Die Dankesbriefe für die Geschenke zur Jugendweihe, abends am Eßtisch von der Mutter diktiert; die Einkaufstour nach Karlovy Vary, wo es außer Obladen und Kondensmilch nichts zu kaufen gibt; der Ferienjob als Zimmermädchen im Hotel: Roswitha Harings Alltagsminiaturen erzählen uns von der Enge, den kleinen Fluchten und den unhinterfragten Zwängen eines Lebens in der städtischen Provinz. Ihre Mädchenfiguren sind leicht linkisch und in ihrer Wehrlosigkeit berührend, sanfte Außenseiterinnen, die der Bosheit der anderen ins offene Messer laufen. Es ist der registrierende Blick, der mehr weiß, als Harings Heldinnen von der Welt begreifen. Was ihre Geschichten so bestechend macht, ist die Mischung aus Poesie und Genauigkeit, eine subtile Beobachtungsgabe, die die rätselhaften Regungen am Rande des Gesichtsfeldes wahrnimmt und die jedes Einverständnis unterläuft. Kein Zweifel: Es ist eine deutsche Vergangenheit, die uns aus diesen Geschichten entgegenblickt, aber es ist eine Vergangenheit ohne Etiketten, die uns teilhaben läßt an einer Wirklichkeit, die auch unsere ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2007Dies ist kein Liebeslied
Roswitha Haring besingt den traurigen Vogel Jugend
Es ist vielleicht fünf Jahre her, da galten Jugendgeschichten aus der DDR im deutschen Literaturbetrieb als Erfolgsgenre. Das war die Zeit der "Zonenkinder" und der "Generation Trabant" - ein umstrittenes Etikett, das aber nicht ganz zufällig der konsumfreudigen, westdeutschen "Generation Golf" entlehnt war. Denn auch viele junge Ost-Autoren listeten in ihren DDR-Rückblicken Markennamen und Embleme auf: vom Pionierkäppi bis zum Sandmännchen, Von der Sero-Annahmestelle bis hin zur sozialistischen Jugendzeitschrift "FRÖSI". Und es war nicht zuletzt die Beschwörung einer gemeinsamen Kindheit über die Aufzählung von Alltagscodes, die Autoren wie Jana Hensel, Jakob Hein, Jochen Schmidt oder Falko Hennig bei ihren Lesern beliebt machte.
Auch Roswitha Haring, geboren 1960 in Leipzig, schreibt über das Aufwachsen in der DDR. Aber ihre Geschichten lesen sich ganz anders als die einstigen Chroniken der jüngeren Zonenkinder, fast so, als würde sie von einem anderen Land erzählen. Der offizielle Staatsapparat nämlich tritt bei ihr so gut wie gar nicht in Erscheinung. Das war schon in ihrem ersten Roman "Ein Bett aus Schnee" auffällig, der von einem vereinsamten Mädchen handelte, das bei einem Verwandtenbesuch erfahren muss, dass die eigene Familie offenbar nicht so heil ist, wie sie nach außen hin tut. Besonders verstörend an dieser Schilderung einer provinziellen Kinderhölle war schon damals weniger dessen unterschwellige Brutalität als die Tatsache, dass diese Kinderhölle einem gar nicht so weit weg vorkam.
Man hätte sich Harings Debütroman vor vier Jahren auch gut in der alten Bundesrepublik vorstellen können oder sogar im wiedervereinigten Deutschland - ein beunruhigender Effekt, der sich auch im neuen Erzählband "Das halbe Leben" einstellt. Denn auch in diesen dreizehn Episoden ist die DDR weniger ein klar umrissener, verschwundener Ort als eine bedrohliche Grundstimmung gegenseitigen Misstrauens. Kindheit und Jugend verlaufen für die jungen Ich-Erzählerinnen alles andere als idyllisch. Dabei passiert vordergründig nichts Schlimmes, keine körperliche Gewalt, kein Todesfall, keine Misserfolge. Stattdessen sind es kleine Ereignisse, kleine Gesten und lapidar hingesprochene Worte, meistens von Älteren, die diese minderjährigen Heldinnen aus dem Tritt bringen.
In der Titelgeschichte berichtet ein Mädchen von einem Sommerferienlager. Man kennt das. Allenfalls die Fahnenappelle deuten darauf hin, dass es sich um ein DDR-Ferienlager handelt. Dank des unbedarften Blicks der Erzählerin aber wird hinter den scheinbar harmlosen Abläufen schnell eine versteckte Grausamkeit sichtbar. So existiert im Lager ein Punktesystem, das die Überfüllung des Swimmingpools verhindern soll. Demnach dürfen nur die ordentlichsten der siebzig Kinder gemeinsam mit den Leitern schwimmen. "Wir haben nicht genügend Punkte", tröstet sich die Erzählerin selbst darüber, dass ihre Gruppe nicht in den Pool darf. "Wir sollen Ordnung hinterlassen. Mir gefällt Ordnung. Ich will immer ordentlich sein, damit niemand noch mehr Arbeit hat. Ich bin im Ferienlager, ich mache keinen Dreck zu Hause, und meine Mutter kann sich einmal ausruhen."
Das sind Glaubenssätze einer Selbstentwertung, die man sofort als Indoktrination eines totalitären Systems deuten kann. Beunruhigend ist, dass daraus auch die Leitgedanken jeder ganz "normalen" Erziehung sprechen. Bei Harings kontaktarmen Mädchen aber nimmt das monströse Ausmaße an, weil diese Leitsätze gleichsam in ihrem Inneren implodieren. In einer anderen Episode weigert sich ein Mädchen, einen Dankesbrief an die Chefin ihrer Mutter mit "Ihre" zu unterschreiben - mit der Begründung, sie "gehöre" der Chefin ja nicht. Was sich wie ein läppischer Konflikt liest, wächst sich aus zu der Prophezeiung, dass die Tochter sich nie in der Erwachsenenwelt zurechtfinden wird.
Die Angst vor dem sozialen Scheitern hängt in diesen Erzählungen quasi in der Luft. Immer wieder haben die Protagonistinnen das Gefühl, falsch zu liegen, zu versagen, während alle anderen ihren Aufgaben gewachsen sind, und in der Pubertät steigert sich der Druck noch. Wie tief dann die Lücke zwischen romantischer Vorstellung und herzbrecherischer Wirklichkeit beim ersten Liebeserlebnis klaffen kann, zeigt "Tanz in den Mai", die beste Geschichte des Bandes. Auch hier geht es um eine junge Einzelgängerin, die mit drei anderen Mädchen zusammenwohnt: "Sie rochen nach Sonne, kleinen Mühen, Fröhlichkeit und Ruhe", glaubt die Erzählerin mit neidischem Blick auf ihre Mitbewohnerinnen. "Die Jungs, die sie nach der Disco nach Hause bringen, sagen, du riechst gut, und küssen sie an der Haustür." Sich selbst hingegen findet die junge Frau zu dick. Ins Schwimmbad traut sie sich darum nicht. Nur in die Disco kommt sie schließlich einmal mit, wo sie prompt von jemandem angesprochen wird, der es nicht nur auf Romantik abgesehen hat.
Wie ernüchternd erste Umarmungen oft sind, hat Karen Duve schon eindrucksvoll beschrieben. Auch Haring beschönigt nichts an den Debakeln ihrer jungen Heldinnen. Es ist die Mischung aus naiver Arglosigkeit und genau beobachtender Neugier, die Harings Erzählstimme auszeichnet und ihre Geschichten eigentümlich in der Schwebe hält. Acht Jahre lang hat die Kölner Autorin geschrieben, bevor sie diese spezielle Stimmlage gefunden hatte. Die Geduld und Mühe zahlen sich hier wieder aus.
GISA FUNCK.
Roswitha Haring: "Das halbe Leben". Ammann Verlag, Zürich 2007. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roswitha Haring besingt den traurigen Vogel Jugend
Es ist vielleicht fünf Jahre her, da galten Jugendgeschichten aus der DDR im deutschen Literaturbetrieb als Erfolgsgenre. Das war die Zeit der "Zonenkinder" und der "Generation Trabant" - ein umstrittenes Etikett, das aber nicht ganz zufällig der konsumfreudigen, westdeutschen "Generation Golf" entlehnt war. Denn auch viele junge Ost-Autoren listeten in ihren DDR-Rückblicken Markennamen und Embleme auf: vom Pionierkäppi bis zum Sandmännchen, Von der Sero-Annahmestelle bis hin zur sozialistischen Jugendzeitschrift "FRÖSI". Und es war nicht zuletzt die Beschwörung einer gemeinsamen Kindheit über die Aufzählung von Alltagscodes, die Autoren wie Jana Hensel, Jakob Hein, Jochen Schmidt oder Falko Hennig bei ihren Lesern beliebt machte.
Auch Roswitha Haring, geboren 1960 in Leipzig, schreibt über das Aufwachsen in der DDR. Aber ihre Geschichten lesen sich ganz anders als die einstigen Chroniken der jüngeren Zonenkinder, fast so, als würde sie von einem anderen Land erzählen. Der offizielle Staatsapparat nämlich tritt bei ihr so gut wie gar nicht in Erscheinung. Das war schon in ihrem ersten Roman "Ein Bett aus Schnee" auffällig, der von einem vereinsamten Mädchen handelte, das bei einem Verwandtenbesuch erfahren muss, dass die eigene Familie offenbar nicht so heil ist, wie sie nach außen hin tut. Besonders verstörend an dieser Schilderung einer provinziellen Kinderhölle war schon damals weniger dessen unterschwellige Brutalität als die Tatsache, dass diese Kinderhölle einem gar nicht so weit weg vorkam.
Man hätte sich Harings Debütroman vor vier Jahren auch gut in der alten Bundesrepublik vorstellen können oder sogar im wiedervereinigten Deutschland - ein beunruhigender Effekt, der sich auch im neuen Erzählband "Das halbe Leben" einstellt. Denn auch in diesen dreizehn Episoden ist die DDR weniger ein klar umrissener, verschwundener Ort als eine bedrohliche Grundstimmung gegenseitigen Misstrauens. Kindheit und Jugend verlaufen für die jungen Ich-Erzählerinnen alles andere als idyllisch. Dabei passiert vordergründig nichts Schlimmes, keine körperliche Gewalt, kein Todesfall, keine Misserfolge. Stattdessen sind es kleine Ereignisse, kleine Gesten und lapidar hingesprochene Worte, meistens von Älteren, die diese minderjährigen Heldinnen aus dem Tritt bringen.
In der Titelgeschichte berichtet ein Mädchen von einem Sommerferienlager. Man kennt das. Allenfalls die Fahnenappelle deuten darauf hin, dass es sich um ein DDR-Ferienlager handelt. Dank des unbedarften Blicks der Erzählerin aber wird hinter den scheinbar harmlosen Abläufen schnell eine versteckte Grausamkeit sichtbar. So existiert im Lager ein Punktesystem, das die Überfüllung des Swimmingpools verhindern soll. Demnach dürfen nur die ordentlichsten der siebzig Kinder gemeinsam mit den Leitern schwimmen. "Wir haben nicht genügend Punkte", tröstet sich die Erzählerin selbst darüber, dass ihre Gruppe nicht in den Pool darf. "Wir sollen Ordnung hinterlassen. Mir gefällt Ordnung. Ich will immer ordentlich sein, damit niemand noch mehr Arbeit hat. Ich bin im Ferienlager, ich mache keinen Dreck zu Hause, und meine Mutter kann sich einmal ausruhen."
Das sind Glaubenssätze einer Selbstentwertung, die man sofort als Indoktrination eines totalitären Systems deuten kann. Beunruhigend ist, dass daraus auch die Leitgedanken jeder ganz "normalen" Erziehung sprechen. Bei Harings kontaktarmen Mädchen aber nimmt das monströse Ausmaße an, weil diese Leitsätze gleichsam in ihrem Inneren implodieren. In einer anderen Episode weigert sich ein Mädchen, einen Dankesbrief an die Chefin ihrer Mutter mit "Ihre" zu unterschreiben - mit der Begründung, sie "gehöre" der Chefin ja nicht. Was sich wie ein läppischer Konflikt liest, wächst sich aus zu der Prophezeiung, dass die Tochter sich nie in der Erwachsenenwelt zurechtfinden wird.
Die Angst vor dem sozialen Scheitern hängt in diesen Erzählungen quasi in der Luft. Immer wieder haben die Protagonistinnen das Gefühl, falsch zu liegen, zu versagen, während alle anderen ihren Aufgaben gewachsen sind, und in der Pubertät steigert sich der Druck noch. Wie tief dann die Lücke zwischen romantischer Vorstellung und herzbrecherischer Wirklichkeit beim ersten Liebeserlebnis klaffen kann, zeigt "Tanz in den Mai", die beste Geschichte des Bandes. Auch hier geht es um eine junge Einzelgängerin, die mit drei anderen Mädchen zusammenwohnt: "Sie rochen nach Sonne, kleinen Mühen, Fröhlichkeit und Ruhe", glaubt die Erzählerin mit neidischem Blick auf ihre Mitbewohnerinnen. "Die Jungs, die sie nach der Disco nach Hause bringen, sagen, du riechst gut, und küssen sie an der Haustür." Sich selbst hingegen findet die junge Frau zu dick. Ins Schwimmbad traut sie sich darum nicht. Nur in die Disco kommt sie schließlich einmal mit, wo sie prompt von jemandem angesprochen wird, der es nicht nur auf Romantik abgesehen hat.
Wie ernüchternd erste Umarmungen oft sind, hat Karen Duve schon eindrucksvoll beschrieben. Auch Haring beschönigt nichts an den Debakeln ihrer jungen Heldinnen. Es ist die Mischung aus naiver Arglosigkeit und genau beobachtender Neugier, die Harings Erzählstimme auszeichnet und ihre Geschichten eigentümlich in der Schwebe hält. Acht Jahre lang hat die Kölner Autorin geschrieben, bevor sie diese spezielle Stimmlage gefunden hatte. Die Geduld und Mühe zahlen sich hier wieder aus.
GISA FUNCK.
Roswitha Haring: "Das halbe Leben". Ammann Verlag, Zürich 2007. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
So richtig warm wird der Rezensent Ulrich Rüdenauer mit Roswitha Harings Erzählungen nicht. Zwar findet er sie "atmosphärisch durchaus gelungen", und auch die Dramaturgie wartet seiner Meinung nach mit einigen Überraschungen und poetischen Wendungen auf. Doch eine Geschichte gäben sie trotzdem nicht her. Der Rezensent vermisst eine gewisse Beweglichkeit der Figuren. Zum Ende hin wünscht sich der Rezensent, die Geschichten würden ab und zu einmal "aus der Haut fahren". Stattdessen ist die Autorin damit beschäftigt, eine "gedankentötende" Tristesse zu beschreiben. Das, so bemängelt Rüdenauer, erlaubt nicht allzu viele Variationen im Erzählton - da kann die Autorin eine noch so präzise Beobachterin sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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