Ein kleiner Junge wächst im Paris der Nachkriegszeit in einer gutbürgerlichen Familie auf, in deren Wohnzimmer das Werk einer weltberühmten Malerin ganz unspektakulär und selbstverständlich die Wand ziert: Es handelt sich um das Gemälde Das Herz von Frida Kahlo, und von klein auf zieht die rätselhafte Darstellung einer von einer goldenen Stange durchbohrten jungen Frau, zu deren Füßen ein riesiges, blutendes Herz am Meeresufer liegt, den sensiblen Jungen in seinen Bann. Doch erst Jahrzehnte nach dem Tod seines Vaters - das Bild ist längst versteigert und sein Aufenthaltsort nicht mehr auszumachen - erhält er den Hinweis, dass Das Herz für eine veritable Liebesgeschichte steht: Als Frida Kahlo im Januar 1939 nach Paris reist, um auf Einladung des Surrealisten André Breton an seiner Ausstellung "Mexiko" teilzunehmen, beginnt sie eine Affaire mit dem Vater des Autors - Michel Petitjean ist Agrarökonom, Kunstkenner, mondäner Lebemann und offizieller Geliebter der Mäzenin Marie-Laure de Noailles. Auf Basis nur weniger greifbarer Dokumente, aber unter Einbeziehung umso namhafterer Zeitzeugen von Picasso über Marcel Duchamp bis zu Elsa Schiaparelli rekonstruiert Marc Petitjean diese leidenschaftliche Romanze seines Vaters, eingebettet in Kämpfe um die künstlerische Vereinnahmung der Malerin, surrealistische Gesellschaftsspiele und politische Kämpfe zwischen Trotzki und Stalin angesichts des am Horizont des Jahres 1939 heraufziehenden Weltkriegs. Marc Petitjeans zwischen Roman und Tatsachenbericht changierender Text ist eine zärtliche Liebeserklärung an Paris, an die Künstlerszene des frühen 20. Jahrhunderts und an die einzigartige Frida Kahlo.Marc Petitjean (geb. 1952) ist französischer Autor, Filmemacher und Photograph, er drehte Dokumentationen u.a. über japanische Kimono-Malerei und das Leben seines Vaters.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2021Eine aussichtslose Liebschaft
Marc Petitjean rekonstruiert in seinem Roman "Das Herz - Frida Kahlo" die Affäre der Malerin mit seinem Vater im Pariser Frühling 1939.
Das Herz liegt überdimensional groß und blutend zu ihren Füßen, an seinem ursprünglichen Platz in Frida Kahlos Brust steckt eine lange Metallstange, die ihren Oberkörper durchbohrt. Eine unmissverständliche Anspielung auf den Busunfall, den die mexikanische Künstlerin überlebte, obwohl sich eine Haltestange durch ihren Rumpf bohrte. Bis zu ihrem Lebensende litt sie, durch den Unfall unfruchtbar geworden, nicht nur physische, sondern auch enorme seelische Schmerzen.
Das Gemälde, das sowohl "Gedächtnis" als auch "Das Herz" betitelt ist und ihre Qualen demonstriert, schenkte Frida Kahlo im Frühling 1939 ihrem französischen Liebhaber Michel Petitjean, bevor sie Paris verließ und zu ihrem untreuen Ehemann nach Mexiko zurückkehrte - dem weltberühmten und zwanzig Jahre älteren Maler Diego Rivera, der Frida Kahlo unter anderen mit ihrer eigenen Schwester betrog. Auf Michel Petitjeans Briefe antwortete sie dann nicht mehr, doch "Das Herz" blieb viele Jahre im Pariser Wohnzimmer der gutbürgerlichen Familie hängen, und Marc Petitjean begann nach dem Tod seines Vaters, dessen kurze Liebesbeziehung mit Frida Kahlo zu rekonstruieren. Daraus entsprang das Buch "Das Herz - Frida Kahlo", in dem drei Wochen, die Kahlo kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Paris verbrachte, erzählerisch aufbereitet werden. Marc Petitjeans Recherchen sollten nicht nur die zuvor unbeachtete Liaison Frida Kahlos mit seinem Vater ergründen, sondern auch diesen selbst: "Sobald ich weiß, wer Frida Kahlo war, kann ich mir ein besseres Bild davon machen, was meinen Vater zu ihr hinzog, und daraus schließen, was für ein Mann er war."
Die Deklaration von "Das Herz - Frida Kahlo" als Roman ist fehlleitend, denn die faktischen Anteile scheinen zu überwiegen. Beschrieben werden Bruchstücke von Kahlos Biographie und ihre die eigene Lebens- und Leidensgeschichte verbildlichenden Gemälde. Es gibt Zitate aus ihren Briefen, etwa an ihren Liebhaber Nickolas Muray in New York: "Diese ganzen verkommenen Leute in Europa widern mich an." Oder: "Sie sind so verdammt ,intellektuell' und mies, dass ich sie nicht länger ertragen kann." Marc Petitjean schreibt, entgegen dem, was der Titel erwarten lässt, keine Liebesgeschichte, sondern vielmehr eine von Retrospektiven durchsetzte Chronik von Frida Kahlos Aufenthalt in Paris, bei der die romantische Beziehung der Künstlerin mit seinem Vater nur selten im Vordergrund steht.
Stattdessen richtet der Autor seinen Blick auf die Pariser Surrealisten um André Breton, deren politische Ansichten und ausschweifende Lebensweisen sowie die sich rasant zuspitzende politische Lage - nicht nur in Paris, sondern vor allem in Spanien, wo der Bürgerkrieg dem Ende zugeht und Barcelona in die Hände der Nationalisten fällt, als Frida Kahlo die erste Nacht mit Michel Petitjean verbringt. Dem Buch des Sohnes lässt sich nicht nachsagen, die aussichtslose und gerade deswegen so innige Affäre zwischen Frida Kahlo und seinem Vater zu romantisieren, denn alles, was das kurze Liebesglück beschattet, wird thematisiert: Kahlos Erschöpfung, ihre körperlichen Beeinträchtigungen, die verzweifelte Liebe zu Diego Rivera und besonders die politischen Zustände in Spanien, die ihr enorm zusetzen.
Diese Beschreibung der Pariser Affäre lebt davon, dass die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion nicht klar definiert sind. Das ist aber zugleich, was sie als Roman schwer greifbar macht. Was weiß der Autor, und was dichtet er hinzu? Was hat sich wie beschrieben zugetragen, und was wurde nachträglich der Kontinuität wegen modifiziert oder hinzugefügt? Solche Fragen stellen sich im Leseprozess unvermeidlich und hinterlassen, weil sie nicht beantwortet werden, ein unbefriedigendes Gefühl. Wer die Geschichte jedoch liest, ohne ihren Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen, kann sich von der reizvollen Schwere, die ihr anhaftet, in Bann ziehen lassen. Marc Petitjeans Worte sind sachlich und schnörkellos, sie scheinen die Last der Protagonisten zu tragen, sind frei von romantischen Parolen oder glorifizierenden Paris-Beschreibungen. Das tut der Geschichte gut, denn schon Hemingway schrieb in seiner Hommage auf die französische Hauptstadt, dass in Paris nichts einfach sei.
GINA ARZDORF
Marc Petitjean: "Das Herz - Frida Kahlo". Eine Liebesaffäre in Paris, Frühling 1939.
Aus dem Französischen von Michaela Angermair. Verlag Schirmer/Mosel, München 2021. 200 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marc Petitjean rekonstruiert in seinem Roman "Das Herz - Frida Kahlo" die Affäre der Malerin mit seinem Vater im Pariser Frühling 1939.
Das Herz liegt überdimensional groß und blutend zu ihren Füßen, an seinem ursprünglichen Platz in Frida Kahlos Brust steckt eine lange Metallstange, die ihren Oberkörper durchbohrt. Eine unmissverständliche Anspielung auf den Busunfall, den die mexikanische Künstlerin überlebte, obwohl sich eine Haltestange durch ihren Rumpf bohrte. Bis zu ihrem Lebensende litt sie, durch den Unfall unfruchtbar geworden, nicht nur physische, sondern auch enorme seelische Schmerzen.
Das Gemälde, das sowohl "Gedächtnis" als auch "Das Herz" betitelt ist und ihre Qualen demonstriert, schenkte Frida Kahlo im Frühling 1939 ihrem französischen Liebhaber Michel Petitjean, bevor sie Paris verließ und zu ihrem untreuen Ehemann nach Mexiko zurückkehrte - dem weltberühmten und zwanzig Jahre älteren Maler Diego Rivera, der Frida Kahlo unter anderen mit ihrer eigenen Schwester betrog. Auf Michel Petitjeans Briefe antwortete sie dann nicht mehr, doch "Das Herz" blieb viele Jahre im Pariser Wohnzimmer der gutbürgerlichen Familie hängen, und Marc Petitjean begann nach dem Tod seines Vaters, dessen kurze Liebesbeziehung mit Frida Kahlo zu rekonstruieren. Daraus entsprang das Buch "Das Herz - Frida Kahlo", in dem drei Wochen, die Kahlo kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Paris verbrachte, erzählerisch aufbereitet werden. Marc Petitjeans Recherchen sollten nicht nur die zuvor unbeachtete Liaison Frida Kahlos mit seinem Vater ergründen, sondern auch diesen selbst: "Sobald ich weiß, wer Frida Kahlo war, kann ich mir ein besseres Bild davon machen, was meinen Vater zu ihr hinzog, und daraus schließen, was für ein Mann er war."
Die Deklaration von "Das Herz - Frida Kahlo" als Roman ist fehlleitend, denn die faktischen Anteile scheinen zu überwiegen. Beschrieben werden Bruchstücke von Kahlos Biographie und ihre die eigene Lebens- und Leidensgeschichte verbildlichenden Gemälde. Es gibt Zitate aus ihren Briefen, etwa an ihren Liebhaber Nickolas Muray in New York: "Diese ganzen verkommenen Leute in Europa widern mich an." Oder: "Sie sind so verdammt ,intellektuell' und mies, dass ich sie nicht länger ertragen kann." Marc Petitjean schreibt, entgegen dem, was der Titel erwarten lässt, keine Liebesgeschichte, sondern vielmehr eine von Retrospektiven durchsetzte Chronik von Frida Kahlos Aufenthalt in Paris, bei der die romantische Beziehung der Künstlerin mit seinem Vater nur selten im Vordergrund steht.
Stattdessen richtet der Autor seinen Blick auf die Pariser Surrealisten um André Breton, deren politische Ansichten und ausschweifende Lebensweisen sowie die sich rasant zuspitzende politische Lage - nicht nur in Paris, sondern vor allem in Spanien, wo der Bürgerkrieg dem Ende zugeht und Barcelona in die Hände der Nationalisten fällt, als Frida Kahlo die erste Nacht mit Michel Petitjean verbringt. Dem Buch des Sohnes lässt sich nicht nachsagen, die aussichtslose und gerade deswegen so innige Affäre zwischen Frida Kahlo und seinem Vater zu romantisieren, denn alles, was das kurze Liebesglück beschattet, wird thematisiert: Kahlos Erschöpfung, ihre körperlichen Beeinträchtigungen, die verzweifelte Liebe zu Diego Rivera und besonders die politischen Zustände in Spanien, die ihr enorm zusetzen.
Diese Beschreibung der Pariser Affäre lebt davon, dass die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion nicht klar definiert sind. Das ist aber zugleich, was sie als Roman schwer greifbar macht. Was weiß der Autor, und was dichtet er hinzu? Was hat sich wie beschrieben zugetragen, und was wurde nachträglich der Kontinuität wegen modifiziert oder hinzugefügt? Solche Fragen stellen sich im Leseprozess unvermeidlich und hinterlassen, weil sie nicht beantwortet werden, ein unbefriedigendes Gefühl. Wer die Geschichte jedoch liest, ohne ihren Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen, kann sich von der reizvollen Schwere, die ihr anhaftet, in Bann ziehen lassen. Marc Petitjeans Worte sind sachlich und schnörkellos, sie scheinen die Last der Protagonisten zu tragen, sind frei von romantischen Parolen oder glorifizierenden Paris-Beschreibungen. Das tut der Geschichte gut, denn schon Hemingway schrieb in seiner Hommage auf die französische Hauptstadt, dass in Paris nichts einfach sei.
GINA ARZDORF
Marc Petitjean: "Das Herz - Frida Kahlo". Eine Liebesaffäre in Paris, Frühling 1939.
Aus dem Französischen von Michaela Angermair. Verlag Schirmer/Mosel, München 2021. 200 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Das Herz" - so lautete einer der Titel des Gemäldes, das Frida Kahlo ihrem französischen Geliebten Michel Petitjean im Jahr 1939 schenkte, bevor sie ihn und Paris verließ, um zu ihrem Mann Diego Rivera nach Mexiko zurückkehren, klärt Rezensentin Gina Arzdorf auf. Um jene Liebesaffäre, aber nicht nur, dreht sich das Buch, das Petitjeans Sohn Marc nun geschrieben hat und das die Kritikerin nicht als Roman bezeichnen möchte. Den der Autor trägt neben zahlreichen Fragmenten aus Kahlos Biografie, Briefzitate und Bildbeschreibungen zusammen, blickt auf das Paris jener Jahre, auf historische und politische Hintergründe und beleuchtet sogar die Affäre zwischen seinem Vater und der Malerin so nüchtern und faktenreich, dass die Rezensentin nicht gerade besonders viel Romantik verspürt. Der Mix aus Fiktion und Fakten mag nicht jeden Leser befriedigen, räumt sie ein, aber eine so "schnörkellose" Paris-Hommage hat man selten gelesen, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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