Produktdetails
- Verlag: Diogenes Verlag
- ISBN-13: 9783257229134
- Artikelnr.: 24752179
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2011Der Trost des einsamen Jägers
Die Romane von Carson McCullers in einer schönen neuen Ausgabe – aber leider in veralteten Übersetzungen
Keiner wird die Romane von Carson McCullers je mit etwas anderem verwechseln. Das hat nicht nur mit ihrem Stoff zu tun – immer ist es der alte Süden der USA, immer ein langweiliger kleiner Ort, immer die Zeit zwischen den dreißiger und den fünfziger Jahren; und immer geschieht ewig lang überhaupt nichts, bis plötzlich die Katastrophe herabfährt wie ein Blitzstrahl. Vor allem liegt es daran, dass McCullers das Mittel einer multizentrischen personalen Erzählperspektive (um es so trocken philologisch auszudrücken) mit einer unvergleichlichen emotionalen Kraft handhabt, die umso stärker wirkt, als das Leben ihrer Protagonisten so still und ereignislos zu verlaufen scheint.
Alle ihre Figuren sind zur Einsamkeit verdammt. Aber das hemmt nicht ihre Liebe, die häufig abstruse, einseitige, missverständliche Formen annimmt, Toten oder Entrückten gilt, kein Maß und kein Muster kennt. Nie jedoch denunziert McCullers sie als etwas Törichtes, selbst wo es sich um haltlose Schwärmereien oder Schlimmeres handelt. Auch wenn sie unerwidert bleiben und in der Sprachlosigkeit verharren, legen sich die Gefühle doch wie ein dichter atmosphärischer Kreis um die Personen, die sie hegen, und diese Kreise berühren einander auf schwer erklärliche Art. Jeder versteht den anderen nicht oder falsch, und doch gehören sie zusammen, sogar wenn sie einander töten wollen oder es tatsächlich tun. Schwermütig sind diese Romane. Trotzdem besitzen sie eine geheimnisvoll tröstliche Qualität, die man beim Lesen intensiver empfindet als die doch so offensichtliche Vergeblichkeit menschlichen Strebens, von der alle diese Bücher sprechen. Bei Carson McCullers ist in die Trauer das Beglückende eingesenkt.
Ihr alter Hausverlag für den deutschsprachigen Raum, Diogenes, legt die vier Romane nunmehr in einer schönen neuen Edition vor – willkommener Anlass, sie sämtlich auf einmal zu lesen. Ihr Erscheinungsdatum liegt zwischen 1940, als das Erstlingswerk der erst 23-Jährigen, „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, ihr sogleich Anerkennung als erstrangige Autorin verschaffte, und 1961; da war McCullers, die von Kindheit an unter schwersten Krankheiten litt, vom Alkohol abhing und den Selbstmord ihres Mannes (mit dem sie zweimal verheiratet war) zu verkraften hatte, schon gelähmt und kaum noch bewegungsfähig. Sie starb 1967, erst 50 Jahre alt.
Der zweite Roman, „Spiegelbild im goldnen Auge“, spielt in einer Garnison irgendwo in Georgia, wo die Offiziere und ihre Frauen ausreiten, sich gegenseitig zu Partys einladen und ansonsten zu Tode langweilen – und dennoch verstricken sie sich in beschämende und tödliche Leidenschaften. Im dritten, „Frankie“ (im Original „The Member of the Wedding“), geht es um ein 15-jähriges Mädchen, das während der endlos sich dehnenden Sommerferien die Tage verbringt, indem sie mit ihrem fünfjährigen Cousin und der einäugigen schwarzen Haushälterin in der Küche Karten spielt.
Immer mehr gewinnt die Vorstellung Macht über sie, dass sie ihren Bruder und dessen Braut – die Hochzeit steht unmittelbar bevor – um jeden Preis in die Flitterwochen begleiten will. „Nehmt mich mit!“, ruft sie ihnen nach, als das Auto des Brautpaars entschwindet: ein umso herzzerreißender Augenblick, als dieser Herzenswunsch natürlich ganz und gar hoffnungslos ist. Und das vierte Buch, „Uhr ohne Zeiger“, folgt dem Apotheker J. T. Malone durch sein letztes Lebensjahr, nachdem er die Diagnose Leukämie erhalten hat. Ein Jahr lang erlebt er alles, was ihm bislang banal vorgekommen ist, vom Anblick des Gemüsegartens bis zur Liebe seiner Frau, mit einer ganz neuen Inständigkeit; dann stirbt er.
Den grandiosen Auftakt aber bildet „The Heart is a Lonely Hunter“. Mit gutem Grund ist es bis heute Carson McCullers’ berühmtestes Buch. Es zeigt sie von Anbeginn im Vollbesitz ihrer Themen und auf der Höhe ihrer Kunst. Im Mittelpunkt steht der taubstumme Mr. Singer, in seinem Schweigen voll feinen Takts seinen Mitmenschen zugewandt. Als Untermieter wohnt er im Haus von Micks Familie. Mick, am Anfang des Buchs zwölf und am Ende knapp vierzehn Jahre alt, eine jüngere Schwester Frankies und wie diese wohl nicht zuletzt als jugendliches Selbstbild der Autorin zu begreifen, sucht nach irgendetwas Unbestimmtem, das über den Umkreis ihrer von ewigem Geldmangel beengten kinderreichen Familie hinausreicht.
Sie findet es in der Musik – und in der Gesellschaft Mr. Singers, dieses geisterhaft stillen und desto verständnisvoller scheinenden Wesens. Ihr gleich tun es Blount, ein von Schüben des Alkoholismus und der klassenkämpferischen Wut geschüttelter Herumtreiber; Doc Copeland, der schwarze Arzt der Stadt, selbst todkrank, der sein ganzes Leben weniger um die Rechte als um die Würde seiner Leute gekämpft hat; und Biff, Inhaber eines Cafés oder Diners, welches die ganze Nacht geöffnet ist und das zweite Gravitationszentrum des Romans bildet. Das erste ist natürlich Mr. Singers Zimmer, in dem ihn alle einzeln besuchen kommen.
Diese Figuren, die kaum in handfest zu nennenden Beziehungen stehen, bezeugen einander gleichwohl ihre Achtung auf ebenso beiläufige oder förmliche wie spontane Weise. Doc Copeland schreibt ein Billet an Mr. Singer, ob er ihm wegen eines stummen Kindes einmal seine Aufwartung machen dürfe; Biff gewährt Mick einen Preisnachlass auf bestimmte Süßigkeiten. Das bedeutet nicht wenig in einer Umgebung, in der Armut, Ressentiment und, nicht zu vergessen, grässliche sommerliche Schwüle herrschen. Was für ein anderes Land der Süden der USA gewesen sein muss, ehe die Klimaanlage Standard wurde! Jederzeit können hier wie aus dem Nichts Wahnsinn und Gewalt hervorbrechen.
Familiäre Bindungen dagegen heißen in McCullers’ Welt nicht viel; Micks Mutter z. B. findet kaum am Rand Erwähnung. Aber das konventionelle Verhältnis kann in einem freien Akt der Erkenntnis plötzlich umschlagen zu etwas Neuem. Micks Vater, unterbeschäftigter Uhrmacher, ruft sie eines Abends zu sich in die Werkstatt und gibt ihr ein bisschen Kleingeld, das er sich selbst vom Bier absparen muss.
„Sie hatte es so eilig, dass sie kaum stillstehen konnte. Ihr Papa merkte das. Er versuchte etwas zu sagen – aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen. Er wollte nur ein bisschen mit ihr plaudern. Er setzte zum Sprechen an und schluckte einmal. Sie sahen einander an. Die Stille breitete sich immer weiter aus, und keiner von ihnen brachte ein Wort heraus. Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war. Eigentlich erfuhr sie damit nichts wirklich Neues – sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst, nur nicht mit dem Verstand. Nun plötzlich wusste sie, dass sie über ihren Papa Bescheid wusste. Er war einsam, und er war ein alter Mann.“
Leider muss man sich das Aufleuchtende dieses Moments aus der deutschen Fassung eher herausklauben, als dass sie selbst es erschlösse. Im Original heißt es: „That was when she realized about her Dad.“ Hinter solcher Jähheit bleibt die Übersetzung schnaufend zurück: „Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war.“ Das ist betulich und umständlich, und der „Papa“ stellt im Deutschen just die sofahafte familiäre Gemütlichkeit her, die McCullers nicht gemeint hat. Kleine Wörtlein genügen, um der Situation die Spitze abzubrechen, zum Beispiel das Ja in „aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen“ für „but he not called to tell her anything special“. Dieses „ja“ tut so, als wüssten beide selbstverständlich schon vorher, was geschehen wird – dabei gestaltet sich das Zusammentreffen mindestens für Mick, wahrscheinlich aber auch für ihren Dad, als eine existenzielle Überraschung. Und so geht es weiter, Zeile für Zeile, alles keine großen Fehler, doch insgesamt geeignet, die knappe Schärfe dieser Sätze und das Besondere dieses Buchs zu einem Allerweltsstück abzustumpfen.
Die Übersetzungen von Richard Moering, Elisabeth Schnack und Susanna Rademacher sind durch die Bank ein rundes halbes Jahrhundert alt, so alt eben wie die deutsche Erstausgabe. Zwar spricht der Verlag davon, sie seien „überarbeitet“ worden; dennoch stehen sie nicht auf der Höhe heutiger Standards. Man hätte die altgedienten Karossen nicht reparieren, sondern auswechseln sollen. Der Süden, von dem die Romane sprechen, mag zeitlich ferner gerückt sein; dafür sind uns die USA heute räumlich weit näher als in den Fünfzigern. Man muss einen „nickel“ heute nicht mehr als „Fünfcentstück“ verdeutlichen. Mit den Realien des amerikanischen Lebens sind die Übersetzer erkennbar unvertraut.
Handelt es sich wirklich um eine „Apotheke“ in unserem Sinn, wenn in diesem Geschäft auch Sandwiches und Cola verkauft werden, oder nicht vielleicht doch eher um einen Drugstore? Sind die „elektrischen Fächer“ an der Decke nicht am Ende einfach Ventilatoren (englisch „fans“)? Welchen Zweck könnte es haben, wenn es auf einem Platz getrennte „Brunnen“ für Weiße und Schwarze gibt? Eines Brunnens könnten sich doch beide Rassen auch im damaligen bigotten Süden recht gut gemeinsam erfreuen. Es muss um jene „drinking fountains“ gehen, die in Amerika zum Straßenbild gehören, bei uns jedoch fehlen.
Ja, und dann stellt sich natürlich noch ein Problem, an dem auch der beste Übersetzer verzweifeln muss: Das ist die Sprache der Schwarzen, die in drei der vier Romane eine wichtige Rolle spielt. Zu McCullers’ hoher Kunst gehört es, das den Schwarzen eigentümliche Idiom genau nachzubilden, ohne sie dabei im mindesten in ihrer Würde herabzusetzen. Im Deutschen hat man da vermutlich nur die Wahl zwischen einer sehr farblosen Farbenblindheit und einem bizarr-willkürlichen Kunstgebilde, also gewissermaßen zwischen Weiß und Lila anstatt des unmöglichen Schwarz. Die drei Übersetzer haben sich, trotz einiger eigenwilliger Schlenker, im Großen und Ganzen für Weiß entschieden. Das ist korrekt und matt und unvermeidlich.
BURKHARD MÜLLER
CARSON McCULLERS: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Roman. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher.
Spiegelbild im goldnen Auge. Roman Aus dem Englischen von Richard Moering.
Frankie. Roman. Aus dem Englischen von Richard Moering.
Uhr ohne Zeiger. Roman. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack.
Vier Romane im Schuber. Diogenes Verlag, Zürich 2011. Zusammen 1462 Seiten, 69 Euro.
Schwermütig sind diese Romane,
doch ist in ihre Trauer
das Beglückende eingesenkt
Sind die „elektrischen Fächer“
an der Decke nicht am Ende
einfach Ventilatoren?
Die 24-jährige Carson McCullers 1941 zu Hause in Columbus Foto: AP Photo
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Die Romane von Carson McCullers in einer schönen neuen Ausgabe – aber leider in veralteten Übersetzungen
Keiner wird die Romane von Carson McCullers je mit etwas anderem verwechseln. Das hat nicht nur mit ihrem Stoff zu tun – immer ist es der alte Süden der USA, immer ein langweiliger kleiner Ort, immer die Zeit zwischen den dreißiger und den fünfziger Jahren; und immer geschieht ewig lang überhaupt nichts, bis plötzlich die Katastrophe herabfährt wie ein Blitzstrahl. Vor allem liegt es daran, dass McCullers das Mittel einer multizentrischen personalen Erzählperspektive (um es so trocken philologisch auszudrücken) mit einer unvergleichlichen emotionalen Kraft handhabt, die umso stärker wirkt, als das Leben ihrer Protagonisten so still und ereignislos zu verlaufen scheint.
Alle ihre Figuren sind zur Einsamkeit verdammt. Aber das hemmt nicht ihre Liebe, die häufig abstruse, einseitige, missverständliche Formen annimmt, Toten oder Entrückten gilt, kein Maß und kein Muster kennt. Nie jedoch denunziert McCullers sie als etwas Törichtes, selbst wo es sich um haltlose Schwärmereien oder Schlimmeres handelt. Auch wenn sie unerwidert bleiben und in der Sprachlosigkeit verharren, legen sich die Gefühle doch wie ein dichter atmosphärischer Kreis um die Personen, die sie hegen, und diese Kreise berühren einander auf schwer erklärliche Art. Jeder versteht den anderen nicht oder falsch, und doch gehören sie zusammen, sogar wenn sie einander töten wollen oder es tatsächlich tun. Schwermütig sind diese Romane. Trotzdem besitzen sie eine geheimnisvoll tröstliche Qualität, die man beim Lesen intensiver empfindet als die doch so offensichtliche Vergeblichkeit menschlichen Strebens, von der alle diese Bücher sprechen. Bei Carson McCullers ist in die Trauer das Beglückende eingesenkt.
Ihr alter Hausverlag für den deutschsprachigen Raum, Diogenes, legt die vier Romane nunmehr in einer schönen neuen Edition vor – willkommener Anlass, sie sämtlich auf einmal zu lesen. Ihr Erscheinungsdatum liegt zwischen 1940, als das Erstlingswerk der erst 23-Jährigen, „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, ihr sogleich Anerkennung als erstrangige Autorin verschaffte, und 1961; da war McCullers, die von Kindheit an unter schwersten Krankheiten litt, vom Alkohol abhing und den Selbstmord ihres Mannes (mit dem sie zweimal verheiratet war) zu verkraften hatte, schon gelähmt und kaum noch bewegungsfähig. Sie starb 1967, erst 50 Jahre alt.
Der zweite Roman, „Spiegelbild im goldnen Auge“, spielt in einer Garnison irgendwo in Georgia, wo die Offiziere und ihre Frauen ausreiten, sich gegenseitig zu Partys einladen und ansonsten zu Tode langweilen – und dennoch verstricken sie sich in beschämende und tödliche Leidenschaften. Im dritten, „Frankie“ (im Original „The Member of the Wedding“), geht es um ein 15-jähriges Mädchen, das während der endlos sich dehnenden Sommerferien die Tage verbringt, indem sie mit ihrem fünfjährigen Cousin und der einäugigen schwarzen Haushälterin in der Küche Karten spielt.
Immer mehr gewinnt die Vorstellung Macht über sie, dass sie ihren Bruder und dessen Braut – die Hochzeit steht unmittelbar bevor – um jeden Preis in die Flitterwochen begleiten will. „Nehmt mich mit!“, ruft sie ihnen nach, als das Auto des Brautpaars entschwindet: ein umso herzzerreißender Augenblick, als dieser Herzenswunsch natürlich ganz und gar hoffnungslos ist. Und das vierte Buch, „Uhr ohne Zeiger“, folgt dem Apotheker J. T. Malone durch sein letztes Lebensjahr, nachdem er die Diagnose Leukämie erhalten hat. Ein Jahr lang erlebt er alles, was ihm bislang banal vorgekommen ist, vom Anblick des Gemüsegartens bis zur Liebe seiner Frau, mit einer ganz neuen Inständigkeit; dann stirbt er.
Den grandiosen Auftakt aber bildet „The Heart is a Lonely Hunter“. Mit gutem Grund ist es bis heute Carson McCullers’ berühmtestes Buch. Es zeigt sie von Anbeginn im Vollbesitz ihrer Themen und auf der Höhe ihrer Kunst. Im Mittelpunkt steht der taubstumme Mr. Singer, in seinem Schweigen voll feinen Takts seinen Mitmenschen zugewandt. Als Untermieter wohnt er im Haus von Micks Familie. Mick, am Anfang des Buchs zwölf und am Ende knapp vierzehn Jahre alt, eine jüngere Schwester Frankies und wie diese wohl nicht zuletzt als jugendliches Selbstbild der Autorin zu begreifen, sucht nach irgendetwas Unbestimmtem, das über den Umkreis ihrer von ewigem Geldmangel beengten kinderreichen Familie hinausreicht.
Sie findet es in der Musik – und in der Gesellschaft Mr. Singers, dieses geisterhaft stillen und desto verständnisvoller scheinenden Wesens. Ihr gleich tun es Blount, ein von Schüben des Alkoholismus und der klassenkämpferischen Wut geschüttelter Herumtreiber; Doc Copeland, der schwarze Arzt der Stadt, selbst todkrank, der sein ganzes Leben weniger um die Rechte als um die Würde seiner Leute gekämpft hat; und Biff, Inhaber eines Cafés oder Diners, welches die ganze Nacht geöffnet ist und das zweite Gravitationszentrum des Romans bildet. Das erste ist natürlich Mr. Singers Zimmer, in dem ihn alle einzeln besuchen kommen.
Diese Figuren, die kaum in handfest zu nennenden Beziehungen stehen, bezeugen einander gleichwohl ihre Achtung auf ebenso beiläufige oder förmliche wie spontane Weise. Doc Copeland schreibt ein Billet an Mr. Singer, ob er ihm wegen eines stummen Kindes einmal seine Aufwartung machen dürfe; Biff gewährt Mick einen Preisnachlass auf bestimmte Süßigkeiten. Das bedeutet nicht wenig in einer Umgebung, in der Armut, Ressentiment und, nicht zu vergessen, grässliche sommerliche Schwüle herrschen. Was für ein anderes Land der Süden der USA gewesen sein muss, ehe die Klimaanlage Standard wurde! Jederzeit können hier wie aus dem Nichts Wahnsinn und Gewalt hervorbrechen.
Familiäre Bindungen dagegen heißen in McCullers’ Welt nicht viel; Micks Mutter z. B. findet kaum am Rand Erwähnung. Aber das konventionelle Verhältnis kann in einem freien Akt der Erkenntnis plötzlich umschlagen zu etwas Neuem. Micks Vater, unterbeschäftigter Uhrmacher, ruft sie eines Abends zu sich in die Werkstatt und gibt ihr ein bisschen Kleingeld, das er sich selbst vom Bier absparen muss.
„Sie hatte es so eilig, dass sie kaum stillstehen konnte. Ihr Papa merkte das. Er versuchte etwas zu sagen – aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen. Er wollte nur ein bisschen mit ihr plaudern. Er setzte zum Sprechen an und schluckte einmal. Sie sahen einander an. Die Stille breitete sich immer weiter aus, und keiner von ihnen brachte ein Wort heraus. Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war. Eigentlich erfuhr sie damit nichts wirklich Neues – sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst, nur nicht mit dem Verstand. Nun plötzlich wusste sie, dass sie über ihren Papa Bescheid wusste. Er war einsam, und er war ein alter Mann.“
Leider muss man sich das Aufleuchtende dieses Moments aus der deutschen Fassung eher herausklauben, als dass sie selbst es erschlösse. Im Original heißt es: „That was when she realized about her Dad.“ Hinter solcher Jähheit bleibt die Übersetzung schnaufend zurück: „Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war.“ Das ist betulich und umständlich, und der „Papa“ stellt im Deutschen just die sofahafte familiäre Gemütlichkeit her, die McCullers nicht gemeint hat. Kleine Wörtlein genügen, um der Situation die Spitze abzubrechen, zum Beispiel das Ja in „aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen“ für „but he not called to tell her anything special“. Dieses „ja“ tut so, als wüssten beide selbstverständlich schon vorher, was geschehen wird – dabei gestaltet sich das Zusammentreffen mindestens für Mick, wahrscheinlich aber auch für ihren Dad, als eine existenzielle Überraschung. Und so geht es weiter, Zeile für Zeile, alles keine großen Fehler, doch insgesamt geeignet, die knappe Schärfe dieser Sätze und das Besondere dieses Buchs zu einem Allerweltsstück abzustumpfen.
Die Übersetzungen von Richard Moering, Elisabeth Schnack und Susanna Rademacher sind durch die Bank ein rundes halbes Jahrhundert alt, so alt eben wie die deutsche Erstausgabe. Zwar spricht der Verlag davon, sie seien „überarbeitet“ worden; dennoch stehen sie nicht auf der Höhe heutiger Standards. Man hätte die altgedienten Karossen nicht reparieren, sondern auswechseln sollen. Der Süden, von dem die Romane sprechen, mag zeitlich ferner gerückt sein; dafür sind uns die USA heute räumlich weit näher als in den Fünfzigern. Man muss einen „nickel“ heute nicht mehr als „Fünfcentstück“ verdeutlichen. Mit den Realien des amerikanischen Lebens sind die Übersetzer erkennbar unvertraut.
Handelt es sich wirklich um eine „Apotheke“ in unserem Sinn, wenn in diesem Geschäft auch Sandwiches und Cola verkauft werden, oder nicht vielleicht doch eher um einen Drugstore? Sind die „elektrischen Fächer“ an der Decke nicht am Ende einfach Ventilatoren (englisch „fans“)? Welchen Zweck könnte es haben, wenn es auf einem Platz getrennte „Brunnen“ für Weiße und Schwarze gibt? Eines Brunnens könnten sich doch beide Rassen auch im damaligen bigotten Süden recht gut gemeinsam erfreuen. Es muss um jene „drinking fountains“ gehen, die in Amerika zum Straßenbild gehören, bei uns jedoch fehlen.
Ja, und dann stellt sich natürlich noch ein Problem, an dem auch der beste Übersetzer verzweifeln muss: Das ist die Sprache der Schwarzen, die in drei der vier Romane eine wichtige Rolle spielt. Zu McCullers’ hoher Kunst gehört es, das den Schwarzen eigentümliche Idiom genau nachzubilden, ohne sie dabei im mindesten in ihrer Würde herabzusetzen. Im Deutschen hat man da vermutlich nur die Wahl zwischen einer sehr farblosen Farbenblindheit und einem bizarr-willkürlichen Kunstgebilde, also gewissermaßen zwischen Weiß und Lila anstatt des unmöglichen Schwarz. Die drei Übersetzer haben sich, trotz einiger eigenwilliger Schlenker, im Großen und Ganzen für Weiß entschieden. Das ist korrekt und matt und unvermeidlich.
BURKHARD MÜLLER
CARSON McCULLERS: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Roman. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher.
Spiegelbild im goldnen Auge. Roman Aus dem Englischen von Richard Moering.
Frankie. Roman. Aus dem Englischen von Richard Moering.
Uhr ohne Zeiger. Roman. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack.
Vier Romane im Schuber. Diogenes Verlag, Zürich 2011. Zusammen 1462 Seiten, 69 Euro.
Schwermütig sind diese Romane,
doch ist in ihre Trauer
das Beglückende eingesenkt
Sind die „elektrischen Fächer“
an der Decke nicht am Ende
einfach Ventilatoren?
Die 24-jährige Carson McCullers 1941 zu Hause in Columbus Foto: AP Photo
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