Die Wittgensteins gehören zu den schillerndsten Familien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Vater Karl hatte es als Stahlmagnat zu großem Vermögen gebracht und führte ein offenes Haus, in dem Musiker wie Brahms, Mahler oder Richard Strauss und die Wiener Avantgarde verkehrten. Seine Kinder jedoch litten unter dem strengen Vater: Drei der fünf Söhne brachten sich um, einer verschenkte sein Erbe und wurde ein weltbekannter Philosoph, einer blieb Pianist, der trotz fehlender rechter Hand konzertierte und sich von Ravel, Hindemith, Prokofjew oder Britten Stücke komponieren ließ.
In seiner faszinierenden Biographie schildert Alexander Waugh die gesamte Tragik und Größe einer Familie vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und dem Nationalsozialismus. Entstanden ist das erschütternde Portrait einer Familie so hochbegabter wie schwieriger Menschen.
In seiner faszinierenden Biographie schildert Alexander Waugh die gesamte Tragik und Größe einer Familie vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und dem Nationalsozialismus. Entstanden ist das erschütternde Portrait einer Familie so hochbegabter wie schwieriger Menschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2009Wie hübsch waren doch die Frauen in Wien
Alexander Waugh schwingt sich zum Biographen der Familie von Paul und Ludwig Wittgenstein auf
"Bei der unglaublichen Bekanntheit unseres Namens, dessen einzige Träger wir in Österreich sind, . . . ist es ausgeschlossen, wirklich vollkommen ausgeschlossen, dass ein Mensch der unseren Namen trägt, und dem man die vornehme und feine Erziehung auf tausend Schritte ansieht, nicht als ein Mitglied unserer Familie erkannt werde. Selbst eine Änderung Deines Namens als Ultima ratio würde Dir nichts nützen. Es ist das eine Sache, so hart sie sein mag, mit der Du Dich vertraut machen mußt."
Es war ein ungewöhnlicher Brief, der im Winter 1921 von einem Wiener Stadtpalais in das Dörfchen Trattenbach im nahen Alpenvorland ging. Geschrieben hat ihn Paul Wittgenstein an seinen Bruder Ludwig, der kurz zuvor versucht hatte, eine Dorfschullehrerstelle unter falschem Namen anzutreten, erkannt worden war, darauf zurücktrat und damit die Gerüchte über seine seltsamen Anwandlungen erst recht in Umlauf gebracht hatte. Die nächste Stelle trat der Sohn aus einer der reichsten Familien der ehemaligen Monarchie dann unter richtigem Namen an, lebte bescheiden, doch nicht in der gesuchten Ruhe des Gemüts und fand die Trattenbacher genauso unerträglich wie später die Puchberger. Als er einige Jahre später nach Cambridge ging, wo er vor dem Ersten Weltkrieg studiert hatte, war er dort eindeutig besser aufgehoben.
Und weil er dort auch zu einem der wichtigsten und bis heute weit über alle akademischen Einhegungen ausstrahlenden Philosophen des letzten Jahrhunderts wurde, dürfen selbst die Trattenbacher Episode und der zugehörige Familienbriefwechsel unser Aufmerksamkeit beanspruchen. Wenn Alexander Waugh Pauls Brief auf halber Strecke seines Buchs über die Familie Wittgenstein zitiert, bekommt diese Angelegenheit allerdings fast die Anmutung, dass Ludwig hier erfolglos versucht habe, dem Fluch des "Hauses Wittgenstein" zu entgehen. Denn was der englische Musikkritiker und Publizist bis dahin ausgebreitet hat, läuft auf eine dunkle Geschichte hinaus, deren Bestimmungsstücke der Schatten eines Patriarchen, fragile Seelenhaushalte, verstiegene Vorstellungen, Depressionen und Selbstmorde sind.
Nun lässt sich an den Selbstmorden von zwei oder vielleicht sogar drei Brüdern Pauls und Ludwigs nicht rütteln, sind insbesondere sie und ihre Schwester Gretel, spätere Stonborough, keine Musterbilder temperierten Selbstregimes gewesen und war der Seelenhaushalt Ludwigs gewiss eine äußerst verquere Sache. Aber diese auf den ersten Blick fatal anmutenden Züge einer Familiengeschichte gewinnen nur an Interesse, weil sie beeindruckende Figuren hervorbrachte. Mit scharfkantigem Individualismus, Obsessionen, künstlerischer Begabung, Witz und in einem Fall dazu auch noch schlicht mit Genialität.
Wie das zuging und worin das Ungewöhnliche bestand, das müsste eine Familiengeschichte der Wittgensteins halbwegs fassbar werden lassen. Aber Alexander Waugh stehen die Mittel dafür nicht zu Gebote. Er hält sich zumeist mit ausgeprägtem Sinn fürs Holzschnitthafte an leicht traktierbare Oberflächen und erstaunlich lieblos und ohne viel Sinn für Gewichtungen wirkt, wie er sich damit vom rasanten Aufstieg des Vaters Karl Wittgenstein zum schwerreichen Stahlmagnaten bis zum Tod Pauls Anfang der sechziger Jahre durchschlägt.
Was ihm dabei vorschwebte, ist gar nicht so leicht zu erraten. Die nächstliegende Vermutung ist, dass er sich ursprünglich für den Pianisten Paul zu interessieren begann, der trotz des Verlusts seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg seine Karriere als Pianist fortsetzte und dafür bei einer Reihe berühmter Komponisten Klavierkonzerte für die linke Hand bestellte - die er dann nicht selten in seinem Sinne zurechtstutzte. Paul ist eine interessante Figur, nicht zufällig Gegenstand literarischer Anverwandlungen, und seiner Biographie ließen sich manche Facetten abgewinnen, gerade auch wenn es um das gehobene Bürgertum Wiens, seine Musikkultur und den Stellenwert des Salons der Wittgensteins in der Alleegasse geht.
Tatsächlich steht Paul unübersehbar im Zentrum von Waughs Geschichte. Dagegen gibt es für Ludwig durchgehend nur Anmerkungen, die vor allem klarmachen, dass der Autor mit ihm nicht das Geringste anfangen kann. Wie es dieser offensichtliche Halbirre mit verklemmten Heiligkeitsbestrebungen eigentlich zu seiner Wirkung brachte und welchen Charakter sein Philosophieren ungefähr hatte: Von Waugh darf man sich dazu keinen Wink erwarten, bekommt dafür aber einschlägige Anekdoten ohne weiteren Aufwand serviert.
Nun könnte man dieses Ungleichgewicht vielleicht beiseite setzen mit dem Hinweis, dass diese Familie selbst dann, wenn man von Ludwigs und Pauls verschiedenen Arten des Virtuosentums absieht, nicht irgendeine war und sich deshalb an ihr einiges vor Augen führen lässt: von den Bedingungen des Industrierittertums am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die kulturelle Verausgabung großbürgerlicher Art bis zum Funktionieren des Räderwerks der nationalsozialistischen Rassengesetze, in das diese Familie geriet.
Aber auch in dieser Hinsicht wird man mit Waugh nicht glücklich. Zu sehr klappert es, wenn es um die dafür geforderte Verknüpfung der individuellen Geschichten mit den Kontexten geht. Ludwig meldet sich nach Kriegsausbruch freiwillig zur Armee: "Wie viele junge Männer in Deutschland von 1914 war Ludwig geistig erschöpft und sehnte sich nach Veränderung." Über Pauls erotische Eskapaden: "Allem Anschein nach waren die Frauen Wiens in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Paul die Pubertät erreichte, besonders attraktiv." Kakaniens tiefgehende Probleme: "Eine charakteristische Eigenart der Stimmungslage in den letzten Dekaden der Donaumonarchie war die Tatsache, dass die Gesellschaft sich schwertat, den Fähigkeiten junger Männer Vertrauen zu schenken." Vielleicht, möchte man sagen, aber etwas genauer würde man das doch gern haben.
Vor solchem Hintergrund ist man dann bereits wieder erleichtert, wenn Waugh zu konkreten Begebnissen im Leben der Wittgensteins zurückkehrt. Aber man hätte ihnen doch einen anderen Biographen gewünscht, mit mehr Geduld, Kenntnissen und Sinn für Zwischentöne.
HELMUT MAYER
Alexander Waugh: "Das Haus Wittgenstein". Geschichte einer ungewöhnlichen Familie. Aus dem Englischen von Susanne Röckel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 439 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander Waugh schwingt sich zum Biographen der Familie von Paul und Ludwig Wittgenstein auf
"Bei der unglaublichen Bekanntheit unseres Namens, dessen einzige Träger wir in Österreich sind, . . . ist es ausgeschlossen, wirklich vollkommen ausgeschlossen, dass ein Mensch der unseren Namen trägt, und dem man die vornehme und feine Erziehung auf tausend Schritte ansieht, nicht als ein Mitglied unserer Familie erkannt werde. Selbst eine Änderung Deines Namens als Ultima ratio würde Dir nichts nützen. Es ist das eine Sache, so hart sie sein mag, mit der Du Dich vertraut machen mußt."
Es war ein ungewöhnlicher Brief, der im Winter 1921 von einem Wiener Stadtpalais in das Dörfchen Trattenbach im nahen Alpenvorland ging. Geschrieben hat ihn Paul Wittgenstein an seinen Bruder Ludwig, der kurz zuvor versucht hatte, eine Dorfschullehrerstelle unter falschem Namen anzutreten, erkannt worden war, darauf zurücktrat und damit die Gerüchte über seine seltsamen Anwandlungen erst recht in Umlauf gebracht hatte. Die nächste Stelle trat der Sohn aus einer der reichsten Familien der ehemaligen Monarchie dann unter richtigem Namen an, lebte bescheiden, doch nicht in der gesuchten Ruhe des Gemüts und fand die Trattenbacher genauso unerträglich wie später die Puchberger. Als er einige Jahre später nach Cambridge ging, wo er vor dem Ersten Weltkrieg studiert hatte, war er dort eindeutig besser aufgehoben.
Und weil er dort auch zu einem der wichtigsten und bis heute weit über alle akademischen Einhegungen ausstrahlenden Philosophen des letzten Jahrhunderts wurde, dürfen selbst die Trattenbacher Episode und der zugehörige Familienbriefwechsel unser Aufmerksamkeit beanspruchen. Wenn Alexander Waugh Pauls Brief auf halber Strecke seines Buchs über die Familie Wittgenstein zitiert, bekommt diese Angelegenheit allerdings fast die Anmutung, dass Ludwig hier erfolglos versucht habe, dem Fluch des "Hauses Wittgenstein" zu entgehen. Denn was der englische Musikkritiker und Publizist bis dahin ausgebreitet hat, läuft auf eine dunkle Geschichte hinaus, deren Bestimmungsstücke der Schatten eines Patriarchen, fragile Seelenhaushalte, verstiegene Vorstellungen, Depressionen und Selbstmorde sind.
Nun lässt sich an den Selbstmorden von zwei oder vielleicht sogar drei Brüdern Pauls und Ludwigs nicht rütteln, sind insbesondere sie und ihre Schwester Gretel, spätere Stonborough, keine Musterbilder temperierten Selbstregimes gewesen und war der Seelenhaushalt Ludwigs gewiss eine äußerst verquere Sache. Aber diese auf den ersten Blick fatal anmutenden Züge einer Familiengeschichte gewinnen nur an Interesse, weil sie beeindruckende Figuren hervorbrachte. Mit scharfkantigem Individualismus, Obsessionen, künstlerischer Begabung, Witz und in einem Fall dazu auch noch schlicht mit Genialität.
Wie das zuging und worin das Ungewöhnliche bestand, das müsste eine Familiengeschichte der Wittgensteins halbwegs fassbar werden lassen. Aber Alexander Waugh stehen die Mittel dafür nicht zu Gebote. Er hält sich zumeist mit ausgeprägtem Sinn fürs Holzschnitthafte an leicht traktierbare Oberflächen und erstaunlich lieblos und ohne viel Sinn für Gewichtungen wirkt, wie er sich damit vom rasanten Aufstieg des Vaters Karl Wittgenstein zum schwerreichen Stahlmagnaten bis zum Tod Pauls Anfang der sechziger Jahre durchschlägt.
Was ihm dabei vorschwebte, ist gar nicht so leicht zu erraten. Die nächstliegende Vermutung ist, dass er sich ursprünglich für den Pianisten Paul zu interessieren begann, der trotz des Verlusts seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg seine Karriere als Pianist fortsetzte und dafür bei einer Reihe berühmter Komponisten Klavierkonzerte für die linke Hand bestellte - die er dann nicht selten in seinem Sinne zurechtstutzte. Paul ist eine interessante Figur, nicht zufällig Gegenstand literarischer Anverwandlungen, und seiner Biographie ließen sich manche Facetten abgewinnen, gerade auch wenn es um das gehobene Bürgertum Wiens, seine Musikkultur und den Stellenwert des Salons der Wittgensteins in der Alleegasse geht.
Tatsächlich steht Paul unübersehbar im Zentrum von Waughs Geschichte. Dagegen gibt es für Ludwig durchgehend nur Anmerkungen, die vor allem klarmachen, dass der Autor mit ihm nicht das Geringste anfangen kann. Wie es dieser offensichtliche Halbirre mit verklemmten Heiligkeitsbestrebungen eigentlich zu seiner Wirkung brachte und welchen Charakter sein Philosophieren ungefähr hatte: Von Waugh darf man sich dazu keinen Wink erwarten, bekommt dafür aber einschlägige Anekdoten ohne weiteren Aufwand serviert.
Nun könnte man dieses Ungleichgewicht vielleicht beiseite setzen mit dem Hinweis, dass diese Familie selbst dann, wenn man von Ludwigs und Pauls verschiedenen Arten des Virtuosentums absieht, nicht irgendeine war und sich deshalb an ihr einiges vor Augen führen lässt: von den Bedingungen des Industrierittertums am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die kulturelle Verausgabung großbürgerlicher Art bis zum Funktionieren des Räderwerks der nationalsozialistischen Rassengesetze, in das diese Familie geriet.
Aber auch in dieser Hinsicht wird man mit Waugh nicht glücklich. Zu sehr klappert es, wenn es um die dafür geforderte Verknüpfung der individuellen Geschichten mit den Kontexten geht. Ludwig meldet sich nach Kriegsausbruch freiwillig zur Armee: "Wie viele junge Männer in Deutschland von 1914 war Ludwig geistig erschöpft und sehnte sich nach Veränderung." Über Pauls erotische Eskapaden: "Allem Anschein nach waren die Frauen Wiens in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Paul die Pubertät erreichte, besonders attraktiv." Kakaniens tiefgehende Probleme: "Eine charakteristische Eigenart der Stimmungslage in den letzten Dekaden der Donaumonarchie war die Tatsache, dass die Gesellschaft sich schwertat, den Fähigkeiten junger Männer Vertrauen zu schenken." Vielleicht, möchte man sagen, aber etwas genauer würde man das doch gern haben.
Vor solchem Hintergrund ist man dann bereits wieder erleichtert, wenn Waugh zu konkreten Begebnissen im Leben der Wittgensteins zurückkehrt. Aber man hätte ihnen doch einen anderen Biographen gewünscht, mit mehr Geduld, Kenntnissen und Sinn für Zwischentöne.
HELMUT MAYER
Alexander Waugh: "Das Haus Wittgenstein". Geschichte einer ungewöhnlichen Familie. Aus dem Englischen von Susanne Röckel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 439 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Eberhard Straub hat Alexander Waughs Biografie der Familie Wittgenstein mit großem Interesse gelesen. Das scheint ihn selbst ein bisschen zu überraschen, denn Engländer, weiß Straub seine Leser zu bescheiden, neigen in ihrer "Freude an individuellen Arabesken" zum Pointilisimus. Ausfürhlich erzählt Straub die Geschichte der Familie nach, angefangen beim Patriarchen Karl Wittgenstein, einer Art österreichischem Krupp, der neun Kinder in die Welt setzte und sie mit seinem herrischen Wesen zu menschenscheuen, nervösen oder hysterischen Menschen machte. Finanziell abgesichert waren sie allenfalls innerlich vollbeschäftigt. Leben, erklärt Straub, war für sie keine Reihe von Handlungen, sondern von Zuständen. Sein musikalisches Talent vererbte er jedoch nicht nur dem Pianistensohn Paul, sondern allen Familienmitgliedern, natürlich auch dem Philosophen Ludwig Wittgenstein. Beklommen erzählt Straub auch von dem Schicksal der jüdischen, aber bis zur Selbstverleugnung assimilierten Familie unter NS-Herrschaft: Sie gab viel Geld, um sich den halbwegs sicheren Status einer "Mischlingsfamilie" zu erhalten, durfte deshalb auch ihre Schlösser und Paläste behalten - und tat nichts für andere verfolgte Juden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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