildeten die Verfassung eines Landes. Das hätte der Auftakt zu einer Strukturana-
lyse sein können. Dem Autor diente diese provokative Behauptung aber nur als
rhetorische Brücke dazu, dass jetzt etwas über Machtverhältnisse im Nachkriegsdeutschland kommt. Die Erzählung ist vorwiegend akteurzentriert. Das macht sie anschaulich und lebendig. Aber nicht alles Persönliche trägt zur Erklärung
bei. Ist es wirklich von Bedeutung, dass Hermann Brill im Unterausschuss
sich „um kurz nach 16.00 Uhr zu Wort meldete”?
Das zeithistorische Kolorit, das den Entstehungsteil auszeichnet, schwindet im Entwicklungsteil. Das Buch wird kurzatmig und erschöpft sich im Wesentlichen in einer Aneinanderreihung wichtiger verfassungsgerichtlicher Urteile. Die Verfassungsänderungen werden kurz gestreift. Der Beitrag der Verfassungsinterpretation und der Staatspraxis zur Entwicklung des Grundgesetzes kommen nicht in den Blick. Auch die Akteure treten nun in den Hintergrund. Von den drei namentlich genannten Verfassungsrichtern wird einer falsch geschrieben (Gerhard Leibholz), der dritte gehört nicht hier hin. Günter Dürig, als Autor des zu Recht hervorgehobenen Lüth-
Urteils von 1958 ausgegeben, war nie
Verfassungsrichter. Das Lüth-Urteil stammt aus der Feder von Theodor Ritterspach.
Der Autor entlässt den Leser mit einer harten Kritik an einer Politik, die angesichts der Terrorismusgefahr die „Kopernikanische Wende”, die wir den Gründern verdanken, wieder rückgängig zu machen versuche, indem sie die grundrechtliche Freiheit der Sicherheit opfere, während der Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht, unter eine Belagerung gerate, der die Bürger selber nicht mehr entschieden genug entgegenträten. Noch nachhaltiger scheint freilich die Gefahr, welche dem Grundgesetz durch die Art und Weise droht, in der die europäische Integration fortschreitet. Bommarius lässt sich darauf nicht weiter ein. Das Bundesverfassungsgericht muss es: Es berät derzeit über die Verfassungsmäßigkeit des Lissabon-Vertrages.
Christian Bommarius
Das Grundgesetz
Eine Biographie. Rowohlt, Berlin 2009. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Der Rezensent Dieter Grimm, 71, war von 1987 bis 1999 Richter am
Bundesverfassungsgericht.
Zu großen Kontroversen kam es über die Frage, wie föderalistisch der neue Staat sein sollte
Nachhaltiger scheint die Gefahr, die dem Grundgesetz durch die europäische Integration droht
Nach den bitteren Erfahrungen mit der gescheiterten Weimarer Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur sollten die auf dem Prinzip der Menschenwürde bauenden Grundrechte einen besonders herausgehobenen Platz in der neuen Verfassung haben – sie werden in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes garantiert. Im Bild der Wortlaut des Artikels 5 (Meinungsfreiheit) auf einer Plexiglaswand am Berliner Reichstag. Foto: ZB/pa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2009Verfassungen sind cool
Grundgesetz für Laien: Drei Fälle / Von Michael Stolleis
Das Grundgesetz, das am 23. Mai 2009 sechzig Jahre alt wird, ist gealtert, gereift, hat aber auch Speck angesetzt. Ganze Kapitel wurden eingefügt, andere umgearbeitet, die Wiedervereinigung hat ebenso ihre Spuren hinterlassen wie der europäische Einigungsprozess. Will man alles dies samt den Grundzügen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in ein für Laien verständliches und preiswertes Buch einbringen, muss man rigoros vereinfachen. Wie das gehen kann, sei an drei Beispielen erläutert.
Günter Frankenberg hat schon 2004 ein schmales und preiswertes Büchlein vorgelegt (Grundgesetz, Fischer Taschenbuch Verlag). Er gliedert und komprimiert den Stoff so gekonnt, dass alle wesentlichen Fragen ihr klares Profil erhalten: Die Entstehung und Veränderung der Verfassung, die politischen Institutionen, der europäische Rahmen sowie die Auslegung und Anwendung des Textes. Neun kleinere Kapitel dienen der Vertiefung. Fachlich macht das Büchlein keine Konzessionen; es hält in jeder Hinsicht stand. Sprachlich ist es ein Genuss.
Peter Zolling dagegen imitiert Jugendjargon: "Verfassungen sind cool", so fängt es an. Zolling redet viel, will farbig erzählen, die Qualitäten des Grundgesetzes betonen und auch noch die aktuelle Wirtschaftskrise kommentieren. Nach einem anschaulichen historischen Teil, in dem das Grundgesetz als "Trümmer- und Traumakind" erscheint, werden im Schwerpunkt die wichtigsten Grundrechte erläutert. Abschließend geht es in Kürze um Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat, einschließlich des Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit, um die europäische Dimension, die Turbulenzen der Weltwirtschaft und Obama (Das Grundgesetz. Unsere Verfassung - wie sie entstand und was sie ist, Carl Hanser 2009). Studienanfängern würde ich Frankenberg empfehlen, Oberschülern, denen ein vermeintlich spröder Stoff unterhaltsam nahegebracht werden soll, aber vorweg zu kritischer Lektüre von Zolling raten.
Das historisch solidere dritte Beispiel stammt von dem leitenden Redakteur der "Berliner Zeitung" Christian Bommarius. Es erzählt im Sinne einer "Biographie" vom Erwachsenwerden der Bundesrepublik (Das Grundgesetz. Eine Biographie Rowohlt, 2009). Die Rahmenbedingungen der angeblichen Stunde Null, die Lage der Parteien, die starke Rolle der Ministerpräsidenten der Länder und die Übernahme der Führungsrolle durch den Parlamentarischen Rat - das ist anschaulich und kundig beschrieben, einschließlich einiger wichtiger Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht. Dass dabei Günter Dürig zum Berichterstatter des Lüth-Urteils im Ersten Senat avanciert, ist ein amüsanter Lapsus mit tieferer Bedeutung; denn Dürig hat tatsächlich in jenen Jahren wesentliche theoretische Beiträge zur Wertordnungs-Rechtsprechung des Gerichts geliefert.
Professor Dr. Michael Stolleis ist Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grundgesetz für Laien: Drei Fälle / Von Michael Stolleis
Das Grundgesetz, das am 23. Mai 2009 sechzig Jahre alt wird, ist gealtert, gereift, hat aber auch Speck angesetzt. Ganze Kapitel wurden eingefügt, andere umgearbeitet, die Wiedervereinigung hat ebenso ihre Spuren hinterlassen wie der europäische Einigungsprozess. Will man alles dies samt den Grundzügen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in ein für Laien verständliches und preiswertes Buch einbringen, muss man rigoros vereinfachen. Wie das gehen kann, sei an drei Beispielen erläutert.
Günter Frankenberg hat schon 2004 ein schmales und preiswertes Büchlein vorgelegt (Grundgesetz, Fischer Taschenbuch Verlag). Er gliedert und komprimiert den Stoff so gekonnt, dass alle wesentlichen Fragen ihr klares Profil erhalten: Die Entstehung und Veränderung der Verfassung, die politischen Institutionen, der europäische Rahmen sowie die Auslegung und Anwendung des Textes. Neun kleinere Kapitel dienen der Vertiefung. Fachlich macht das Büchlein keine Konzessionen; es hält in jeder Hinsicht stand. Sprachlich ist es ein Genuss.
Peter Zolling dagegen imitiert Jugendjargon: "Verfassungen sind cool", so fängt es an. Zolling redet viel, will farbig erzählen, die Qualitäten des Grundgesetzes betonen und auch noch die aktuelle Wirtschaftskrise kommentieren. Nach einem anschaulichen historischen Teil, in dem das Grundgesetz als "Trümmer- und Traumakind" erscheint, werden im Schwerpunkt die wichtigsten Grundrechte erläutert. Abschließend geht es in Kürze um Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat, einschließlich des Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit, um die europäische Dimension, die Turbulenzen der Weltwirtschaft und Obama (Das Grundgesetz. Unsere Verfassung - wie sie entstand und was sie ist, Carl Hanser 2009). Studienanfängern würde ich Frankenberg empfehlen, Oberschülern, denen ein vermeintlich spröder Stoff unterhaltsam nahegebracht werden soll, aber vorweg zu kritischer Lektüre von Zolling raten.
Das historisch solidere dritte Beispiel stammt von dem leitenden Redakteur der "Berliner Zeitung" Christian Bommarius. Es erzählt im Sinne einer "Biographie" vom Erwachsenwerden der Bundesrepublik (Das Grundgesetz. Eine Biographie Rowohlt, 2009). Die Rahmenbedingungen der angeblichen Stunde Null, die Lage der Parteien, die starke Rolle der Ministerpräsidenten der Länder und die Übernahme der Führungsrolle durch den Parlamentarischen Rat - das ist anschaulich und kundig beschrieben, einschließlich einiger wichtiger Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht. Dass dabei Günter Dürig zum Berichterstatter des Lüth-Urteils im Ersten Senat avanciert, ist ein amüsanter Lapsus mit tieferer Bedeutung; denn Dürig hat tatsächlich in jenen Jahren wesentliche theoretische Beiträge zur Wertordnungs-Rechtsprechung des Gerichts geliefert.
Professor Dr. Michael Stolleis ist Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sehr detailliert schildert die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, ihre Lektüreeindrücke. Das Buch von Christian Bommarius hält sie weder für eine Lebensbeschreibung des Grundgesetzes noch für eine juristische Studie. Limbach liest es als eine aufrüttelnde wie spannende Darstellung des historischen und politischen Prozesses, in dem das Grundgesetz entstanden und interpretiert worden ist. Über das Zusammenwirken von Gesellschaft, Politik und Recht erfährt sie eine Menge. Ebenso über die Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung und über die Probleme bei der Gründung eines Weststaates. Limbach lobt den journalistisch fokussierenden Blick des Autors sowie dessen Kenntnisreichtum und Fähigkeit, dem Leser auch die außerparlamentarischen Kräftespiele (der Alliierten und der Kirche) anschaulich zu machen. Für Limbach spiegeln sich in den im Band dargestellten 60 Jahren Rechtsprechung die Krisen, Konflikte und Wendepunkte der Bundesrepublik, die, wie die Rezensentin anerkennend schreibt, vom Autor durchaus kritikfreudig betrachtet werden. Der Wunsch des Autors, den Leser wachzurütteln und an die Notwendigkeit zu erinnern, dass das Recht erkämpft werden muss, scheint bei Jutta Limbach jedenfalls auf offene Ohren gestoßen zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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