Hamburg ist die Stadt der Kontorhäuser. Vor dem Zweiten Weltkrieg musste man den Blick schon auf London oder die Metropolen der USA lenken, um vergleichbar viele architektonisch hochwertige und konzeptionell schlüssige Bürohäuser an einem Ort zu finden. Bereits damals präsentierte sich die Hamburger Innen stadt als geschäftige City, ebenfalls ein einzig artiger Umstand. Umso erstaunlicher ist es, dass die Hamburger Kontorhausarchitektur bis heute keine umfassende Würdigung erfahren hat. Diese Lücke schließt nun der reich bebilderte Band von Ralf Lange. Anhand von rund 100 Beispielen wird hier die Entwicklung der Kontorhäuser von den Anfängen in den 1880er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg nachgezeichnet: Ihren ersten Höhepunkt erfuhr die Kontorhausarchitektur mit dem Heimatstil und der Reform architektur um 1910. In der Weimarer Republik wurde das Repertoire dann um expressionistische Formen bereichert. In dieser Zeit entstanden so bedeutende Bauten wie das Chilehaus oder der Sprinkenhof, die heute als potenzielles Weltkulturerbe gelten. Ergänzt um eine vollständige Liste aller erhaltenen Kontorhäuser und Biografien ihrer Architekten, ist dieser Titel ein wertvolles Standardwerk für alle am Hamburger Stadtbild und seiner typischen Architektur Interessierten.Mit einem Verzeichnis aller erhaltenen Kontorhäuser in Hamburg sowie Kurzbiografien ihrer Architekten von Jan Lubitz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2015Hamburger Kontorhäuser
Renditeobjekte mit großer Tradition
Das Chilehaus mit seiner ausgeprägten Schiffssymbolik fehlt seit den fünfziger Jahren in keinem Standardwerk zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Der expressionistische Klinker-Koloss mit seiner berühmten bugartigen Gebäudespitze und dem flirrenden Vexierspiel der dunkelroten Backstein-Fassaden dankt seine maritime Grundform einem problematischen Grundstück, das im Osten ein stumpf abgeschnittenes Dreieck bildete. Der Entwurf des Architekten Fritz Höger für den Hamburger Kaufmann Henry Branes Sloman, der sein Geld mit Chile-Salpeter gemacht hatte, wurde zwischen 1922 und 1924 realisiert. Die zehngeschossige Ikone der Hamburger "Kontorhaus"-Architektur ziert jetzt, nächtlich beleuchtet, mit hoch aufragender Ostspitze den Einband einer interessanten Neuerscheinung aus dem Dölling und Galitz Verlag.
An gut 100 Beispielen zeichnet dort der Kunsthistoriker Ralf Lange spannend, detailreich und angenehm lesbar die Entwicklung Hamburger Kontorhäuser von ihren Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg nach und rekapituliert, was seitdem mit dem baulichen Erbe geschehen ist. Der umfangreiche Band ist prall gefüllt mit historischen Fotos, oft im Großformat, dazu Entwurfszeichnungen, Grundrissen und ganzseitigen Luftaufnahmen. Am Ende finden sich Steckbriefe der rund 240 bis heute erhaltenen Kontorhäuser mit Foto und Adresse sowie in alphabetischer Reihenfolge die Biographien ihrer Architekten.
Die Einzigartigkeit der Kontorhäuser belegt Ralf Lange in sieben Kapiteln an der Geschichte, Architektur und den Charakteristika dieses Gebäudetyps. Der Bedarf, möglichst vielen Reedern, Kaufleuten, Agenten, Maklern, Spediteuren und Versicherern konzentriert in Hafennähe Gewerbeflächen zu bieten, brachte in Hamburg einen eigenen funktionalen Bautypus von Miet-Bürohäusern für eher kleinteilige hafenabhängige Unternehmer hervor. Arbeiten, Wohnen und Warenlager zu trennen machte die 1883 im Hamburger Freihafen eingeweihte, zentrumsnahe Speicherstadt mit ihren immensen Lagerflächen möglich.
Das erste Kontorhaus für gut 60 Mietparteien errichtete 1885/1886 der Architekt Martin Haller im Auftrag des Kaufmanns Heinrich von Ohlendorff. Der "Dovenhof" punktete mit aller Moderne, für die Kontorhäuser alsbald berühmt wurden: Er hatte flexible Grundrisse für wechselnden Bedarf, zentralisierte Treppen- und Sanitärbereiche, dazu Zentralheizung, elektrisches Licht und innovative Umlaufaufzüge, sogenannte Paternoster, zur schnellen Verbindung zwischen den Etagen.
Der Terminus Kontorhaus bürgerte sich ab 1900 ein. Als spezielle Gattung prägten sie das Bild der Innenstadt und verdrängten die Wohnbevölkerung. Die Mehrzahl wurde in den drei prosperierenden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg errichtet. Zwischen 1908 und 1913 entstanden an der neuen Mönckebergstraße zwischen Hauptbahnhof und Rathaus etliche Kontorhäuser mit typischen roten Backsteinfassaden.
Der kriegsbedingte Niedergang der Wirtschaft nach 1914 stoppte den Bauboom. Fritz Höger setzte 1922 mit seinem Chilehaus einen demonstrativen Neubeginn, der bis zum Ende des Jahrzehnts das einzigartige Viertel im Sanierungsgebiet südlich der Steinstraße initiierte. Nach 1933 kamen nur noch vier neue Kontorhäuser dazu: 1938 das Pres-sehaus am Speersort, 1943 der letzte Abschnitt des in den zwanziger Jahren begonnenen Sprinkenhofs. Im Sommer des gleichen Jahres wurden 379 Kontorhäuser bei Luftangriffen zerstört, viele andere bis Kriegsende ebenso. 243 blieben erhalten.
Kontorhäuser waren stets als Renditeobjekte angelegt. Die Bauherren rekrutierten sich aus dem traditionellen Hamburger Außenhandel, der Schifffahrt sowie dem Kredit- und Versicherungsgeschäft. Einige Architekten bauten allerdings auf eigene Rechnung. So wurde der seinerzeit bekannte Franz Bach Alleineigentümer von fünf Kontorhäusern, unter anderem dem Levantehaus, dem Rolandhaus und dem Domhof an der Mönckebergstraße. Zugleich war er an diversen Kapitalgesellschaften beteiligt, die nach dem Ersten Weltkrieg oft die Finanzierung von Kontorhäusern übernahmen. Der Sprinkenhof und der Meßberghof, wenige Jahre nach dem Chilehaus in dessen unmittelbarer Nähe gebaut, entstanden auf diese Weise.
Ralf Lange nennt Kontorhäuser ein "kunsthistorisches Schwellenphänomen". Tatsächlich markierten diese Gebäude den Übergang vom Historismus und Jugendstil zur versachlichten Moderne, die Grundrisse und Fassaden aus der Funktion ableitete. Auffallend an Kontorhäusern war vor allem ihre serielle Fassadengliederung. Sie wurde möglich durch den Stahl- und Betonbau, der die Konstruktion tragender Außenwände als Pfeilersystem für eine optimale Raumvariation sowie gleichmäßige Fensterflächen erlaubte.
Hochwertige Materialien und künstlerischer Bauschmuck für die Fassaden, dazu aufwendig dekorierte Vestibüle und Treppenhäuser erhöhten die Marktchancen der Gebäude. Identitätsstiftend für diejenigen, die in Kontorhäusern arbeiteten, wirkten vermutlich die individuellen Namen der Gebäude. Sie verwiesen oft auf den Standort, den Erbauer oder die Branche. Noch beliebter waren geographische Bezeichnungen wie Südseehaus, Levantehaus oder Sudanhaus, zumal wenn sich darin Wirtschaftsinteressen der Eigentümer oder Mieter spiegelten. Manche Namen verschwanden, sobald sie aus politischen Gründen nicht mehr opportun waren. Das Ballinhaus wurde 1938 zum Meßberghof, weil Hapag-Chef Alfred Ballin Jude war.
Langes Ausführungen machen deutlich, dass die Bauten des Viertels, allen voran das Ensemble von Chilehaus, Sprinkenhof und Meßberghof, Maßstäbe für die Entwicklung moderner Bürohausarchitektur setzten. Die historischen Fakten, bis heute im Stadtbild sichtbar, kommen zur rechten Zeit in Erinnerung. Am 5. Juli entscheidet das Welterbekomitee der Unesco über Hamburgs Antrag zur Aufnahme von "Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus" in die Welterbeliste. Die Chancen stehen gut.
ULLA FÖLSING
Ralf Lange: Das Hamburger Kontorhaus. Dölling und Galitz Verlag, München, Hamburg 2015, 288 Seiten, 39,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Renditeobjekte mit großer Tradition
Das Chilehaus mit seiner ausgeprägten Schiffssymbolik fehlt seit den fünfziger Jahren in keinem Standardwerk zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Der expressionistische Klinker-Koloss mit seiner berühmten bugartigen Gebäudespitze und dem flirrenden Vexierspiel der dunkelroten Backstein-Fassaden dankt seine maritime Grundform einem problematischen Grundstück, das im Osten ein stumpf abgeschnittenes Dreieck bildete. Der Entwurf des Architekten Fritz Höger für den Hamburger Kaufmann Henry Branes Sloman, der sein Geld mit Chile-Salpeter gemacht hatte, wurde zwischen 1922 und 1924 realisiert. Die zehngeschossige Ikone der Hamburger "Kontorhaus"-Architektur ziert jetzt, nächtlich beleuchtet, mit hoch aufragender Ostspitze den Einband einer interessanten Neuerscheinung aus dem Dölling und Galitz Verlag.
An gut 100 Beispielen zeichnet dort der Kunsthistoriker Ralf Lange spannend, detailreich und angenehm lesbar die Entwicklung Hamburger Kontorhäuser von ihren Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg nach und rekapituliert, was seitdem mit dem baulichen Erbe geschehen ist. Der umfangreiche Band ist prall gefüllt mit historischen Fotos, oft im Großformat, dazu Entwurfszeichnungen, Grundrissen und ganzseitigen Luftaufnahmen. Am Ende finden sich Steckbriefe der rund 240 bis heute erhaltenen Kontorhäuser mit Foto und Adresse sowie in alphabetischer Reihenfolge die Biographien ihrer Architekten.
Die Einzigartigkeit der Kontorhäuser belegt Ralf Lange in sieben Kapiteln an der Geschichte, Architektur und den Charakteristika dieses Gebäudetyps. Der Bedarf, möglichst vielen Reedern, Kaufleuten, Agenten, Maklern, Spediteuren und Versicherern konzentriert in Hafennähe Gewerbeflächen zu bieten, brachte in Hamburg einen eigenen funktionalen Bautypus von Miet-Bürohäusern für eher kleinteilige hafenabhängige Unternehmer hervor. Arbeiten, Wohnen und Warenlager zu trennen machte die 1883 im Hamburger Freihafen eingeweihte, zentrumsnahe Speicherstadt mit ihren immensen Lagerflächen möglich.
Das erste Kontorhaus für gut 60 Mietparteien errichtete 1885/1886 der Architekt Martin Haller im Auftrag des Kaufmanns Heinrich von Ohlendorff. Der "Dovenhof" punktete mit aller Moderne, für die Kontorhäuser alsbald berühmt wurden: Er hatte flexible Grundrisse für wechselnden Bedarf, zentralisierte Treppen- und Sanitärbereiche, dazu Zentralheizung, elektrisches Licht und innovative Umlaufaufzüge, sogenannte Paternoster, zur schnellen Verbindung zwischen den Etagen.
Der Terminus Kontorhaus bürgerte sich ab 1900 ein. Als spezielle Gattung prägten sie das Bild der Innenstadt und verdrängten die Wohnbevölkerung. Die Mehrzahl wurde in den drei prosperierenden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg errichtet. Zwischen 1908 und 1913 entstanden an der neuen Mönckebergstraße zwischen Hauptbahnhof und Rathaus etliche Kontorhäuser mit typischen roten Backsteinfassaden.
Der kriegsbedingte Niedergang der Wirtschaft nach 1914 stoppte den Bauboom. Fritz Höger setzte 1922 mit seinem Chilehaus einen demonstrativen Neubeginn, der bis zum Ende des Jahrzehnts das einzigartige Viertel im Sanierungsgebiet südlich der Steinstraße initiierte. Nach 1933 kamen nur noch vier neue Kontorhäuser dazu: 1938 das Pres-sehaus am Speersort, 1943 der letzte Abschnitt des in den zwanziger Jahren begonnenen Sprinkenhofs. Im Sommer des gleichen Jahres wurden 379 Kontorhäuser bei Luftangriffen zerstört, viele andere bis Kriegsende ebenso. 243 blieben erhalten.
Kontorhäuser waren stets als Renditeobjekte angelegt. Die Bauherren rekrutierten sich aus dem traditionellen Hamburger Außenhandel, der Schifffahrt sowie dem Kredit- und Versicherungsgeschäft. Einige Architekten bauten allerdings auf eigene Rechnung. So wurde der seinerzeit bekannte Franz Bach Alleineigentümer von fünf Kontorhäusern, unter anderem dem Levantehaus, dem Rolandhaus und dem Domhof an der Mönckebergstraße. Zugleich war er an diversen Kapitalgesellschaften beteiligt, die nach dem Ersten Weltkrieg oft die Finanzierung von Kontorhäusern übernahmen. Der Sprinkenhof und der Meßberghof, wenige Jahre nach dem Chilehaus in dessen unmittelbarer Nähe gebaut, entstanden auf diese Weise.
Ralf Lange nennt Kontorhäuser ein "kunsthistorisches Schwellenphänomen". Tatsächlich markierten diese Gebäude den Übergang vom Historismus und Jugendstil zur versachlichten Moderne, die Grundrisse und Fassaden aus der Funktion ableitete. Auffallend an Kontorhäusern war vor allem ihre serielle Fassadengliederung. Sie wurde möglich durch den Stahl- und Betonbau, der die Konstruktion tragender Außenwände als Pfeilersystem für eine optimale Raumvariation sowie gleichmäßige Fensterflächen erlaubte.
Hochwertige Materialien und künstlerischer Bauschmuck für die Fassaden, dazu aufwendig dekorierte Vestibüle und Treppenhäuser erhöhten die Marktchancen der Gebäude. Identitätsstiftend für diejenigen, die in Kontorhäusern arbeiteten, wirkten vermutlich die individuellen Namen der Gebäude. Sie verwiesen oft auf den Standort, den Erbauer oder die Branche. Noch beliebter waren geographische Bezeichnungen wie Südseehaus, Levantehaus oder Sudanhaus, zumal wenn sich darin Wirtschaftsinteressen der Eigentümer oder Mieter spiegelten. Manche Namen verschwanden, sobald sie aus politischen Gründen nicht mehr opportun waren. Das Ballinhaus wurde 1938 zum Meßberghof, weil Hapag-Chef Alfred Ballin Jude war.
Langes Ausführungen machen deutlich, dass die Bauten des Viertels, allen voran das Ensemble von Chilehaus, Sprinkenhof und Meßberghof, Maßstäbe für die Entwicklung moderner Bürohausarchitektur setzten. Die historischen Fakten, bis heute im Stadtbild sichtbar, kommen zur rechten Zeit in Erinnerung. Am 5. Juli entscheidet das Welterbekomitee der Unesco über Hamburgs Antrag zur Aufnahme von "Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus" in die Welterbeliste. Die Chancen stehen gut.
ULLA FÖLSING
Ralf Lange: Das Hamburger Kontorhaus. Dölling und Galitz Verlag, München, Hamburg 2015, 288 Seiten, 39,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main