Die "Armada der letzten Chance", eine Flotte aus rostigen Schiffen mit einer Million verhungernder Inder an Bord sticht in See, um im reichen Europa Rettung und eine neue Heimat zu suchen. Sie bildet die Vorhut weiterer unzähliger Massen aus der Dritten Welt, die denselben Weg aus dem Elend wählen werden. Das realitätsblind gewordene Abendland reagiert auf diese drohende, waffenlose Invasion mit einem utopisch-humanitären Taumel, der letztlich seinen Untergang zur Folge hat: innerlich zerfressen von Selbstverachtung, schlechtem Gewissen und schwindendem Selbstbehauptungswillen ist der europäische Kontinent nicht mehr imstande, das Eigene zu verteidigen.Der legendäre, bitterböse, prophetische Kultroman von Jean Raspail aus dem Jahr 1973, in Frankreich ein bis heute vieldiskutierter Bestseller. Die über das Mittelmeer verlaufenden Schlepperrouten und die Bilder überfüllter Boote, die "Willkommenskultur", die keine persönliche, sondern eine institutionell-opportune ist - all das istim Heerlager der Heiligen dystopisch vorweggenommen und in Szenen von starker Präsenz umgesetzt.Raspails Roman war in Deutschland lange vergriffen und ist nun endlich wieder erhältlich - in einer neuen, erstmals vollständigen Übersetzung von Martin Lichtmesz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2019Gute Männer, die nichts unternehmen
Im "Heerlager der Heiligen" beschrieb Jean Raspail die Ohnmacht des Westens vor der Migration. Die Ruhrfestspiele können mit der Vorlage wenig anfangen.
Im Jahr 1973 erschien beim französischen Verlag Robert Laffont ein Buch, das von hohen Wellen träumte und ebensolche schlug. Jean Raspails "Heerlager der Heiligen" imaginiert ein Meer, das lange still daliegt und sich von einer Flotte heruntergekommener Handelskähne mühelos überqueren lässt. An Bord befinden sich achthunderttausend arme Inder. Eine "Armada der letzten Chancen", die sich von Kalkutta aufmacht, am Suezkanal nicht durchgelassen und von Südafrika vertrieben wird und schließlich an der Côte d'Azur ankommt, wo sie vom französischen Volk mit offenen Armen empfangen wird. Erst als die Migranten an Land gegangen sind, beginnen die Wellen wieder zu schlagen. Dann ist die Rache der dritten an der ersten Welt vollbracht.
Eine satirische Dystopie, sagen die einen, ein rassistischer Roman, "white supremacist literature", sagen die anderen. Denen, die sich nicht die Mühe machen wollen, die vierhundert Seiten des in Deutschland vom "Identitären" Martin Lichtmesz übersetzten und vom Antaios-Verlag verlegten Textes zu lesen, genügt das Wissen darum, dass der Roman zu den Lieblingsbüchern von Stephen Bannon zählt und Marine Le Pen Zitate daraus in ihrem Wahlkampf verwendet. Die Liste der Bewunderer ist allerdings noch länger: Ronald Reagan zeigte sich nach der Lektüre "unglaublich beeindruckt", Jean Anouilh lobte es als ein "bewegendes Buch von unwiderstehlicher Stärke und ruhiger Logik", Samuel Huntington zählt zu den faszinierten Lesern ebenso wie Michel Houellebecq, der sich vom "Heerlager" nach eigenen Angaben für sein Erfolgsbuch "Unterwerfung" inspirieren ließ. 2015 stand Raspails Buch plötzlich wieder an der Spitze der Amazon-Verkaufsliste in Frankreich. Mit seinem zynisch-parodistischen Tonfall und seinen brachialen Untergangsphantasien traf und trifft es einen empfindlichen Nerv unserer moralisch sensiblen Gesellschaft.
Raspail selbst, der seine Karriere in den fünfziger Jahren als Reiseschriftsteller und Kolumnist für "Le Figaro" begann, insgesamt etwa vierzig Bücher - meist Auslandsberichte und Historienromane - geschrieben hat und heute hochbetagt als "ultrareaktionärer Monarchist" zurückgezogen in Paris lebt, beteuerte vergangenes Jahr in einem Interview mit dem "Spiegel" im Duktus des Ethnopluralismus: "Ich habe keinen Widerwillen gegenüber fremden Völkern, im Gegenteil. Vor allem die Minderheiten haben mich immer sehr beeindruckt." Um dann, quasi im Abgehen, noch den entscheidenden Satz anzuschließen: "Aber heute sind wir die Minderheit". Da zuckte sie kurz auf, die Angst vor dem großen Austausch. Vor einer Bevölkerung, die sich nicht mehr selbst verteidigen kann, vor einem feigen Westen, der im entscheidenden Moment die Waffen streckt und den Kopf in den Sand steckt.
Raspails Buch, das er an der Côte d'Azur in der Villa eines alten Grafen geschrieben haben soll - am Fenster der Bibliothek, vor ihm bis Afrika nur noch das Mittelmeer -, ist im Grunde eine einzige vulgärapokalyptische Phantasie über den Edmund Burke zugeschriebenen, aber in Wahrheit von John Stuart Mill geprägten Satz: "Das Einzige, was für den Triumph des Bösen nötig ist, sind gute Männer, die nichts unternehmen." Die Erzählung von der unweigerlich näher rückenden Armada und den darauf verlogen-hilflos reagierenden Repräsentanten der westlichen Wohlstandsgesellschaft wird von der heimlichen Sehnsucht nach bewaffnetem Widerstand und wahrem Volksempfinden begleitet.
Die Verherrlichung eines "völkischen Selbsterhaltungstriebs" lässt Begriffe wie "Menschenwürde" im Roman zum Schimpfwort werden und rückt ein etwaiges Massaker an den Schiffbrüchigen in den Rahmen des entschuldbar Möglichen. Rassistischen Konventionen entsprechend, werden die indischen Flüchtlinge nicht als Individuen, sondern nur als vertierte Masse oder "schwarze Flut" beschrieben. Als seine Überzeugung gibt der Erzähler an, dass "die verschiedenen Rassen inkompatibel sind, wenn sie im selben Raum leben müssen". Denn: "Der Schwarze verabscheut den Weißen, und der Weiße verachtet den Schwarzen."
Das Ganze ist in einem grobschlächtig elliptischen Stil verfasst, der zunächst wegen seines unverblümten Beschreibungswillens überrascht, dann aber schnell penetrant und widerwärtig wird. Der banale Symbolismus, der vergeblich an Céline erinnern möchte, kann auf die Dauer mit nichts weiter als einer vulgären Obsession für Kot aufwarten: "Mit einem Schlag hatten sich die Decks mit Männern, Frauen, Kindern gefüllt, die seit der Abfahrt in einer Kloake aus Dreck und Scheiße mariniert worden waren; mit einem Schlag kotzten die geöffneten Luken eine Masse ins Sonnenlicht ... Überall tauchten gebügelte Silberzungen auf, deren Hirne bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine süße Sahne ejakulierten, mit der sie alles verklebten, was in ihre Reichweite kam ... Dabei hatte es sich das Publikum längst in diesem verlogenen Schauspiel gemütlich gemacht wie ein Kackhaufen auf dem Boden einer Kloschüssel."
Die Charaktere existieren nur als Sprachrohre für die Gesinnungsprovokationen des Autors. Das zu lesen verlangt auch von der moralpolitisch dickhäutigsten Leserin einiges Durchhaltevermögen. Den Text jetzt auch noch auf der Bühne vorgesprochen und angespielt zu bekommen stellt die Geduld auf eine harte Probe. In Recklinghausen hat Hermann Schmidt-Rahmer zur Eröffnung der Ruhrfestspiele unter dem neuen Intendanten Olaf Kröck Raspails Skandalbuch in eigener Übersetzung szenisch adaptiert. Viel mehr als eine Gespenstertafelrunde in kerzenbeschienenem "Prinz Eisenherz"-Ambiente mit Kruzifix am Kamin, nachgemachter Eichentür und auf Schwertern gespießten Grillhähnchen ist dabei nicht herausgekommen.
Interessantes steht allerdings im Programmheft: Da beschreibt der Regisseur im Gespräch mit der Dramaturgin Marion Tiedtke, wie ihm die Lektüre des verfemten Textes "einen Einblick in das kollektive Unterbewusstsein des nationalen Autoritarismus" erlaubt und zu der Vermutung geführt habe, dass es hier nicht um Politik im konkreten Sinne, sondern um die "Ästhetisierung des eigenen Untergangs" geht. Bei der Furcht vor einer weltweiten Bevölkerungsexplosion und der präzisen Beschreibung westlicher Heuchelei gibt Schmidt-Rahmer seinem Autor allerdings durchaus recht.
Gute Voraussetzungen also für einen abenteuerlichen Denkabend: Aber auf der Bühne weiß das Ensemble dann so gar nicht, was mit dem fremdenfeindlichen Text anfangen, hampelt hilflos mit Suppenlöffeln, Wasserkrügen und Babypuppen herum. Von "Rasse" wird vorsorglich so wenig wie möglich gesprochen, dafür aber immer wieder nette Musik eingespielt. Zusammen mit der harmlos gruftigen Bildsprache wird das Skandalöse des Textes so nivelliert und in einen gemeingültigen Bühnenklamauk mit Wackelvideos und Heiner-Müller-Zitat eingepasst. Raspails kaltblütiger Zynismus kann sich so gut hinter Requisiten und Zigarrenrauch verstecken. Dass wir an jenem Tag verdammt sein werden, an dem wir nicht mehr fähig sind, "gewisse essentielle Wahrheiten offen auszusprechen", wie es gegen Ende des Buches heißt, dafür zumindest liefert dieser Abend, der vom 16. Mai an auch an den Frankfurter Kammerspielen zu sehen sein wird, einen schlagenden Gegenbeweis.
SIMON STRAUSS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im "Heerlager der Heiligen" beschrieb Jean Raspail die Ohnmacht des Westens vor der Migration. Die Ruhrfestspiele können mit der Vorlage wenig anfangen.
Im Jahr 1973 erschien beim französischen Verlag Robert Laffont ein Buch, das von hohen Wellen träumte und ebensolche schlug. Jean Raspails "Heerlager der Heiligen" imaginiert ein Meer, das lange still daliegt und sich von einer Flotte heruntergekommener Handelskähne mühelos überqueren lässt. An Bord befinden sich achthunderttausend arme Inder. Eine "Armada der letzten Chancen", die sich von Kalkutta aufmacht, am Suezkanal nicht durchgelassen und von Südafrika vertrieben wird und schließlich an der Côte d'Azur ankommt, wo sie vom französischen Volk mit offenen Armen empfangen wird. Erst als die Migranten an Land gegangen sind, beginnen die Wellen wieder zu schlagen. Dann ist die Rache der dritten an der ersten Welt vollbracht.
Eine satirische Dystopie, sagen die einen, ein rassistischer Roman, "white supremacist literature", sagen die anderen. Denen, die sich nicht die Mühe machen wollen, die vierhundert Seiten des in Deutschland vom "Identitären" Martin Lichtmesz übersetzten und vom Antaios-Verlag verlegten Textes zu lesen, genügt das Wissen darum, dass der Roman zu den Lieblingsbüchern von Stephen Bannon zählt und Marine Le Pen Zitate daraus in ihrem Wahlkampf verwendet. Die Liste der Bewunderer ist allerdings noch länger: Ronald Reagan zeigte sich nach der Lektüre "unglaublich beeindruckt", Jean Anouilh lobte es als ein "bewegendes Buch von unwiderstehlicher Stärke und ruhiger Logik", Samuel Huntington zählt zu den faszinierten Lesern ebenso wie Michel Houellebecq, der sich vom "Heerlager" nach eigenen Angaben für sein Erfolgsbuch "Unterwerfung" inspirieren ließ. 2015 stand Raspails Buch plötzlich wieder an der Spitze der Amazon-Verkaufsliste in Frankreich. Mit seinem zynisch-parodistischen Tonfall und seinen brachialen Untergangsphantasien traf und trifft es einen empfindlichen Nerv unserer moralisch sensiblen Gesellschaft.
Raspail selbst, der seine Karriere in den fünfziger Jahren als Reiseschriftsteller und Kolumnist für "Le Figaro" begann, insgesamt etwa vierzig Bücher - meist Auslandsberichte und Historienromane - geschrieben hat und heute hochbetagt als "ultrareaktionärer Monarchist" zurückgezogen in Paris lebt, beteuerte vergangenes Jahr in einem Interview mit dem "Spiegel" im Duktus des Ethnopluralismus: "Ich habe keinen Widerwillen gegenüber fremden Völkern, im Gegenteil. Vor allem die Minderheiten haben mich immer sehr beeindruckt." Um dann, quasi im Abgehen, noch den entscheidenden Satz anzuschließen: "Aber heute sind wir die Minderheit". Da zuckte sie kurz auf, die Angst vor dem großen Austausch. Vor einer Bevölkerung, die sich nicht mehr selbst verteidigen kann, vor einem feigen Westen, der im entscheidenden Moment die Waffen streckt und den Kopf in den Sand steckt.
Raspails Buch, das er an der Côte d'Azur in der Villa eines alten Grafen geschrieben haben soll - am Fenster der Bibliothek, vor ihm bis Afrika nur noch das Mittelmeer -, ist im Grunde eine einzige vulgärapokalyptische Phantasie über den Edmund Burke zugeschriebenen, aber in Wahrheit von John Stuart Mill geprägten Satz: "Das Einzige, was für den Triumph des Bösen nötig ist, sind gute Männer, die nichts unternehmen." Die Erzählung von der unweigerlich näher rückenden Armada und den darauf verlogen-hilflos reagierenden Repräsentanten der westlichen Wohlstandsgesellschaft wird von der heimlichen Sehnsucht nach bewaffnetem Widerstand und wahrem Volksempfinden begleitet.
Die Verherrlichung eines "völkischen Selbsterhaltungstriebs" lässt Begriffe wie "Menschenwürde" im Roman zum Schimpfwort werden und rückt ein etwaiges Massaker an den Schiffbrüchigen in den Rahmen des entschuldbar Möglichen. Rassistischen Konventionen entsprechend, werden die indischen Flüchtlinge nicht als Individuen, sondern nur als vertierte Masse oder "schwarze Flut" beschrieben. Als seine Überzeugung gibt der Erzähler an, dass "die verschiedenen Rassen inkompatibel sind, wenn sie im selben Raum leben müssen". Denn: "Der Schwarze verabscheut den Weißen, und der Weiße verachtet den Schwarzen."
Das Ganze ist in einem grobschlächtig elliptischen Stil verfasst, der zunächst wegen seines unverblümten Beschreibungswillens überrascht, dann aber schnell penetrant und widerwärtig wird. Der banale Symbolismus, der vergeblich an Céline erinnern möchte, kann auf die Dauer mit nichts weiter als einer vulgären Obsession für Kot aufwarten: "Mit einem Schlag hatten sich die Decks mit Männern, Frauen, Kindern gefüllt, die seit der Abfahrt in einer Kloake aus Dreck und Scheiße mariniert worden waren; mit einem Schlag kotzten die geöffneten Luken eine Masse ins Sonnenlicht ... Überall tauchten gebügelte Silberzungen auf, deren Hirne bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine süße Sahne ejakulierten, mit der sie alles verklebten, was in ihre Reichweite kam ... Dabei hatte es sich das Publikum längst in diesem verlogenen Schauspiel gemütlich gemacht wie ein Kackhaufen auf dem Boden einer Kloschüssel."
Die Charaktere existieren nur als Sprachrohre für die Gesinnungsprovokationen des Autors. Das zu lesen verlangt auch von der moralpolitisch dickhäutigsten Leserin einiges Durchhaltevermögen. Den Text jetzt auch noch auf der Bühne vorgesprochen und angespielt zu bekommen stellt die Geduld auf eine harte Probe. In Recklinghausen hat Hermann Schmidt-Rahmer zur Eröffnung der Ruhrfestspiele unter dem neuen Intendanten Olaf Kröck Raspails Skandalbuch in eigener Übersetzung szenisch adaptiert. Viel mehr als eine Gespenstertafelrunde in kerzenbeschienenem "Prinz Eisenherz"-Ambiente mit Kruzifix am Kamin, nachgemachter Eichentür und auf Schwertern gespießten Grillhähnchen ist dabei nicht herausgekommen.
Interessantes steht allerdings im Programmheft: Da beschreibt der Regisseur im Gespräch mit der Dramaturgin Marion Tiedtke, wie ihm die Lektüre des verfemten Textes "einen Einblick in das kollektive Unterbewusstsein des nationalen Autoritarismus" erlaubt und zu der Vermutung geführt habe, dass es hier nicht um Politik im konkreten Sinne, sondern um die "Ästhetisierung des eigenen Untergangs" geht. Bei der Furcht vor einer weltweiten Bevölkerungsexplosion und der präzisen Beschreibung westlicher Heuchelei gibt Schmidt-Rahmer seinem Autor allerdings durchaus recht.
Gute Voraussetzungen also für einen abenteuerlichen Denkabend: Aber auf der Bühne weiß das Ensemble dann so gar nicht, was mit dem fremdenfeindlichen Text anfangen, hampelt hilflos mit Suppenlöffeln, Wasserkrügen und Babypuppen herum. Von "Rasse" wird vorsorglich so wenig wie möglich gesprochen, dafür aber immer wieder nette Musik eingespielt. Zusammen mit der harmlos gruftigen Bildsprache wird das Skandalöse des Textes so nivelliert und in einen gemeingültigen Bühnenklamauk mit Wackelvideos und Heiner-Müller-Zitat eingepasst. Raspails kaltblütiger Zynismus kann sich so gut hinter Requisiten und Zigarrenrauch verstecken. Dass wir an jenem Tag verdammt sein werden, an dem wir nicht mehr fähig sind, "gewisse essentielle Wahrheiten offen auszusprechen", wie es gegen Ende des Buches heißt, dafür zumindest liefert dieser Abend, der vom 16. Mai an auch an den Frankfurter Kammerspielen zu sehen sein wird, einen schlagenden Gegenbeweis.
SIMON STRAUSS
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