Als der Pulitzer-Preisträger Will Navidson mit seiner Frau und den beiden Kindern in das Haus zieht, ahnt er nicht, wie hier sein Leben aus den Fugen geraten wird. Ganz beiläufig filmt er die alltäglichen Vorgänge in den Zimmern und Fluren; ganz beiläufig muss er feststellen, dass dieses Haus über Räume verfügt, die kein Grundriss verzeichnet.
Nachdem er bei einer ersten Erkundung dieser Räume fast den Rückweg nicht mehr findet, holt er Hilfe - ein Ingenieur und ein professioneller Höhlenforscher sollen die unermesslichen Räume im Hausinneren erforschen helfen. Und immer läuft die Kamera mit - und zeichnet auf, was über den Verstand aller Beteiligten geht und ganze Generationen von Filmkritikern und Kinogängern schaudern lassen wird.
Nachdem er bei einer ersten Erkundung dieser Räume fast den Rückweg nicht mehr findet, holt er Hilfe - ein Ingenieur und ein professioneller Höhlenforscher sollen die unermesslichen Räume im Hausinneren erforschen helfen. Und immer läuft die Kamera mit - und zeichnet auf, was über den Verstand aller Beteiligten geht und ganze Generationen von Filmkritikern und Kinogängern schaudern lassen wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2007Großes Gegrusel mit Gott
Die Freuden der Komplexität: Mark Z. Danielewskis voluminöser Horrorroman „Das Haus” / Von Georg Klein
Energetisch gesehen gibt es für den Leser zwei Arten von sehr dicken Romanen: Zum einen die süffigen Schmöker, die versprechen, viel Lesezeit mit wenig Kraftaufwand durchmessen zu dürfen. Räumlich könnte man solche Bücher mit einer langen Rutschbahn vergleichen. Draufsetzen und loslassen! Alles Weitere erledigen das erzählerische Gefälle und die genreüblichen Gleitmittel. Daneben gibt es aber auch Wälzer, die nicht mit flotter Gängigkeit, sondern mit deren Gegenteil, mit Widerstand, Verzögerung und langwieriger Anstrengung locken. Wer sich auf einen solchen Leseweg begibt, wählt einen Trimm-dich-Parcours für Fortgeschrittene und ist sogar bereit, mit einer speziellen Wollust an der eigenen Kondition zu leiden.
Mark Z. Danielewskis Roman „Das Haus” ist nicht nur dick, sondern auch kompliziert. Dabei gibt es einen zentralen Plot, der alle Voraussetzungen für ein zügiges Wegschmökern mitbringt. Eine vierköpfige Familie, die Navidsons, verlässt Anfang der neunziger Jahre New York, um in Virginia ein altes Haus zu beziehen. Schnell kulminieren unheimliche Begebenheiten. Durch einen wie aus dem Nichts entstandenen Korridor lässt sich ein völlig finsteres, eiskaltes Riesengebäude betreten, das dem Häuschen, von außen unerkennbar, anhängt. Dieses Haus-am-Haus lebt. Unvorhersehbar verändert es seine Struktur und scheint durch sein Wuchern, Dehnen und Schrumpfen auf diejenigen zu reagieren, die es zu erkunden wagen. Was dabei im Einzelnen geschieht, ist weit origineller und vertrackter, als es eine Zusammenfassung wiedergeben kann, und weil es zudem wirklich spannend erzählt wird, soll kein wichtiges Detail der Exkursionen, die Will Navidson und andere wagen, verraten werden.
Was ein Blinder sieht
Neben der fast klassischen Haunted-House-Story, der Geschichte vom verfluchten Haus, bietet Danielewski noch eine umfangreiche zweite Handlung auf. Sechs Jahre nach dem Geschehen um das Spukhaus gerät in Kalifornien ein junger Mann namens Johnny Truant in eine tiefe existentielle Krise. Truant, der in einem Tätowierladen jobbt und seine freie Zeit mit Drogen und schnellem Sex herumkriegt, ist hochsensibel und künstlerisch begabt, hat eine traumatische Kindheit hinter sich, und so braucht es nur noch einen letzten Kick, dass sein Leben aus der Spur springt. Der Roman schließt die beiden Ereigniskomplexe kurz, und als Verbindungsstück dient ihm – dies hat eine lange Tradition – in Gestalt eines Manuskripts die Literatur selbst.
Truant fällt eine wüste Blätter- und Zettelsammlung aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Greises namens Zampanò in die Hände. Kernstück dieser Papiere ist der sogenannte „Navidson-Report”, in dem Zampanò erzählt, was der Familie Navidson in Virginia zugestoßen ist. Ein Buch im Buch also, aber mit dieser einmaligen Verschachtelung lässt es Danielewski nicht bewenden. Der Navidson-Report tritt nämlich nicht als direkte Chronik realer Ereignisse vor uns, sondern als Nacherzählung eines Films. Will Navidson hat, nachdem er mit Frau und Kindern ins Spukhaus gezogen war, die dortigen Ereignisse akribisch auf Zelluloid und Video gebannt. Navidson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Fotoreporter, und mit dem Navidson-Report scheint ihm auf Anhieb ein Meisterwerk des Dokumentarfilms gelungen zu sein.
Den Rang dieses Werks bezeugt die gewaltige Rezeption, die der Film binnen weniger Jahre in der Kritik und in allen möglichen Wissenschaften erfahren hat. Die 450 Fußnoten des Romans geben hierin einen Einblick. Zum größten Teil stammen sie von Zampanò, der in ihnen auf ausgewählte Sekundärliteratur verweist und auch ausführlich aus ihr zitiert. Dazu kommen noch Anmerkungen von Johnny Truant, und Anmerkungen der anonymen Herausgeber, die Truants Werk, also die kombinierten Geschichten der beiden, in Druck gebracht haben. Im Anhang finden sich des Weiteren Dokumente aus beider Leben: Manuskriptfragmente, Zeichnungen, Fotos und Briefe. Eine zusätzliche Dimension der Darstellung öffnet sich im Druckbild des Romans. Es werden verschiedene Schrifttypen und -größen verwendet. Manchmal erscheint der Text in Spalten oder Kästen. Man muss rückwärts lesen oder zwischen den Zeilen hin und her hüpfen – von weiteren den Lesefluss stauenden Einfällen ganz zu schweigen.
Behält man rigoros die Handlung im Auge, werden einem, in wechselnd langen Teilstücken, drei Ebenen „wirklichen” Lebens geboten: die Erlebnisse der Familie Navidson, das allmähliche Ausflippen des jungen Truant und Bruchstücke aus dem Dasein des mysteriösen Zampanò. Allerdings stellt Danielewski den Wirklichkeitscharakter aller drei Dimensionen von Anfang an regelmäßig in Frage. Truant kann bei seinen Recherchen keinen Hinweis darauf finden, dass der angeblich berühmte Film tatsächlich existiert. Viele der in Zampanòs gelehrten Anmerkungen zitierten wissenschaftlichen Werke sind offensichtlich erfunden. Zampanò war zudem die letzten vierzig Jahren seines Lebens blind. Er kann den Film, den er nacherzählt und kommentiert, so es ihn denn gäbe, nie gesehen haben.
Auch Truant selbst ist ein fragwürdiger Erzähler. Gleich zu Beginn des Romans erweist er sich als notorischer Schwindler, als einer, der Geschichten aus seinem Leben gerne so zurechtlügt, dass er damit maximalen Eindruck bei den Zuhörern erzielen kann. Außerdem leidet er während seiner Arbeit über Zampanòs Zetteln zunehmend an Angstattacken und Wahnvorstellungen. Einiges deutet sogar daraufhin, dass er den Navidson-Report in einem kreativen Delirium selbst verfasst haben könnte. Diese und zahlreiche weitere Fragwürdigkeiten werden dem Leser manchmal diskret, oft wie auf dem Präsentierteller serviert. Dabei lässt sich nicht alles, was die Authentizität des Geschilderten in Frage stellt, auf die Konten der beiden fiktiven Autoren Zampanò und Truant verbuchen, manches geht zu Lasten der waghalsigen, nicht immer glatt verfugten Konstruktion des Überautors Mark Z. Danielewski.
Das Grauen und die Maschine
Wer es als Romancier frontal darauf anlegt, die Wirklichkeitsillusion des Lesers zu frustrieren, spielt ein riskantes Spiel. Letztlich hofft er, dass die hauchdünne bleiche Larve, mit der jede Fiktion das banale Bastlertum des erfindenden Autors verbirgt, an Liebreiz gewinnt, wenn sie mit dem Rouge ironischer Relativierung aufgeschminkt wird. Solche Texte sagen dann mit artistischer Koketterie: „Guckt mal, ich bin nur erfunden, aber ist nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt?” Kleine Glanzstücke dieses Spiels mit Wirklichkeitsillusion und Desillusionierung finden sich im Navidson-Report. Die Idee, das Kernstück des Plots, die eigentliche Horrorhandlung, als Abriss eines Dokumentarfilms zu erzählen, geht verblüffend gut auf. Die Beschreibung der Technik, der verschiedenen Kameras und Beleuchtungsutensilien, die fachmännische Reflexion über deren Potenz und über die gewonnenen Resultate erzeugen eine eigene Aura von Wirklichkeit. Im Griff der Geräte bekommen die Körper der wagemutigen Spukhauserforscher eine schmerzhafte Präsenz. Selbst das bis zuletzt gestaltlos bleibende Grauen bekommt eine eigentümlich technologische Kontur. Die bildgebenden Maschinen scheinen auf suggestive, fast magische Weise Garanten für die Authentizität jedweden Geschehens.
Am anderen Ende der Wirkungsskala liegt das Tischfeuerwerk aus Belesenheit und interpretatorischer Schläue, das in den Anmerkungen und auch im Erzähltext abgebrannt wird. Allein die Erfindung der Titel, die die wissenschaftlichen Bücher, Aufsätze, die Fernseh- und Rundfunkbeiträge tragen, strotzt vor Gescheitheit und protzt zugleich mit einem Witz, der die Welt der Theorie aufs Korn nimmt. Selbst einen, der selbst lange, lernend oder lehrend, akademisch gelitten hat, wird dieses Spiel mit wirklichem oder vorgetäuschtem Wissen irgendwann ermüden. Natürlich gibt es Zeitgenossen, die erwarten, dass ein schwieriges Buch auch die Spannbreite möglicher Deutung in irgendeinem Theorie-Kauderwelsch zur Schau stellt. Aber die allzu freigiebige Befriedigung dieses Anspruchs wird zuletzt den Herzmuskel des Lesens, die Phantasie, lähmen.
Der starke Leser denkt gern selbst. Ungut pompös erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen direkten Bezugnahmen auf Werke der Weltliteratur, oft sogar in der Originalsprache. Wessen Bildung wird hier, für oder gegen wen, in Stellung gebracht? Der Anhang bringt unter der Überschrift „Diverse Zitate” noch einmal zwanzig gewichtige Namen, von Homer bis Derrida, und es entsteht der Verdacht, dass der Autor mit einem finalen Schlag entweder alle weniger Belesenen vollends einschüchtern oder uns auf dem Wege der intellektuellen Anbiederung in den Kreis der Eingeweihten, in die Gemeinde der Fans einbinden will.
Die schaurigen Prüfungen
Aber halb so schlimm! Dieses dicke Buch kann dem, der bis auf seine letzten Seiten gelangt, eine Menge Freude bereiten. In der Bewältigung seiner Komplexität genießt unser mentales System sich selbst, es freut sich an der eigenen Vielschichtigkeit, und unser Ego darf stolz sein auf sein Durchhaltevermögen. Unserem Ich bietet das Figurenaufgebot darüber hinaus wunderbare Möglichkeiten der Identifikation. Die Navidsons stehen samt dem zu Hilfe herbeigeeilten Onkel anrührend tapfer füreinander ein. Die Familie, der harte Kern des amerikanischen Selbstbilds, überdauert mit heroischem Opfermut die wahrlich schaurigen Prüfungen, die ihr das Haus auferlegt. Wer jung ist, kann sich speziell Johnny Truant zu Herzen nehmen. Er ist der gefährdete Jüngling, der ums Haar an seiner Sensibilität zerbricht, dann aber über Zampanòs Zetteln selbst zum Künstler, zum wortmächtigen Schriftsteller wird und als Gesellenstück seine traumatische Kindheit in Erzählung verwandelt.
Süßer noch als ein solcher Gleichklang mit den Figuren ist jedoch die Identifikation mit dem, der sie erdacht hat. Denn einfach alles, was einem wichtig erscheint, in einen 800-Seiten-Wälzer zu packen, die Welt und ihre Vergangenheit, Raum und Zeit, die liebe Kunst samt der nicht ganz so geliebten Kritik der Kunst, das muss sich anfühlen wie Gott-Sein. Mehr noch als ein Horror-Roman erscheint mir „House of the Leaves” deshalb ein Künstlerroman. Und die Grandiosität, zu der sich seine Verfasser, die fiktiven wie der authentische, aufschwingen, schreckt vor letzten theologischen Höhen nicht zurück. Gott kommt in diesem Roman, recht gruselig und zugleich ironisch-theoretisch gebrochen, selbstverständlich auch vor.
MARK Z. DANIELEWSKI: Das Haus. House of the Leaves, aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 797 S., 29,90 Euro.
Von Georg Klein erschien zuletzt der Roman „Sünde Güte Blitz” (2007).
Dem Häuschen, von außen unerkennbar, hängt ein kaltes, finsteres, lebendiges Riesengebäude an. Foto: Bernd Arnold/Visum
Ist das nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt: Mark Z. Danielewski ist ein Meister des Komplizierten und behält doch die Kontrolle. Foto: Getty Images
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die Freuden der Komplexität: Mark Z. Danielewskis voluminöser Horrorroman „Das Haus” / Von Georg Klein
Energetisch gesehen gibt es für den Leser zwei Arten von sehr dicken Romanen: Zum einen die süffigen Schmöker, die versprechen, viel Lesezeit mit wenig Kraftaufwand durchmessen zu dürfen. Räumlich könnte man solche Bücher mit einer langen Rutschbahn vergleichen. Draufsetzen und loslassen! Alles Weitere erledigen das erzählerische Gefälle und die genreüblichen Gleitmittel. Daneben gibt es aber auch Wälzer, die nicht mit flotter Gängigkeit, sondern mit deren Gegenteil, mit Widerstand, Verzögerung und langwieriger Anstrengung locken. Wer sich auf einen solchen Leseweg begibt, wählt einen Trimm-dich-Parcours für Fortgeschrittene und ist sogar bereit, mit einer speziellen Wollust an der eigenen Kondition zu leiden.
Mark Z. Danielewskis Roman „Das Haus” ist nicht nur dick, sondern auch kompliziert. Dabei gibt es einen zentralen Plot, der alle Voraussetzungen für ein zügiges Wegschmökern mitbringt. Eine vierköpfige Familie, die Navidsons, verlässt Anfang der neunziger Jahre New York, um in Virginia ein altes Haus zu beziehen. Schnell kulminieren unheimliche Begebenheiten. Durch einen wie aus dem Nichts entstandenen Korridor lässt sich ein völlig finsteres, eiskaltes Riesengebäude betreten, das dem Häuschen, von außen unerkennbar, anhängt. Dieses Haus-am-Haus lebt. Unvorhersehbar verändert es seine Struktur und scheint durch sein Wuchern, Dehnen und Schrumpfen auf diejenigen zu reagieren, die es zu erkunden wagen. Was dabei im Einzelnen geschieht, ist weit origineller und vertrackter, als es eine Zusammenfassung wiedergeben kann, und weil es zudem wirklich spannend erzählt wird, soll kein wichtiges Detail der Exkursionen, die Will Navidson und andere wagen, verraten werden.
Was ein Blinder sieht
Neben der fast klassischen Haunted-House-Story, der Geschichte vom verfluchten Haus, bietet Danielewski noch eine umfangreiche zweite Handlung auf. Sechs Jahre nach dem Geschehen um das Spukhaus gerät in Kalifornien ein junger Mann namens Johnny Truant in eine tiefe existentielle Krise. Truant, der in einem Tätowierladen jobbt und seine freie Zeit mit Drogen und schnellem Sex herumkriegt, ist hochsensibel und künstlerisch begabt, hat eine traumatische Kindheit hinter sich, und so braucht es nur noch einen letzten Kick, dass sein Leben aus der Spur springt. Der Roman schließt die beiden Ereigniskomplexe kurz, und als Verbindungsstück dient ihm – dies hat eine lange Tradition – in Gestalt eines Manuskripts die Literatur selbst.
Truant fällt eine wüste Blätter- und Zettelsammlung aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Greises namens Zampanò in die Hände. Kernstück dieser Papiere ist der sogenannte „Navidson-Report”, in dem Zampanò erzählt, was der Familie Navidson in Virginia zugestoßen ist. Ein Buch im Buch also, aber mit dieser einmaligen Verschachtelung lässt es Danielewski nicht bewenden. Der Navidson-Report tritt nämlich nicht als direkte Chronik realer Ereignisse vor uns, sondern als Nacherzählung eines Films. Will Navidson hat, nachdem er mit Frau und Kindern ins Spukhaus gezogen war, die dortigen Ereignisse akribisch auf Zelluloid und Video gebannt. Navidson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Fotoreporter, und mit dem Navidson-Report scheint ihm auf Anhieb ein Meisterwerk des Dokumentarfilms gelungen zu sein.
Den Rang dieses Werks bezeugt die gewaltige Rezeption, die der Film binnen weniger Jahre in der Kritik und in allen möglichen Wissenschaften erfahren hat. Die 450 Fußnoten des Romans geben hierin einen Einblick. Zum größten Teil stammen sie von Zampanò, der in ihnen auf ausgewählte Sekundärliteratur verweist und auch ausführlich aus ihr zitiert. Dazu kommen noch Anmerkungen von Johnny Truant, und Anmerkungen der anonymen Herausgeber, die Truants Werk, also die kombinierten Geschichten der beiden, in Druck gebracht haben. Im Anhang finden sich des Weiteren Dokumente aus beider Leben: Manuskriptfragmente, Zeichnungen, Fotos und Briefe. Eine zusätzliche Dimension der Darstellung öffnet sich im Druckbild des Romans. Es werden verschiedene Schrifttypen und -größen verwendet. Manchmal erscheint der Text in Spalten oder Kästen. Man muss rückwärts lesen oder zwischen den Zeilen hin und her hüpfen – von weiteren den Lesefluss stauenden Einfällen ganz zu schweigen.
Behält man rigoros die Handlung im Auge, werden einem, in wechselnd langen Teilstücken, drei Ebenen „wirklichen” Lebens geboten: die Erlebnisse der Familie Navidson, das allmähliche Ausflippen des jungen Truant und Bruchstücke aus dem Dasein des mysteriösen Zampanò. Allerdings stellt Danielewski den Wirklichkeitscharakter aller drei Dimensionen von Anfang an regelmäßig in Frage. Truant kann bei seinen Recherchen keinen Hinweis darauf finden, dass der angeblich berühmte Film tatsächlich existiert. Viele der in Zampanòs gelehrten Anmerkungen zitierten wissenschaftlichen Werke sind offensichtlich erfunden. Zampanò war zudem die letzten vierzig Jahren seines Lebens blind. Er kann den Film, den er nacherzählt und kommentiert, so es ihn denn gäbe, nie gesehen haben.
Auch Truant selbst ist ein fragwürdiger Erzähler. Gleich zu Beginn des Romans erweist er sich als notorischer Schwindler, als einer, der Geschichten aus seinem Leben gerne so zurechtlügt, dass er damit maximalen Eindruck bei den Zuhörern erzielen kann. Außerdem leidet er während seiner Arbeit über Zampanòs Zetteln zunehmend an Angstattacken und Wahnvorstellungen. Einiges deutet sogar daraufhin, dass er den Navidson-Report in einem kreativen Delirium selbst verfasst haben könnte. Diese und zahlreiche weitere Fragwürdigkeiten werden dem Leser manchmal diskret, oft wie auf dem Präsentierteller serviert. Dabei lässt sich nicht alles, was die Authentizität des Geschilderten in Frage stellt, auf die Konten der beiden fiktiven Autoren Zampanò und Truant verbuchen, manches geht zu Lasten der waghalsigen, nicht immer glatt verfugten Konstruktion des Überautors Mark Z. Danielewski.
Das Grauen und die Maschine
Wer es als Romancier frontal darauf anlegt, die Wirklichkeitsillusion des Lesers zu frustrieren, spielt ein riskantes Spiel. Letztlich hofft er, dass die hauchdünne bleiche Larve, mit der jede Fiktion das banale Bastlertum des erfindenden Autors verbirgt, an Liebreiz gewinnt, wenn sie mit dem Rouge ironischer Relativierung aufgeschminkt wird. Solche Texte sagen dann mit artistischer Koketterie: „Guckt mal, ich bin nur erfunden, aber ist nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt?” Kleine Glanzstücke dieses Spiels mit Wirklichkeitsillusion und Desillusionierung finden sich im Navidson-Report. Die Idee, das Kernstück des Plots, die eigentliche Horrorhandlung, als Abriss eines Dokumentarfilms zu erzählen, geht verblüffend gut auf. Die Beschreibung der Technik, der verschiedenen Kameras und Beleuchtungsutensilien, die fachmännische Reflexion über deren Potenz und über die gewonnenen Resultate erzeugen eine eigene Aura von Wirklichkeit. Im Griff der Geräte bekommen die Körper der wagemutigen Spukhauserforscher eine schmerzhafte Präsenz. Selbst das bis zuletzt gestaltlos bleibende Grauen bekommt eine eigentümlich technologische Kontur. Die bildgebenden Maschinen scheinen auf suggestive, fast magische Weise Garanten für die Authentizität jedweden Geschehens.
Am anderen Ende der Wirkungsskala liegt das Tischfeuerwerk aus Belesenheit und interpretatorischer Schläue, das in den Anmerkungen und auch im Erzähltext abgebrannt wird. Allein die Erfindung der Titel, die die wissenschaftlichen Bücher, Aufsätze, die Fernseh- und Rundfunkbeiträge tragen, strotzt vor Gescheitheit und protzt zugleich mit einem Witz, der die Welt der Theorie aufs Korn nimmt. Selbst einen, der selbst lange, lernend oder lehrend, akademisch gelitten hat, wird dieses Spiel mit wirklichem oder vorgetäuschtem Wissen irgendwann ermüden. Natürlich gibt es Zeitgenossen, die erwarten, dass ein schwieriges Buch auch die Spannbreite möglicher Deutung in irgendeinem Theorie-Kauderwelsch zur Schau stellt. Aber die allzu freigiebige Befriedigung dieses Anspruchs wird zuletzt den Herzmuskel des Lesens, die Phantasie, lähmen.
Der starke Leser denkt gern selbst. Ungut pompös erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen direkten Bezugnahmen auf Werke der Weltliteratur, oft sogar in der Originalsprache. Wessen Bildung wird hier, für oder gegen wen, in Stellung gebracht? Der Anhang bringt unter der Überschrift „Diverse Zitate” noch einmal zwanzig gewichtige Namen, von Homer bis Derrida, und es entsteht der Verdacht, dass der Autor mit einem finalen Schlag entweder alle weniger Belesenen vollends einschüchtern oder uns auf dem Wege der intellektuellen Anbiederung in den Kreis der Eingeweihten, in die Gemeinde der Fans einbinden will.
Die schaurigen Prüfungen
Aber halb so schlimm! Dieses dicke Buch kann dem, der bis auf seine letzten Seiten gelangt, eine Menge Freude bereiten. In der Bewältigung seiner Komplexität genießt unser mentales System sich selbst, es freut sich an der eigenen Vielschichtigkeit, und unser Ego darf stolz sein auf sein Durchhaltevermögen. Unserem Ich bietet das Figurenaufgebot darüber hinaus wunderbare Möglichkeiten der Identifikation. Die Navidsons stehen samt dem zu Hilfe herbeigeeilten Onkel anrührend tapfer füreinander ein. Die Familie, der harte Kern des amerikanischen Selbstbilds, überdauert mit heroischem Opfermut die wahrlich schaurigen Prüfungen, die ihr das Haus auferlegt. Wer jung ist, kann sich speziell Johnny Truant zu Herzen nehmen. Er ist der gefährdete Jüngling, der ums Haar an seiner Sensibilität zerbricht, dann aber über Zampanòs Zetteln selbst zum Künstler, zum wortmächtigen Schriftsteller wird und als Gesellenstück seine traumatische Kindheit in Erzählung verwandelt.
Süßer noch als ein solcher Gleichklang mit den Figuren ist jedoch die Identifikation mit dem, der sie erdacht hat. Denn einfach alles, was einem wichtig erscheint, in einen 800-Seiten-Wälzer zu packen, die Welt und ihre Vergangenheit, Raum und Zeit, die liebe Kunst samt der nicht ganz so geliebten Kritik der Kunst, das muss sich anfühlen wie Gott-Sein. Mehr noch als ein Horror-Roman erscheint mir „House of the Leaves” deshalb ein Künstlerroman. Und die Grandiosität, zu der sich seine Verfasser, die fiktiven wie der authentische, aufschwingen, schreckt vor letzten theologischen Höhen nicht zurück. Gott kommt in diesem Roman, recht gruselig und zugleich ironisch-theoretisch gebrochen, selbstverständlich auch vor.
MARK Z. DANIELEWSKI: Das Haus. House of the Leaves, aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 797 S., 29,90 Euro.
Von Georg Klein erschien zuletzt der Roman „Sünde Güte Blitz” (2007).
Dem Häuschen, von außen unerkennbar, hängt ein kaltes, finsteres, lebendiges Riesengebäude an. Foto: Bernd Arnold/Visum
Ist das nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt: Mark Z. Danielewski ist ein Meister des Komplizierten und behält doch die Kontrolle. Foto: Getty Images
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als "maximal üppig" und überaus auf der Höhe der Zeit bewertet Rezensent Diedrich Diederichsen diesen Roman, dessen Handlung aus seiner Sicht "über die Hochebenen der Kulturtheorie" in typografische Labyrinthe und Textspiralen führt - anscheinend ohne je zu langweilen oder die Architektur des Romans auszuleiern. Vorwerfen kann Diederichsen dem Autor höchstens, dass er zu viel auf einmal wollte: nämlich Pynchon und Derrida imaginär applaudieren zu hören und es auch dem Klientel von "Blair Witch Project" recht zu machen. Das ausgiebige Fußnotenwesen des Buches dagegen gefällt dem Rezensenten sehr. Und die Geschichte sowieso, die anhand eines Fotografen, der mit zwei Kindern und seiner Model-Ehefrau ein Haus auf dem Land kauft und bezieht, Fragen und Debatten illustriert beziehungsweise an sie andockt, die gerade jetzt die Gegenwartskünste- und -diskurse massiv beschäftigen: nämlich "Sound, Raum und die strukturale Celebrity-Kultur"- was immer das zu bedeuten hat. Jedenfalls müssen die Diskurse und Handlungen im Roman derart plastisch Form annehmen, dass bei Diederichsen am Ende von einem "bewohnbaren Buch" die Rede ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"... "House of Leaves" erschien im Jahr 2000, hat in Amerika, den Niederlanden und Frankreich Kritikerbefremden und unter Lesern kultische Verehrung ausgelöst ... Das Buch bietet außer einer Handlung voll ineinandergreifender Zahnräder und unsichtbarer Klammern einen beispiellosen overkill typographischer Besonderheiten, von winzigen Fußnoten bis zu Textkästen in Spiegelschrift. ..." Dietmar Dath (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.2007) "Mark Z. Danielewskis brillant verrätselter Roman ... Das Spektrum seiner Stimmlagen und Erzähltechniken ist im Ergebnis sinnreiche Fülle statt hohler Prunk ..." Dietmar Dath (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2001)