Giuliano Sansevero ist ein attraktiver Anfangsdreißiger, Spross eines italienischen Adelsgeschlechts. Um sich von der Bürde seiner edlen Herkunft zu befreien und zu sich selbst zu finden, kehrt er in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts seinem bisherigen Leben in der Mailänder und Pariser Boheme den Rücken und flieht an eine einsame Meeresbucht tief im Süden Italiens. Olivenbäume, Zitronengärten, Kaktusfeigen, glühende Sommerhitze, Fischen im Meer: Fern jeder Alltagshektik genießt er das pralle, italienische Lebensgefühl in seinem Arkadien. Dort beginnt er sein "Haus der Häuser"zu bauen. Als er dem abgeschiedenen Ort zu einer Zufahrtsstraße verhilft, ist der paradiesische Zustand unwiderruflich vorüber, der Fortschritt unaufhaltbar. Und dann verliebt sich Giuliano auch noch in ein verführerisch hübsches Mädchen. Doch die Liebe zu ihr ist eine verbotene.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2011Paradiesdörfer
Die Wiederentdeckung des Italieners Andrea Giovene
Eine Straße - sie ist das wohl einfachste Bild für eine Geschichte. Darum wird in Romanen immer schon gern und viel gereist. So gesehen, will "Das Haus der Häuser" keine Geschichte erzählen, denn der Held und Ich-Erzähler Giuliano di Sansevero zieht im Sommer 1934 gerade deshalb nach Licudi, weil der Weiler isoliert liegt. Häuser ohne Wasser und Strom, Olivenhaine, Berge, das Meer - und keine Straße. Licudi bietet das Hier und Jetzt, die kalabrische Version des Paradieses. Dank Mastro Janaro Mammola, dem Baumeister, der das ganze Dorf mobilisiert, baut Sansevero sich dort ein prächtiges Haus. Im Gegenzug wird er zum Patron des Ortes und teilt das einfache Leben der Bewohner, das er als "Modell für ein menschliches Miteinander" schätzen lernt. Er berichtet von Fischfang, Bettlern, Wallfahrten, verliebt sich in ländliche Schönheiten und verhilft dem Dorf zu einer lang ersehnten Straße - die es später zerstören wird.
Andrea Giovene (1904 bis 1995) aus dem Herzogsgeschlecht di Girasole ist ein Vergessener der Literatur. Sein fünfbändiges Werk "L'autobiografia di Giuliano di Sansevero", dessen dritter Band der vorliegende Roman ist, machte ihn einst zum Nobelpreiskandidaten. Seit einiger Zeit aber ist es still um ihn geworden, auch in Literaturgeschichten findet man ihn selten. Der Berliner Osburg Verlag versucht nun, ihn durch eine deutsche Erstübersetzung in Erinnerung zu rufen. Lohnt es?
Tatsächlich hat der Roman Witz, das Dorf Licudi herben Charme und der junge Held einen melancholisch-tiefen Geist. Es gibt interessante Figuren wie Mastro Mammola (wörtlich: Veilchen), der trotz seiner Schläue der Prostituierten Tredici verfällt und früh Tribut zollen muss an seinen überarbeiteten Körper - man fühlt sich an Mastro-don Gesualdo aus dem gleichnamigen Roman von Verga erinnert. Auch andere Vergleiche drängen sich auf, so der oberflächliche mit Lampedusas Abgesang auf Siziliens Adel und der tiefere mit Stendhals launisch-romantischen Helden. Gerade dieser zweite Vergleich allerdings lässt Giovenes Schwächen deutlich zutage treten: Der fließende Wechsel zwischen Erzählung, Beschreibung und Reflexion, den der Franzose mit kapriziöser Eleganz meistert, gelingt dem Italiener nicht immer. Das zeigt etwa die überstürzte finale Katastrophe, in der es vor allem an Rhythmus mangelt. Es gibt stilistische Schwächen, zudem werden Gedanken formuliert, die heute befremden. Don Calì etwa, der Gutsherr von Licudi, hat eine "sarazenische Ader": "Er war wie eine nicht heimische Pflanze und störte mein idyllisches Verhältnis zu dem Ort." Verquaste Reflexionen und schwulstige Bilder finden sich des Öfteren. Genießbar hingegen sind die Ausführungen zu ländlichen Bräuchen und Sitten: Die sind weniger ehrfixiert, als man es im Kalabrien der dreißiger Jahre erwarten würde - während die Männer lange Jahre in Südamerika schuften, nehmen ihre Frauen sich Freiheiten. Und mitunter entwickelt Giovene eine ethnographisch interessante und zutiefst menschliche Sicht auf seine Figuren: Diese Passagen lohnen eine Wiederentdeckung.
NIKLAS BENDER
Andrea Giovene: "Das Haus der Häuser". Roman.
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Osburg Verlag, Berlin 2010. 358 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wiederentdeckung des Italieners Andrea Giovene
Eine Straße - sie ist das wohl einfachste Bild für eine Geschichte. Darum wird in Romanen immer schon gern und viel gereist. So gesehen, will "Das Haus der Häuser" keine Geschichte erzählen, denn der Held und Ich-Erzähler Giuliano di Sansevero zieht im Sommer 1934 gerade deshalb nach Licudi, weil der Weiler isoliert liegt. Häuser ohne Wasser und Strom, Olivenhaine, Berge, das Meer - und keine Straße. Licudi bietet das Hier und Jetzt, die kalabrische Version des Paradieses. Dank Mastro Janaro Mammola, dem Baumeister, der das ganze Dorf mobilisiert, baut Sansevero sich dort ein prächtiges Haus. Im Gegenzug wird er zum Patron des Ortes und teilt das einfache Leben der Bewohner, das er als "Modell für ein menschliches Miteinander" schätzen lernt. Er berichtet von Fischfang, Bettlern, Wallfahrten, verliebt sich in ländliche Schönheiten und verhilft dem Dorf zu einer lang ersehnten Straße - die es später zerstören wird.
Andrea Giovene (1904 bis 1995) aus dem Herzogsgeschlecht di Girasole ist ein Vergessener der Literatur. Sein fünfbändiges Werk "L'autobiografia di Giuliano di Sansevero", dessen dritter Band der vorliegende Roman ist, machte ihn einst zum Nobelpreiskandidaten. Seit einiger Zeit aber ist es still um ihn geworden, auch in Literaturgeschichten findet man ihn selten. Der Berliner Osburg Verlag versucht nun, ihn durch eine deutsche Erstübersetzung in Erinnerung zu rufen. Lohnt es?
Tatsächlich hat der Roman Witz, das Dorf Licudi herben Charme und der junge Held einen melancholisch-tiefen Geist. Es gibt interessante Figuren wie Mastro Mammola (wörtlich: Veilchen), der trotz seiner Schläue der Prostituierten Tredici verfällt und früh Tribut zollen muss an seinen überarbeiteten Körper - man fühlt sich an Mastro-don Gesualdo aus dem gleichnamigen Roman von Verga erinnert. Auch andere Vergleiche drängen sich auf, so der oberflächliche mit Lampedusas Abgesang auf Siziliens Adel und der tiefere mit Stendhals launisch-romantischen Helden. Gerade dieser zweite Vergleich allerdings lässt Giovenes Schwächen deutlich zutage treten: Der fließende Wechsel zwischen Erzählung, Beschreibung und Reflexion, den der Franzose mit kapriziöser Eleganz meistert, gelingt dem Italiener nicht immer. Das zeigt etwa die überstürzte finale Katastrophe, in der es vor allem an Rhythmus mangelt. Es gibt stilistische Schwächen, zudem werden Gedanken formuliert, die heute befremden. Don Calì etwa, der Gutsherr von Licudi, hat eine "sarazenische Ader": "Er war wie eine nicht heimische Pflanze und störte mein idyllisches Verhältnis zu dem Ort." Verquaste Reflexionen und schwulstige Bilder finden sich des Öfteren. Genießbar hingegen sind die Ausführungen zu ländlichen Bräuchen und Sitten: Die sind weniger ehrfixiert, als man es im Kalabrien der dreißiger Jahre erwarten würde - während die Männer lange Jahre in Südamerika schuften, nehmen ihre Frauen sich Freiheiten. Und mitunter entwickelt Giovene eine ethnographisch interessante und zutiefst menschliche Sicht auf seine Figuren: Diese Passagen lohnen eine Wiederentdeckung.
NIKLAS BENDER
Andrea Giovene: "Das Haus der Häuser". Roman.
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Osburg Verlag, Berlin 2010. 358 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als Zeugnis einer untergegangenen Welt liest Maike Albath den dritten Band von Andrea Giovenes groß angelegtem Epochenfresko, einer Mischung aus Roman, Biografie und Historiografie, wenn wir der Rezensentin glauben schenken wollen. Albath zieht Parallelen zu Lampedusas "Der Leopard", auch was den anachronistischen Stil betrifft. Die Rückkehr des gelangweilten Adelssprosses zu den Einfachheiten des süditalienischen Landlebens stellt sich Albath in poetischen Bildern und Charakterstudien eindringlich dar. Nur manchmal stolpert sie über einen pompösen Ton und mythische Überhöhungen, die ihr etwa ein Carlo Levi erspart.
© Perlentaucher Medien GmbH
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