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Am Beginn dieses Lebens ist Herbst, und Enten schwimmen auf dem Bad Nauheimer Teich. Der Erzähler erinnert sich an ein Paradies, ein Leben ganz ohne Menschen und Zwänge. Die ersten drei Jahre verlebt er bei seiner Urgroßmutter. Aber dann kommt der Einzug in das große, neue Haus der Familie, das dort gebaut worden ist, wo vormals die Apfelbäume standen. Das leere Haus wird zum Lebenszentrum des Kindes. Auf der Flucht vor dem grellen Küchenlicht des gemeinsamen Abendessens werden die unteren Regionen, die Kellerräume mit ihren Ölbrennern und Tankanlagen, zu seiner abgründigen Heimat. Das Kind…mehr

Produktbeschreibung
Am Beginn dieses Lebens ist Herbst, und Enten schwimmen auf dem Bad Nauheimer Teich. Der Erzähler erinnert sich an ein Paradies, ein Leben ganz ohne Menschen und Zwänge. Die ersten drei Jahre verlebt er bei seiner Urgroßmutter. Aber dann kommt der Einzug in das große, neue Haus der Familie, das dort gebaut worden ist, wo vormals die Apfelbäume standen. Das leere Haus wird zum Lebenszentrum des Kindes. Auf der Flucht vor dem grellen Küchenlicht des gemeinsamen Abendessens werden die unteren Regionen, die Kellerräume mit ihren Ölbrennern und Tankanlagen, zu seiner abgründigen Heimat. Das Kind spricht lange nicht, nimmt keinen Kontakt zu seiner Umwelt auf, wird zu Ärzten gebracht. Später fliegt der Keller als Raumschiff Enterprise in den Wetterauer Himmel, und der ältere Bruder ist der Kommandant. Während die Schwester, laut wie die Posaunen von Jericho, die Wände des Hauses zum Erzittern bringt.
Mit "Das Haus" setzt Andreas Maier konsequent fort, was er mit seinem Erfolgsroman "Das Zimmer" begonnen hat. Ein Buch, ein Haus, ein Leben, nahe herangezoomt, dann wieder fast klinisch sezierend auf Abstand gebracht und immer erfüllt von der Seele des Kindes und von dem vielleicht, was wir lange schon vergessen haben, auch wenn es einmal unser aller Ursprung gewesen ist.
Autorenporträt
Maier, Andreas
Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol, zurzeit in Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2011

Wie er jetzt wieder so apathisch in den Toast beißt

"Das Haus" ist Andreas Maiers Fortsetzung seiner Familiensaga aus der Wetterau. Hier macht sich der Erzähler auf die Suche nach der verlorenen Zeit der frühen Kindheit. Seine Madeleine ist die salzige Luft von Bad Nauheim.

Das Bild seiner Angst liegt vor dem Kind mit dem roten Lederranzen wie ein Gemälde von Brueghel. Es zeigt einen Schulhof mit Schülern, Lehrern und einem Schulhaus in einem Städtchen in der Wetterau Mitte der siebziger Jahre. Schon morgens im Bett ist der Junge wie gelähmt bei dem Gedanken an dieses Bild, und flehend hofft er, doch noch verschont zu werden und nicht hineingehen zu müssen in das Gemälde, weil alles nur ein schlimmer Traum war, eine Täuschung. Doch dann klingelt wie jeden Morgen um sieben der Wecker, und der Countdown beginnt, der den Kloß im Hals des Jungen mit jeder Minute größer werden lässt, bis schließlich die Schulglocke den letzten Akt in diesem frühmorgendlichen Drama einläutet.

Die Erinnerungen von Andreas Maiers Ich-Erzähler an die eigene Schulzeit beschreiben ergreifend und erschütternd ein kindliches Martyrium, das den Erwachsenen die meiste Zeit verborgen bleibt. Und wenn die Vielbeschäftigten es doch einmal bemerken und helfen wollen, reagieren sie meist überfordert auf das verstörte Kind, das all ihren Konventionen so entgegensteht. Die anderen Schüler freilich nehmen erst recht keine Rücksicht, im Gegenteil. Andi hat schon verloren, noch ehe er auf dem Pausenhof jeden Morgen aufs Neue um seinen Platz in der Hackordnung kämpfen muss. Er wird gehänselt und ausgelacht, geknufft und geschlagen. Zwischen den rauchenden Berufsschülern, die gegen den Jüngeren hetzen, und der hilflosen Pausenaufsicht irrt der Schüler über den Schulhof wie ein aus der Bahn geworfener Satellit: "Manchmal suchte ich Hilfe, indem ich durch das Tor des unteren Schulhofs auf die Straße hinauszutreten versuchte, um mich dort von einem Automobil überfahren zu lassen. Aber auch dort stand eine Aufsicht und achtete streng drauf, dass keines der Kinder das Schulgelände verließ."

Die Vertreibung aus dem Paradies der frühesten Kindheit, die Andreas Maier in seinem heute erscheinenden Roman beschreibt, könnte drastischer kaum ausfallen. Selten hat man den Verlust so glaubhaft aus kindlicher Perspektive erzählt bekommen. Es folgt einer zwingenden Logik, dass "Das Haus" auch strukturell in zwei fast gleichlange Hälften fällt, die mit "Drinnen" und "Draußen" überschrieben sind, wobei die räumliche Dimension hier eng mit der zeitlichen verzahnt ist. Im ersten Teil beschwört der Ich-Erzähler die ersten Jahre seines Lebens als eine Zeit des unbeschwerten, einfachen Glücks, freilich in dem Bewusstsein, dass er sich nicht selbst an die Momente erinnert, sondern sie nur aus den Überlieferungen der Familie kennt. Wie unzuverlässig diese als Erzählstimme ist, macht ihm als Erwachsenem dann zu schaffen: "Vielleicht bin ich anders aufgewachsen, als es die lieblichen Anekdoten erzählen."

Die frühen Jahre verbringt er oft an der Seite seiner Urgroßmutter Else, weil der Vater gerade Abteilungsleiter bei der Henninger Bräu AG in Frankfurt geworden ist und die wenige freie Zeit dem politischen Engagement widmet, während die Mutter nach dem Tod ihres Vaters den familieneigenen Steinmetzbetrieb übernommen hat. Else schiebt den Kinderwagen durch den Solgraben, sie füttern Enten am Teich und atmen die salzige Bad Nauheimer Luft. Während Andis Eintritt in die Welt unkompliziert gewesen sei, wie die Familienlegende berichtet, die Geburt ohne Komplikationen und bei schönem Wetter verlief und der Säugling in den ersten Wochen sein "sonniges Gemüt" präsentierte, kündigt sich das Drama des hypersensiblen Jungen schon mit dem Kindergarten an. Einen einzigen Tag lang hält Andreas es dort aus, das traumatische Erlebnis, das ihn unter Schock setzt, wird ihn sein Leben lang immer wieder heimsuchen: "Sie waren schnell, und sie handelten nach Gesetzen, die mir völlig verschlossen blieben. Diese Menschen waren eine Gruppe. Diese Gruppe funktionierte nach Regeln, die ich nicht kannte und die ich bis heute nicht kenne."

Erreicht er mit der Verweigerung des Kindergartens noch einmal drei Jahre Aufschub, so beginnt unter der Überschrift "Draußen" das qualvolle Dasein als Schüler. Alles Wünschen und Sehnen des Ich-Erzählers kreist fortan darum, wie er zu dieser kaum mehr erinnerten Welt von gestern zurückkommen kann. Danach richtet er als Erwachsener seine Wohnung ein, mit den Möbeln der Großeltern, deshalb wandelt er bis heute auf den Spuren von Else, als sie seinen Kinderwagen schob. Erst von dort, davon ist der Ich-Erzähler überzeugt, kann er alles Kommende aufbauen, die Kindheit, die Familie, die Umgebung.

Das Kind ist ein ähnlicher Außenseiter wie Onkel J. aus Andreas Maiers erstem Roman dieser auf elf Teile angelegten Familiensaga aus der Wetterau. "Das Zimmer" spielte an einem einzigen Tag im Jahr 1969 und zeichnete das Sittenbild einer provinziellen Bundesrepublik mit ihrem naiven Fortschrittsglauben, der in Nordhessen in Gestalt einer Umgehungsstraße sichtbar wurde. "Das Haus" rückt nun den Erzähler selbst samt seiner traumatischen Kindheit ins Zentrum, während Onkel J. nur am Rande auftaucht, als Verkörperung desjenigen, der die Einfachheit des kindlichen Daseins nie ganz verloren hat. Mit glaubwürdigem Ernst, sanfter Ironie und viel Liebe zum Detail erzählt "Das Haus" eine Geschichte, die von einer fatalen psychologischen Dynamik getragen wird. Es ist zu vermuten, dass sich darunter zahlreiche autobiographische Anspielungen des Romanciers finden.

Die Ursünde beging die Familie selbst, so der Ich-Erzähler, als sie 1970 in Friedberg ein neues Haus baute, eben jenes, auf das der Romantitel anspielt. Nicht zufällig bemüht Maier die christliche Ikonographie vom Garten Eden, wenn er beschreibt, wie für das neue Haus Apfelbäume abgesägt, Stallungen niedergerissen und Hühner geschlachtet werden müssen, um ins Erdreich, wo zuvor Sand, Farn und Laub war, Beton zu gießen. Und nicht nur die Familie soll im Mühlweg heimisch werden, auch dem Dienstwagen der Henninger AG wird eine Garage mit Heizung spendiert. Aller technischen Raffinesse zum Trotz, die das riesige Anwesen aus dem Keller befeuert, wird sich das jüngste Kind hier niemals geborgen fühlen. Nicht nur die freischwebende Treppe mit den Marmorplatten, die sich auf dem Fußboden fortsetzen, lässt es frösteln. "Seitdem wir in dem neuen Haus wohnten, änderten sich die Gespräche über mich", schreibt Maier lapidar. Sie klingen nun nicht mehr lieblich, dafür fangen die Arztbesuche an. Da das Kind nicht spricht, fürchtet man eine Krankheit.

Zu den bedrückendsten Erfahrungen dieser Lektüre gehört, dass es hier, anders als in Jugenddramen wie "Unterm Rad" oder "Frühlings Erwachen", keine leibhaftigen Glücksverhinderer gibt, die das Kind willentlich quälen oder malträtieren. Im Gegenteil bemühen sich die Eltern immer wieder um Andreas. "Faul ist er nicht, dumm auch nicht, aber er zieht sich immer so zurück", sagen sie und meinen es durchaus aufmunternd. Und wenn der Psychologe sagt, das Nichtreden sei Folge mangelnden Augenkontakts, werfen sie Andreas prompt intensivste Blicke zu.

Anders als bei Onkel J., dessen Schwachsinn offiziell bestätigt ist, wollen oder können sie die Fremdheit ihres Kindes nicht verstehen oder akzeptieren. So bleibt ihnen der Weg zu einem tieferen Verständnis für Andreas versperrt. "Wie er jetzt wieder so apathisch in seinen Toast beißt!", seufzt die Mutter nur. Doch was klingt, als sei es nur so dahingesagt, trifft das Kind wie ein Faustschlag. Über dessen Folgen wird Andreas Maier in seinen nächsten Werken sicher noch vieles zu schreiben haben.

SANDRA KEGEL.

Andreas Maier: "Das Haus". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 166 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Eingenommen ist Jörg Magenau von Andreas Maiers autobiografisch gefärbtem neuen Roman. "Das Haus" ist für ihn ein Kindheitsroman, der sich in seinen Augen von den zahllosen Familien-, Erinnerungs- und Provinzromanen der letzten Jahre deutlich abhebt. Das Verhalten des kindlichen Ichs, um das der Roman kreist, ließe sich nach Magenau als autistische Störung beschreiben, wobei er hervor hebt, dass Literatur kein "psychiatrisches Gutachten" ist. Viel wichtiger erscheint ihm ohnehin, wie Maier das Empfinden dieses Kindes erfasst. Und das gelingt dem Autor nach Magenaus Dafürhalten überzeugend. Im Kern handelt das Buch für ihn von der Sehnsucht nach dem Urzustand des Geborgenseins und vom diffusen Gefühl, "in der Welt zu sein". Das Fazit des Rezensenten: ein "großes Buch".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Das Zimmer und Das Haus sind einzigartige Romane, geschrieben mit jener Besessenheit, die große Literatur ausmacht. Die Evokation von Kindheitsräumen, in denen Weltbilder entstehen, gelingt erzählerisch und sprachlich so überzeugend, dass man die nächsten Bände herbeisehnt und die meisten der generationenübergreifenden Familienepen, die den Buchmarkt derzeit überschwemmen, liebend gern zur Seite legt.« Rainer Moritz Neue Zürcher Zeitung 20120204
»Mit der Entwicklung eines eigenes Bewusstseins von seiner Existenz als Einzelner in einer Welt, deren Spielregeln er nicht versteht, gerät der Erzähler später in eine tragische Außenseiterposition. Wie Maier sich dabei in die Seelenlandschaft seiner Hauptfigur hineinschreibt, ist große Kunst und macht mehr als neugierig auf den nächsten Band seiner hessischen Familiensaga.«