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Auf dem eindrucksvollen Landgut, auf dem sich früher Minister und Militärs trafen, blättert nicht nur die Farbe ab; die Rosenbeete, durch die schwerbewaffnete Bodyguards robbten, wenn der Staatspräsident zu »Geschäftstreffen« kam, sind dem wilden Efeu gewichen, die Felder liegen brach; für alte, selbstherrlich regierende Großgrundbesitzer wie den »Herrn Doktor« hat die neue Zeit keine Verwendung mehr. Nur wer seine Besitzungen rücksichtslos zu Geld zu machen versteht, am besten zum Ferienparadies mit Golfanlage, wird im Clan der neuen alten Mächtigen überleben. João, der von der Haushälterin…mehr

Produktbeschreibung
Auf dem eindrucksvollen Landgut, auf dem sich früher Minister und Militärs trafen, blättert nicht nur die Farbe ab; die Rosenbeete, durch die schwerbewaffnete Bodyguards robbten, wenn der Staatspräsident zu »Geschäftstreffen« kam, sind dem wilden Efeu gewichen, die Felder liegen brach; für alte, selbstherrlich regierende Großgrundbesitzer wie den »Herrn Doktor« hat die neue Zeit keine Verwendung mehr. Nur wer seine Besitzungen rücksichtslos zu Geld zu machen versteht, am besten zum Ferienparadies mit Golfanlage, wird im Clan der neuen alten Mächtigen überleben.
João, der von der Haushälterin des Gutes zärtlich geliebte Sohn des »Herrn Doktor«, jedenfalls gehört nicht dazu. Er, der eine »Vogelscheuche« geheiratet hat und vom Schwiegervater dafür bezahlt wird, daß er nicht in dessen Bank auftaucht und mit dem Geld Monopoly spielt, bastelt lieber selbstvergessen an seinem allen nautischen Gesetzen spottenden Holzschiff. Leute wie er werden Trinker oder verrückt oder beides.
António Lobo Antunes entfaltet sein grandioses barockes Universum, indem er das Landgut zum Welttheater macht: der »Herr Doktor« und sein Sohn João, die mit ihren Liebhabern ständig »Besorgungen« machende Mutter, die um die Gunst des Patrons buhlenden Hausangestellten, martialische Onkel, scharfe Tanten, rachsüchtige Militärs, Businessclowns, Inquisitoren und Melancholiker - sie alle haben ihre grotesken Verrücktheiten und wahren oder erfundenen Vergangenheiten, die sie unwiderruflich mit diesem Land verbinden. Und sie alle kämpfen um einen Fensterplatz an Bord des Schiffes, das Portugal in eine »mit Sicherheit bessere« Zukunft, in die Renditengewinne und die wunderbare Kapitalvermehrung bringen soll.
Autorenporträt
Lobo Antunes, AntónioAntónio Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als zwanzig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

Meyer-Minnemann, MaraldeMaralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.1997

Neunzehn Münder
Die Verhöre des António Lobo Antunes · Von Christoph Bartmann

Schon lange hat der Minister niemanden mehr, der ihm schreibt. Verlassen liegt sein Landgut da, in dem ihn einst die Spitzen des Staates besuchten, leer das Schwimmbecken, zerbrochen die Statuen im Garten. Die Dachpfannen haben sich gelöst, es regnet in den Salon und auf das Piano mit dem signierten Foto der Königin. Mit einem Schwenk über die verwüstete Pracht eines portugiesischen Herrenhauses beginnt António Lobo Antunes' fulminanter - und von Maralde Meyer-Minnemann großartig übersetzter - Roman "Das Handbuch der Inquisitoren". Der Patriarch von Palmela, der nie den Hut abnahm, "damit klar ist, wer das Sagen hat", der vor feinen Leuten gern den Bauern herauskehrte, liegt verwirrt und gelähmt in einer Klinik und kann sein Wasser nicht mehr halten. Ein Bett weiter dämmert "der Major" vor sich hin, einstmals Direktor der politischen Polizei PIDE und enger Vertrauter des "Herrn Doktor", wie man den Minister üblicherweise titulierte. Der Herr Doktor ist am Ende. Und das nicht erst seit dem Umsturz vom 25. April 1974, sondern vielleicht schon seit jenem Tag, an dem ihm "der Admiral" eröffnete, daß ein anderer, "der Professor", Salazars Nachfolger werden sollte. Oder seit dem Tag, an dem ihn seine Frau verließ und der Major ihm nicht helfen wollte.

Vom "Admiral", vom "Major" und all den anderen Würdenträgern im portugiesischen Ancien régime ist in diesem Roman ausführlich die Rede, doch das Wort ergreifen andere. Und auch der Herr Doktor kommt erst nach fast vierhundert Seiten mit seinem Bericht an die Reihe. Wie in früheren Romanen, aber noch virtuoser und konsequenter inszeniert Lobo Antunes im "Handbuch der Inquisitoren" ein Figuren- und Stimmengetümmel, in dem allem Anschein nach kein Erzähler Ordnung stiftet. Statt dessen sorgen neunzehn Münder für Verwirrung. In fünf "Berichten" und vierzehn "Kommentaren" entsteht das Porträt einer untergehenden Klasse. Doch geben diese Berichte und Kommentare das Geschehen weder linear noch einstimmig oder objektiv wieder. Diese beinahe beckettschen Monologe sind verspätete Lebensbeichten, verzweifelte Sprechkuren. Die Figuren werden heimgesucht von der Vergangenheit. In ihren uferlosen Reden kreuzen sich die Stimmen. Doch jede Rede entwirrt zugleich das vermeintliche Durcheinander, und am Ende hält der Leser alle Fäden in der Hand. Lobo Antunes ist ein Meister der Stimmen-Regie.

Weil die Figuren immerfort reden und reden, beginnt der Roman bereits mit einem "Und". "Und als ich in Lissabon das Gericht betrat, dachte ich an das Landgut", so fängt der Bericht des Sohnes Joao an. In seine Erinnerung an die Kindheit in Palmela, an die gutsherrlichen Privilegien seines Vaters und die eigene klägliche Angst vor der Dunkelheit mischen sich die Wortwechsel der laufenden Scheidungsverhandlung, an deren Ende Joao, der "Trottel", seiner Exfrau eine Hypothek auf seinen Besitz überschreiben wird. Wo einmal das Gut war, wird nun eine Feriensiedlung mit Golfplatz "für die Engländer" entstehen.

So wie Joaos Bericht dreimal kommentiert wird - von der Tochter des Hausmeisters, von Sofia, seiner Frau, und von ihrem Onkel, dem Bankier und Spekulanten -, so setzt sich auch im folgenden die Handlung aus berichtenden und kommentierenden Stimmen nachträglich zusammen. Von Titina, der Haushälterin in Palmela, erfahren wir, was hinter den angeblichen Einkaufstouren der Hausherrin steckt: der reiche Onkel nämlich, mit dessen Nichte der ahnungslose Joao verheiratet war. Außerdem verrät Titina, daß der örtliche Tierarzt auf Geheiß des Doktors die Köchin heimlich von einem Mädchen entbunden hat. Paula, so heißt Joaos illegitime Halbschwester, erzählt im folgenden Bericht davon, wie sie im Landstädtchen Alcácer do Sal bei einer depressiven Patin aufwuchs und aus Einsamkeit mal die Zuneigung des schwachsinnigen Nachbarn Romeu, mal die des Taxifahrers César suchte.

Anschließend hat Milá, eine deftige Lissabonner Kurzwarenhändlerin, das Wort. Zu ihr ist der alternde Minister in Liebe entflammt, worauf er ihr mitsamt der Mutter eine Wohnung in bester Lage einrichtet, um zweimal wöchentlich ihre Hand halten zu dürfen - eine Mésalliance, die den allgegenwärtigen Geheimdienst in Unruhe stürzt. In seinem Kommentar gesteht der Oberstleutnant a. D., der seinerzeit als Feldwebel der Chauffeur des Ministers und sein erotischer Adjutant war, wie er im Auftrag seines Herrn in Spanien den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten General Delgado ermorden half. Nach und nach wird das Netz um den Herrn Minister immer enger, und wir erwarten mit Spannung seinen Auftritt.

"Das Handbuch der Inquisitoren" ist, wie die meisten der inzwischen zwölf Romane von Lobo Antunes, ein ebenso obsessiver wie organisierter Redeschwall, eine surrealistische Farce über Portugals alte und neue Eliten, ein psychoanalytisches Tribunal über die bürgerliche Familie und ein Traktat über die Unmöglichkeit der Liebe. Noch einmal erzählt Lobo Antunes, wie schon in "Die Vögel kommen zurück" (1981, deutsch 1989), von übermächtigen Vätern und Versager-Söhnen. Wie im "Reigen der Verdammten" (1985, deutsch 1991) schildert er die absurde Welt der beinahe vierzigjährigen Salazar-Diktatur und der tonangebenden "hundert Familien". Und wieder streift er die eigene Urszene, das beherrschende Thema der Romane "Der Judaskuß" (1979, deutsch 1987) und "Fado Alexandrino" (1983): den portugiesischen Kolonialkrieg in Afrika, den Lobo Antunes als junger Militärarzt zu Beginn der siebziger Jahre selbst erlebt hat. Viele Themen und Motive aus Lobo Antunes' früheren Romanen tauchen im "Handbuch der Inquisitoren" wieder auf. Und noch immer, so scheint es, findet er Portugal "zum Kotzen", um einen der Erzähler in "Fado Alexandrino" zu zitieren. Lobo Antunes glaubt nicht an Veränderung. Sein Portugal ist ein barockes Totenreich. Er haßt es mit derselben Inbrunst und demselben rhetorischen Furor, mit denen Elfriede Jelinek den österreichischen Todestrieb dekonstruiert.

Aber das "Handbuch der Inquisitoren" ist mehr als nur die neueste Folge von Lobo Antunes' Lebensroman. Immer stärker wird bei ihm ein Wille zur Komposition spürbar. Früher kam nicht selten der Inhalt unter die Räder seiner Metaphernmaschine und ihrer mächtigen Peristaltik. In seinen neueren Romanen, angefangen mit den "Leidenschaften der Seele" (1991, deutsch 1994), schöpft Lobo Antunes zunehmend die Möglichkeiten des polyphonen Erzählens aus. Die atemlosen Bekenntnisse seiner Figuren bilden jetzt das Rohmaterial für eine vielschichtige, musikalische Romanarchitektur. Den Reichtum dieses Romans - an Stimmen, Bildern, Realien - kann man lesend kaum erfassen; man wünscht ihn sich aufgeführt, als Hör-Oratorium, das die Vielfalt seiner literarischen Sinnesdaten erst zur simultanen Entfaltung brächte.

Eine Frage bleibt offen: Zu wem haben die neunzehn Stimmen des Romans eigentlich gesprochen? Hin und wieder wird ein Buch erwähnt, für das ihr Gesprächspartner Informationen sammelt. Er selbst bleibt im dunkeln. Das verwundert nicht bei einem Roman, der "Handbuch der Inquisitoren" heißt. Lobo Antunes, der mysteriöse Titel liebt, hat sich bei Nicolas Eymerich bedient. Von ihm, der 1399 starb und Generalinquisitor von Aragón war, stammt ein ursprünglich "Directorium Inquisitorum" und in späteren Ausgaben "Manual de Inquisidores" betiteltes Werk. Es ist der erste spanische Leitfaden für Inquisitoren, und es enthält neben allerlei Ausführungen über strafbare Tatbestände und die Vor- und Nachteile von Folterpraktiken auch einige Hinweise zur inquisitorischen Gesprächsführung. Der Inquisitor, lehrt Eymerich, solle den Verdächtigen mittels geschickter Unterstellungen so weit in die Enge treiben, bis sich dieser schließlich selbst bezichtige. In ihrer Gesprächstechnik ist die Inquisition beinahe modern zu nennen, und das erklärt wohl auch das professionelle Interesse des Psychiaters und Romanciers Lobo Antunes am Handwerk der Inquisitoren.

Im letzten Verhör des Romans kommt endlich der Herr Doktor persönlich zu Wort. Sein Verstand ist getrübt von einem Schlaganfall, und so gerät ihm sein letzter Monolog zur manchmal konfusen, dann auch wieder glasklaren Suada. In immer neuen Anläufen redet sich der Doktor seine Lebens-Katastrophen von der Seele. Lobo Antunes betrachtet den greisen Autokraten, den Kommunistenfresser und unumschränkten Herrn der Dienstmädchen nicht ohne Sympathie. Zu den Ironien der Handlung gehört es ja, daß die Feinde des Doktors sich im eigenen Lager befinden. Nicht die Kommunisten haben ihn um Hof und Land gebracht, sondern die neoliberalen Geldmenschen aus Estoril und Cascais. Mit ihrem Wiederaufstieg kündigt sich eine neue Ordnung an, in der für Fossile wie Francisco kein Platz mehr ist. Das große portugiesische Palaver des António Lobo Antunes endet für diesmal mit dem Funken einer Einsicht, die zu spät kommt: "wie soll ich es Ihnen erklären, wie soll ich es Ihnen deutlich machen, dem Trottel von meinem Sohn zu sagen, daß ich vielleicht nicht, aber daß, daß ich vielleicht versagt habe, aber daß, dem Trottel von meinem Sohn zu sagen, verstehen Sie, dem Trottel von meinem Sohn zu sagen, ich bitte Sie, vergessen Sie nicht dem Trottel von meinem Sohn zu sagen, daß ich ihn trotz alledem".

António Lobo Antunes: "Das Handbuch der Inquisitoren". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 1997. 460 S., geb., 48,- DM.

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