Produktdetails
  • Verlag: Zytglogge-Verlag
  • Seitenzahl: 256
  • Deutsch
  • Abmessung: 130mm x 210mm
  • Gewicht: 452g
  • ISBN-13: 9783729606142
  • ISBN-10: 372960614X
  • Artikelnr.: 24931330
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2001

Immer wieder Mehlsuppe
Wem die Pendeluhr schlägt: Therese Bichsel liebt es rustikal

Wo sich die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen fest mit einem Ort verknüpft, gar mit einem einzigen Haus, dort ist die Verlockung für die Nachkommen groß, sich auf historische Spurensuche zu begeben und in den eigenen Wänden Ahnenforschung zu betreiben. So nimmt sich denn auch die 1956 geborene Therese Bichsel, die vor vier Jahren schon ihrem ersten Roman ("Schöne Schifferin") einen historischen Stoff zugrunde gelegt hatte, in ihrem neuen Buch der eigenen Familiengeschichte an.

Das "Haus der Mütter", in dem Therese Bichsel selbst aufgewachsen ist, steht in einem kleinen Dorf mitten im fruchtbaren Emmental. Es ist die Landschaft Jeremias Gotthelfs, der in seinen Romanen von Wassernöten und Erntefreuden, von seltsamen Großmüttern, schwierigen Enkeln und immer wieder vom dörflichen Alltag zwischen Käserei und Suppenschüssel erzählte. Das sind Berichte aus einer längst vergangenen Welt, und doch hat sich Bichsel am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts diese behaglichen Schilderungen zum Vorbild genommen, unbekümmert um die ästhetischen und inhaltlichen Probleme, die das Genre der Dorfgeschichte in unserer hochtechnisierten Welt bereitet.

In dem schmucken Mutterhaus, das über lange Zeit einen kleinen Laden beherbergte, wird, wie uns die Autorin glaubhaft versichert, seit über 250 Jahren gezeugt, geboren und gestorben, es wird gekocht (vorzugsweise Mehlsuppen und Kartoffeln in vielerlei Variationen) und gestrickt, Babysachen vor allem. Schließlich sind es die Mütter, von denen am meisten erzählt werden soll. Unentwegt wird auch geliebt, gehofft, verziehen, verzichtet und neu geliebt.

Die jüngste Tochter in der Generationenkette ist die ebenso vater- wie kinderlose vierzigjährige Anne, das alter ego der Autorin. Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt sie in das Haus ihrer Kindheit zurück. Anstatt ihr Erbe, wie zunächst geplant, so schnell wie möglich zu verkaufen, richtet sich die Lehrerin in dem alten Haus allmählich ein und sinnt den verschiedenen Lebenswegen ihrer Vorgängerinnen nach.

Die erzählerische Zeitreise präsentiert nun eine Reihe von Frauenschicksalen, an denen offenbar das jeweils Typische vergangener Epochen und Mentalitäten demonstriert werden soll. Anders als in den moralisierenden Romanen des Pfarrers Gotthelf verbindet sich mit Bichsels exemplarischen Lebensgeschichten allerdings keine unmittelbare Anweisung zum rechten Handeln, sondern als Moral der modernen Dorfgeschichte erscheint vor allem die Einsicht in die Konstanz weiblicher Lebenserfahrungen.

Am Anfang der Ahnenreihe steht die Bäuerin Barbara, die geduldig ihre Stieftöchter und eigenen Söhne großzieht und bis ins Alter heimlich im Dorfbach badet, denn ein so freizügiges Vergnügen schickt sich nicht für eine ehrbare Frau. Ihre Schwiegertochter Rosa ist eine tüchtige Krämerin, stirbt aber bei der Geburt ihres ersehnten Kindes. Das ist Luise, Annes Großmutter, die am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ganz emanzipiert den Beruf eines Postfräuleins erlernt und ihre fortschrittlichen Gedanken an die nächste Generation weitergibt, was ihr durchaus gelingt. Denn ihre Tochter Leni, 1922 geboren, versucht aus der Enge des Dorfes auszubrechen, verbringt mehrere Jahre im Ausland und kehrt in den späten fünfziger Jahren schwanger in ihre Heimat zurück. In einem Bekenntnisbrief präsentiert sie postum der staunenden Anne gleich drei mögliche Väter, von denen das Nachwort beschwichtigend versichert, daß sie allesamt der Fiktion entsprungen seien. Gar zu authentisch darf der dokumentarische Familienroman dann doch nicht sein.

Trotz dieser erzählerischen Freiheiten hat Therese Bichsel reichlich geschichtliches Wissen zusammengetragen, um die Schilderung der fünf Biographien zu einem kulturhistorischen Kaleidoskop werden zu lassen. Die Bedrohung der Ernte durch tückische Kartoffelfäule, die Einführung von Elektrizität und Telefon, der Bau des Gotthardtunnels und die allmähliche Ausdehnung des Fremdenverkehrs - große und kleine Ereignisse spiegeln sich im wechselvollen Alltag von Annes Vorfahren. Doch bei aller historischen Detailfreudigkeit kommt die Erzählerin oft über schwerfällige Phrasen nicht hinaus: "Jetzt, wo ihr Barbara entschwunden war, stand Rosa im Zentrum ihres Interesses."

Im Zentrum von Bichsels Interesse aber steht insbesondere die alte Pendeluhr, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der symbolische Wert dieses Requisits ist offenkundig, wird doch immer wieder bedeutungsvoll die Dauer in allem Wechsel beschworen. Aber auch der innenarchitektonische Reiz des alten Zeitmessers ist nicht zu unterschätzen, denn, so werden wir belehrt, das "volle Timbre der Sumiswalder Pendulen ist einzigartig. Es unterscheidet sich deutlich vom helleren Klang der Neuenburger Schwesteruhren." Mit solch praktischen Hinweisen, die bei Antiquitätensammlern und modernen Erben gleichermaßen willkommen sein dürften, kennt Therese Bichsel sich bestens aus. So findet ihr Roman am Ende, darin nun doch Gotthelfs praktischer Lebenshilfe verwandt, seine nützliche Bestimmung. Man muß das Buch nur als Einrichtungsratgeber lesen: Schöner Wohnen im Emmental.

SABINE DOERING

Therese Bichsel: "Das Haus der Mütter". Roman. Zytglogge Verlag, Bern 2001. 253 S., geb., 45,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

In ihrer kurzen Kritik zeigt sich Beatrice Eichmann-Leutenegger alles in allem recht angetan von diesem Roman, der die Geschichte der weiblichen Vorfahren der Protagonisten Anna erzählt. Dass die Lebensläufe von der Ururgroßmutter bis zur Mutter nur auf den ersten Blick alltäglich sind, sieht die Rezensentin als Beleg für die "Binsenweisheit" einer jeden Biografie, die sie mit diesem Buch "(ein) fühlbar" veranschaulicht findet, dass nämlich bei näherer Betrachtung jedes Leben seine "heimliche Dramatik" aufweist. Auch wenn sie manches allzu behäbig ausgebreitet findet und der Autorin den Hang zum Kommentieren ankreidet, wo die "Fakten allein für sich sprechen" könnten, lobt sie die "gelungenen Zeitbilder" und die Dichte der Erzählung.

© Perlentaucher Medien GmbH