"Kaum je ... hat die unmittelbare deutsche Nachkriegszeit einen schonungsloseren und wortmächtigeren Chronisten als Dieter Forte gefunden. Unter seinem erinnernden Blick wird unsere oft so erinnerungslose Wohlstandswelt gleichsam durchsichtig hin auf die Trümmer, aus denen sie sich erhebt" - schrieb Markus Schwerig im Kölner Stadt-Anzeiger. Diese eminente Chronik deutscher Geschichte, der Dieter Forte den Gesamttitel Das Haus auf meinen Schultern gab, wird nach seiner Vollendung jetzt zum erstenmal in einem Band vorgelegt.
In dem Roman "Das Muster", dem ersten Teil der Trilogie, beschreibt Dieter Forte die Jahrhunderte andauernde Wanderschaft einer italienisch-französischen und einer polnischen Familie quer durch Europa. "Es ist eine einzige große Geschichte, in der zahllose kleine Geschichten, Haupt- und Nebenfiguren durcheinanderwirbeln und schließlich, in den Trümmern dieses Jahrhunderts, zum Stillstand kommt", meinte Volker Hage im Spiegel.
Der zweite Teil, "Der Junge mit denblutigen Schuhen", zeigt, wie die beiden Familien im Rheinland verschmelzen und in einer kuriosen Mischung der Mentalitäten die dreißiger Jahre und vor allem den Zweiten Weltkrieg durchleben. "Fortes Erzählkunst und Sprache", urteilte Walter Hinck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, "bewähren sich vor einer der schwersten Aufgaben: der Darstellung einer Zeit, da die Menschen auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen sind."
Aus dieser vom Bombenkrieg total zerstörten Stadtlandschaft berichtet der dritte Teil der Trilogie, "In der Erinnerung". Forte ruft die Trümmerlandschaften der Nachkriegsjahre ins Gedächtnis, die von körperlich wie seelisch zutiefst traumatisierten Menschen bewohnt wurden. Er richtet seinen Blick auf die Absurditäten und Ironien dieser Zeit, auf die anarchischen Züge des Lebens nach dem Zusammenbruch aller staatlichen Regeln und die ersten Anzeichen einer reflexhaften Rekonstruktion gesellschaftlicher und zivilisatorischer Ordnung. " In der Erinnerung ... setzt mit einer Beschreibung der sogenannten Stunde Null ein. Sie ist der geheime Flucht- und Höhepunkt des gesamten Romanprojekts. Der Tag, die Nacht, Sonne und Mond, Erschaffen und Vergehen. Die Ruhe vor der Schöpfung fällt in eins mit der Ruhe nach der Apokalypse. Ein Hinweis darauf, was dieser Roman, der Familienepos, Geschichtsbuch, Essay in einem ist, außerdem noch darstellt: eine poetische Totenrede", schrieb Ursula März in Die Zeit .
In dem Roman "Das Muster", dem ersten Teil der Trilogie, beschreibt Dieter Forte die Jahrhunderte andauernde Wanderschaft einer italienisch-französischen und einer polnischen Familie quer durch Europa. "Es ist eine einzige große Geschichte, in der zahllose kleine Geschichten, Haupt- und Nebenfiguren durcheinanderwirbeln und schließlich, in den Trümmern dieses Jahrhunderts, zum Stillstand kommt", meinte Volker Hage im Spiegel.
Der zweite Teil, "Der Junge mit denblutigen Schuhen", zeigt, wie die beiden Familien im Rheinland verschmelzen und in einer kuriosen Mischung der Mentalitäten die dreißiger Jahre und vor allem den Zweiten Weltkrieg durchleben. "Fortes Erzählkunst und Sprache", urteilte Walter Hinck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, "bewähren sich vor einer der schwersten Aufgaben: der Darstellung einer Zeit, da die Menschen auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen sind."
Aus dieser vom Bombenkrieg total zerstörten Stadtlandschaft berichtet der dritte Teil der Trilogie, "In der Erinnerung". Forte ruft die Trümmerlandschaften der Nachkriegsjahre ins Gedächtnis, die von körperlich wie seelisch zutiefst traumatisierten Menschen bewohnt wurden. Er richtet seinen Blick auf die Absurditäten und Ironien dieser Zeit, auf die anarchischen Züge des Lebens nach dem Zusammenbruch aller staatlichen Regeln und die ersten Anzeichen einer reflexhaften Rekonstruktion gesellschaftlicher und zivilisatorischer Ordnung. " In der Erinnerung ... setzt mit einer Beschreibung der sogenannten Stunde Null ein. Sie ist der geheime Flucht- und Höhepunkt des gesamten Romanprojekts. Der Tag, die Nacht, Sonne und Mond, Erschaffen und Vergehen. Die Ruhe vor der Schöpfung fällt in eins mit der Ruhe nach der Apokalypse. Ein Hinweis darauf, was dieser Roman, der Familienepos, Geschichtsbuch, Essay in einem ist, außerdem noch darstellt: eine poetische Totenrede", schrieb Ursula März in Die Zeit .
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.1999Am seidenen Faden gestrickt
Eine Heimat finden: Dieter Fortes Romantrilogie
Der Erzähler Dieter Forte beherrscht die großen Formen. Als 1992 sein Roman "Das Muster" erschien, war das Erstaunen der Kritiker und Leser groß, denn bekannt geworden war Forte bisher nur als Dramatiker. Sein umstrittenes Theaterstück "Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung" hatte ihn Anfang der siebziger Jahre auf einen Schlag berühmt gemacht, allerdings auch für lange Zeit mit dem Etikett "Neomarxist" versehen. Doch auf einmal zeigte sich Forte von einer anderen Seite: In seinem ersten Roman ging er zwar wiederum weit in die Vergangenheit zurück, verzichtete nun aber auf jede belehrende Deutung der Geschichte. Er erzählte mit langem Atem das Schicksal zweier europäischer Familien, deren Wege im Mittelalter beginnen, sich aber erst im zwanzigsten Jahrhundert kreuzen. In den beiden folgenden Romanen - "Der Junge mit den blutigen Schuhen" erschien 1995, "In der Erinnerung" 1998 - setzte Forte diese Familienchronik fort, die sich zu einer Trilogie ausweitete und, wie sich nach und nach zeigte, immer stärker autobiographische Züge annahm.
In einer Neuausgabe sind die drei Romane nun in einem Band zusammengefügt. Auch wenn sich die verschlungene Handlung mitunter in skurrilen Seitensträngen zu verlieren droht: Am Ende wird deutlich, dass es sich hier um eine großangelegte Komposition handelt, deren einzelne Partien eng miteinander verknüpft sind und deren Schluss in einem kühnen Bogen zurück an den Anfang führt.
Dieser Anfang porträtiert zwei Familien, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: skeptische Rationalität und unerschütterliche Frömmigkeit, südlicher Leichtsinn und östliche Schwermut, aufgeklärte Toleranz und mystische Versunkenheit stehen generationenlang einander gegenüber. Im vierzehnten Jahrhundert gelangt die italienische Seidenweberfamilie Fontana zu Ruhm und Vermögen, kann aber nirgendwo dauerhaft eine Heimat finden. Politische und religiöse Kriege, ökonomische Krisen und ungezügelte Abenteuerlust führen die Fontanas durch verschiedene europäische Länder, bis sie schließlich im neunzehnten Jahrhundert ins Rheinland gelangen, wo der wirtschaftliche Niedergang nicht aufzuhalten ist. Als einzige Erinnerung an den Glanz vergangener Tage bleibt das abgegriffene Musterbuch, in dem die alten Geheimnisse der Seidenweberei aufgezeichnet sind. Seinen praktischen Nutzen hat es verloren, aber das kümmert die lebenslustigen Nachkommen der Seidenweber wenig.
Parallel dazu wird die Geschichte der polnischen Familie Lukacz erzählt, deren Ursprung sich im Morast gestaltloser Landschaften verliert. Aus Kleinbauern werden im Lauf der Jahrhunderte angesehene Bergleute; schließlich kommen auch die Lukacz' nach Deutschland, wo sie in Gelsenkirchen eine neue Heimat finden. Ihre Form der Erinnerung ist nicht die präzise Chronik, vielmehr pflegen die Familienmitglieder das ausschweifende Erzählen. Deshalb wandert hier, anders als bei den Fontanas, kein Buch von Generation zu Generation, sondern das Gnadenbild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, an das sich viele Wundergeschichten knüpfen.
Folgerichtig läuft die kontrastierende Darstellung der beiden Familien auf eine Verbindung hinaus, die sich am Ende des ersten Buches vollzieht. Die Hochzeit von Friedrich Fontana mit Maria Lukacz im Jahr 1933 schafft einen Familienverband, dessen Stärke in der Gegensätzlichkeit der Traditionen liegt.
Während Forte die beiden Familiengeschichten zunächst im Zeitraffer darstellt, drosselt er jetzt das Tempo und erzählt in behaglicher Ausführlichkeit von dem Geschick des neuen Familienclans. Die Figuren machen die Lektüre zu einem ungetrübten Vergnügen. In jedem Teil der Trilogie stehen sie im Mittelpunkt: Großvater Gustav, der als skeptischer "Privatgelehrter" noch im Bombenhagel über den Lauf der Welt philosophiert; seine Tochter Elisabeth, die in proletarischer Umgebung großstädtischen Chic zu verbreiten sucht und exquisite Herrenbekanntschaften pflegt; sein Sohn Friedrich, der mit unverwüstlichem Optimismus in der größten Hungersnot Brotschneidemaschinen entwirft, die der Familie Reichtum bescheren sollen. Für seine Frau Maria sind das unverantwortliche Phantastereien, denn sie rechnet stets mit der Wendung zum schlimmsten und kämpft mit archaischer Kraft für ihre drei Kinder, von denen nur der älteste Sohn am Leben bleibt.
Dieser namenlose "Junge", wie er stets bezeichnet wird, erweist sich mehr und mehr als alter Ego des Verfassers. Aus seiner Perspektive schildert Forte die Schreckken des Luftkrieges, die Leiden der ausgebombten Flüchtlinge auf ihrer Irrfahrt durch die unversehrten Kleinstädte im Süden Deutschlands und das Chaos der ersten Nachkriegsjahre, in denen aus dem Schutt eine neue Zivilisation hervorwächst. Die Schilderung der Bombennächte gehört zu den Höhenpunkten von Fortes Erzählkunst. Seit W. G. Sebald auf diesen vermeintlichen blinden Fleck der deutschen Nachkriegsliteratur hinwies, hat man anhand verschiedener literarischer Ausgrabungen und Neuentdeckungen den Vorwurf zu entkräften versucht, dass die deutschen Schriftsteller gegenüber dem Luftkrieg sprachlos geblieben sind. In dieser fortdauernden Diskussion kommt Fortes Trilogie weit mehr Bedeutung zu, als allein die Statistik zugunsten der "Luftkriegsromane" zu verändern; denn mit bloßem Zählen oder Aufzählen von Verfassernamen und Buchtiteln ist es hier nicht getan. Forte gelingt die schwierige Aufgabe, von den fast endlosen Bombennächten mit bedrückender Genauigkeit zu erzählen und gleichzeitig Pathos und Sentimentalität zu vermeiden.
Davor bewahrt ihn das schillernde Personal, mit dem er den Düsseldorfer Kosmos der Familie Fontana bevölkert. Melancholische Wanderprediger und ehrliche Diebe, bescheidene Hochstapler und sprachlose Grabredner, Schieber, Weltverbesserer und Phantasten, Vater Abraham, Big Ben, der gute Hermann und der arme Anton: Sie alle sind im Stadtteil Oberbilk zu Hause, wo jede Ideologie auf Widerstand stößt. Auch für eine thesenhafte Erklärung historischer Prozesse, wie Forte sie in seinem Lutherdrama exerziert hatte, findet sich hier kein Anknüpfungspunkt mehr.
Die umfangreiche Trilogie wird damit leauch zu einem Plädoyer für die Kraft der Literatur. Denn immer wieder demonstriert Forte am Beispiel seiner paneuropäischen Großfamilien, dass sich von der Vergangenheit glaubwürdig nur in Geschichten erzählen lässt und dass im Anekdotischen oft mehr Wahrheit verborgen liegt als in den Zahlen einer Chronik. Für den Helden des zweiten und dritten Romans, den heranwachsenden Jungen, wird Literatur sogar zum Medium der Weltaneignung. Während des Krieges besteht seine einzige Zuflucht aus mühsam zusammengesuchten Büchern, und als er in der Nachkriegszeit monatelang das Bett hüten muss, bleibt ihm als Zugang zur Welt allein ein Fenster, durch das er Tag für Tag seine Umgebung wie auf einer Theaterbühne betrachtet. Hier beschreibt Dieter Forte die Geburt eines Schriftstellers - das zeitenumspannende Familienepos wird zu seiner eigenen Geschichte.
SABINE DOERING
Dieter Forte: "Das Haus auf meinen Schultern". Romantrilogie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 864 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Heimat finden: Dieter Fortes Romantrilogie
Der Erzähler Dieter Forte beherrscht die großen Formen. Als 1992 sein Roman "Das Muster" erschien, war das Erstaunen der Kritiker und Leser groß, denn bekannt geworden war Forte bisher nur als Dramatiker. Sein umstrittenes Theaterstück "Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung" hatte ihn Anfang der siebziger Jahre auf einen Schlag berühmt gemacht, allerdings auch für lange Zeit mit dem Etikett "Neomarxist" versehen. Doch auf einmal zeigte sich Forte von einer anderen Seite: In seinem ersten Roman ging er zwar wiederum weit in die Vergangenheit zurück, verzichtete nun aber auf jede belehrende Deutung der Geschichte. Er erzählte mit langem Atem das Schicksal zweier europäischer Familien, deren Wege im Mittelalter beginnen, sich aber erst im zwanzigsten Jahrhundert kreuzen. In den beiden folgenden Romanen - "Der Junge mit den blutigen Schuhen" erschien 1995, "In der Erinnerung" 1998 - setzte Forte diese Familienchronik fort, die sich zu einer Trilogie ausweitete und, wie sich nach und nach zeigte, immer stärker autobiographische Züge annahm.
In einer Neuausgabe sind die drei Romane nun in einem Band zusammengefügt. Auch wenn sich die verschlungene Handlung mitunter in skurrilen Seitensträngen zu verlieren droht: Am Ende wird deutlich, dass es sich hier um eine großangelegte Komposition handelt, deren einzelne Partien eng miteinander verknüpft sind und deren Schluss in einem kühnen Bogen zurück an den Anfang führt.
Dieser Anfang porträtiert zwei Familien, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: skeptische Rationalität und unerschütterliche Frömmigkeit, südlicher Leichtsinn und östliche Schwermut, aufgeklärte Toleranz und mystische Versunkenheit stehen generationenlang einander gegenüber. Im vierzehnten Jahrhundert gelangt die italienische Seidenweberfamilie Fontana zu Ruhm und Vermögen, kann aber nirgendwo dauerhaft eine Heimat finden. Politische und religiöse Kriege, ökonomische Krisen und ungezügelte Abenteuerlust führen die Fontanas durch verschiedene europäische Länder, bis sie schließlich im neunzehnten Jahrhundert ins Rheinland gelangen, wo der wirtschaftliche Niedergang nicht aufzuhalten ist. Als einzige Erinnerung an den Glanz vergangener Tage bleibt das abgegriffene Musterbuch, in dem die alten Geheimnisse der Seidenweberei aufgezeichnet sind. Seinen praktischen Nutzen hat es verloren, aber das kümmert die lebenslustigen Nachkommen der Seidenweber wenig.
Parallel dazu wird die Geschichte der polnischen Familie Lukacz erzählt, deren Ursprung sich im Morast gestaltloser Landschaften verliert. Aus Kleinbauern werden im Lauf der Jahrhunderte angesehene Bergleute; schließlich kommen auch die Lukacz' nach Deutschland, wo sie in Gelsenkirchen eine neue Heimat finden. Ihre Form der Erinnerung ist nicht die präzise Chronik, vielmehr pflegen die Familienmitglieder das ausschweifende Erzählen. Deshalb wandert hier, anders als bei den Fontanas, kein Buch von Generation zu Generation, sondern das Gnadenbild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, an das sich viele Wundergeschichten knüpfen.
Folgerichtig läuft die kontrastierende Darstellung der beiden Familien auf eine Verbindung hinaus, die sich am Ende des ersten Buches vollzieht. Die Hochzeit von Friedrich Fontana mit Maria Lukacz im Jahr 1933 schafft einen Familienverband, dessen Stärke in der Gegensätzlichkeit der Traditionen liegt.
Während Forte die beiden Familiengeschichten zunächst im Zeitraffer darstellt, drosselt er jetzt das Tempo und erzählt in behaglicher Ausführlichkeit von dem Geschick des neuen Familienclans. Die Figuren machen die Lektüre zu einem ungetrübten Vergnügen. In jedem Teil der Trilogie stehen sie im Mittelpunkt: Großvater Gustav, der als skeptischer "Privatgelehrter" noch im Bombenhagel über den Lauf der Welt philosophiert; seine Tochter Elisabeth, die in proletarischer Umgebung großstädtischen Chic zu verbreiten sucht und exquisite Herrenbekanntschaften pflegt; sein Sohn Friedrich, der mit unverwüstlichem Optimismus in der größten Hungersnot Brotschneidemaschinen entwirft, die der Familie Reichtum bescheren sollen. Für seine Frau Maria sind das unverantwortliche Phantastereien, denn sie rechnet stets mit der Wendung zum schlimmsten und kämpft mit archaischer Kraft für ihre drei Kinder, von denen nur der älteste Sohn am Leben bleibt.
Dieser namenlose "Junge", wie er stets bezeichnet wird, erweist sich mehr und mehr als alter Ego des Verfassers. Aus seiner Perspektive schildert Forte die Schreckken des Luftkrieges, die Leiden der ausgebombten Flüchtlinge auf ihrer Irrfahrt durch die unversehrten Kleinstädte im Süden Deutschlands und das Chaos der ersten Nachkriegsjahre, in denen aus dem Schutt eine neue Zivilisation hervorwächst. Die Schilderung der Bombennächte gehört zu den Höhenpunkten von Fortes Erzählkunst. Seit W. G. Sebald auf diesen vermeintlichen blinden Fleck der deutschen Nachkriegsliteratur hinwies, hat man anhand verschiedener literarischer Ausgrabungen und Neuentdeckungen den Vorwurf zu entkräften versucht, dass die deutschen Schriftsteller gegenüber dem Luftkrieg sprachlos geblieben sind. In dieser fortdauernden Diskussion kommt Fortes Trilogie weit mehr Bedeutung zu, als allein die Statistik zugunsten der "Luftkriegsromane" zu verändern; denn mit bloßem Zählen oder Aufzählen von Verfassernamen und Buchtiteln ist es hier nicht getan. Forte gelingt die schwierige Aufgabe, von den fast endlosen Bombennächten mit bedrückender Genauigkeit zu erzählen und gleichzeitig Pathos und Sentimentalität zu vermeiden.
Davor bewahrt ihn das schillernde Personal, mit dem er den Düsseldorfer Kosmos der Familie Fontana bevölkert. Melancholische Wanderprediger und ehrliche Diebe, bescheidene Hochstapler und sprachlose Grabredner, Schieber, Weltverbesserer und Phantasten, Vater Abraham, Big Ben, der gute Hermann und der arme Anton: Sie alle sind im Stadtteil Oberbilk zu Hause, wo jede Ideologie auf Widerstand stößt. Auch für eine thesenhafte Erklärung historischer Prozesse, wie Forte sie in seinem Lutherdrama exerziert hatte, findet sich hier kein Anknüpfungspunkt mehr.
Die umfangreiche Trilogie wird damit leauch zu einem Plädoyer für die Kraft der Literatur. Denn immer wieder demonstriert Forte am Beispiel seiner paneuropäischen Großfamilien, dass sich von der Vergangenheit glaubwürdig nur in Geschichten erzählen lässt und dass im Anekdotischen oft mehr Wahrheit verborgen liegt als in den Zahlen einer Chronik. Für den Helden des zweiten und dritten Romans, den heranwachsenden Jungen, wird Literatur sogar zum Medium der Weltaneignung. Während des Krieges besteht seine einzige Zuflucht aus mühsam zusammengesuchten Büchern, und als er in der Nachkriegszeit monatelang das Bett hüten muss, bleibt ihm als Zugang zur Welt allein ein Fenster, durch das er Tag für Tag seine Umgebung wie auf einer Theaterbühne betrachtet. Hier beschreibt Dieter Forte die Geburt eines Schriftstellers - das zeitenumspannende Familienepos wird zu seiner eigenen Geschichte.
SABINE DOERING
Dieter Forte: "Das Haus auf meinen Schultern". Romantrilogie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 864 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main