Das Hessen-Lexikon erzählt nicht nur die Geschichten, die hinter dem Bekannten stecken, es entdeckt auch viele unbekannte Seiten von Land und Leuten. So entsteht ein vielfältiges, reiches Bild von Deutschlands Mitte, das ein Glossar mit den wichtigsten hessischen Begriffen und Redensarten abrundet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.1999Alles andere als daab und blind
Neues Lexikon räumt mit Vorurteilen über die Hessen auf / Ebbelweifreie Zonen
FRANKFURT. Kaum ein Vorurteil über die Hessen ist so verbreitet wie die Ansicht, sie seien blind und bisweilen auch "daab" (taub/stumpfsinnig). Wo das Sprichwort über die angeblich blinden Hessen herkommt und wie sie tatsächlich sind, haben drei Kenner von Land und Leuten in einem neuen "Hessen-Lexikon" zusammengetragen. Daraus geht hervor, dass die Menschen zwischen Neckar und Werra alles andere als blind sind, sondern seit jeher mit Erfindungsreichtum, derbem Humor, kerniger Ausdrucksweise und durstigen Kehlen gesegnet waren.
Gerd Bauer, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, drei Redakteure des Hessischen Rundfunks, sind bei ihren Recherchen für das Lexikon bis zu 50 Millionen Jahre tief in die Geschichte des Landes eingedrungen. So alt jedenfalls sind die Fossilienfunde aus der Grube Messel, die zu den bedeutendsten Naturdenkmälern der Menschheit gehört. Keine 30 Kilometer Luftlinie davon entfernt wurden die Autoren bei ihrer Suche nach den ältesten menschlichen Überresten fündig: Bei Kelsterbach am Main hatten Bauarbeiter Anfang 1952 die Schädeldecke einer Frau ausgebaggert, die 32000 Jahre dort verschüttet war. Die Dame aus dem Kies gilt seitdem als älteste Hessin.
Auf ihrem amüsant geschriebenen Streifzug durch die staunenswerte Geschichte des Landes stießen die Journalisten auf eine Reihe von Erfindungen, die von hier aus in alle Welt getragen wurden. Das Aluminium beispielsweise hat der Frankfurter Chemiker Friedrich Wöhler 1827 bei Experimenten mit Tonerde und Chlorgas entdeckt, die Kathodenstrahlröhre - die Grundform des Fernsehschirms - entwickelte der Fuldaer Physiker Karl-Ferdinand Braun. Dichter, Denker und andere Prominente von Goethe über die Battenberger und Oranier bis zu den Rothschilds bekommen reichlich Platz in der Sammlung der hessischen Glanzpunkte.
Dass die Hessen zu Essen und Trinken immer ein besonders inniges Verhältnis hatten, belegen nicht nur Frankfurter Würstchen, die Rindswurst und die Grüne Soße, sondern auch die rund um den Erdball verbreitete Schweppes-Brause. Der Silberschmied Jean Jacob Schweppe aus Witzenhausen bastelte 1765 eine Maschine, die aus einfachem Wasser Sprudelwasser machen konnte, ließ sich damit in London nieder und gründete eine Sodafabrik. Das Wasser dafür importierte er zunächst sogar aus seiner hessischen Heimat.
Aufgeräumt wird in dem Buch mit der weit verbreiteten Ansicht, der Apfelwein - neuerdings auch Eppler genannt - sei das hessische "Nationalgetränk". Der ganze Norden und Osten des Landes sind fast apfelweinfreie Zonen, und Rheingauer wie Bergsträßer reagieren angesichts ihrer richtigen Weinberge "auf die Erwähnung des Stöffche (Frankfurter Lokalidiom) meist mitleidig bis angewidert", wie die Autoren schreiben. Sie haben auch genau ermittelt, wo sich die unsichtbare Grenze zwischen Wein- und Apfelweintrinkern entlangzieht: "Sie verläuft kurvenreich von Groß-Umstadt nach Wicker und verliert sich dann im Dunkel der Taunuswälder."
Ganz besondere Rückschlüsse auf die Gemütslage des gewöhnlichen Hessen erlaubt ein umfangreiches Dialektwörterbuch im Anhang des Lexikons. Es zeugt auch von dem immensen Einfallsreichtum der Ureinwohner, wenn es um Schmäh- und Schimpfwörter geht. Und was die Mär vom blinden Hessen betrifft: Der genaue Ursprung wird wohl nie mehr gänzlich zu ermitteln sein. Die Frankfurter Redakteure fanden den Begriff zwar in mehreren Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, aber keine plausible Erklärung dafür. Der Sprachforscher Jacob Grimm bemühte zur Deutung sogar den Löwen im hessischen Wappen. Der sei im 16. Jahrhundert scherzhaft Katze genannt worden, und Katzen seien bekanntlich bei der Geburt blind. Andere verwiesen auf den hörbaren Gleichklang des Wortes Katzen mit den hessischen Ureinwohnern, den Chatten. Bei derart gewagten Interpretationen liegt für die Lexikon-Schreiber die Einschätzung als Vorurteil auf der Hand.
WILFRIED WILLUTZKI, dpa
Das Hessen-Lexikon, Bauer/Boehncke/Sarkowicz, 389 Seiten in alter Rechtschreibung, Eichborn-Verlag, 39,80 Mark
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Neues Lexikon räumt mit Vorurteilen über die Hessen auf / Ebbelweifreie Zonen
FRANKFURT. Kaum ein Vorurteil über die Hessen ist so verbreitet wie die Ansicht, sie seien blind und bisweilen auch "daab" (taub/stumpfsinnig). Wo das Sprichwort über die angeblich blinden Hessen herkommt und wie sie tatsächlich sind, haben drei Kenner von Land und Leuten in einem neuen "Hessen-Lexikon" zusammengetragen. Daraus geht hervor, dass die Menschen zwischen Neckar und Werra alles andere als blind sind, sondern seit jeher mit Erfindungsreichtum, derbem Humor, kerniger Ausdrucksweise und durstigen Kehlen gesegnet waren.
Gerd Bauer, Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, drei Redakteure des Hessischen Rundfunks, sind bei ihren Recherchen für das Lexikon bis zu 50 Millionen Jahre tief in die Geschichte des Landes eingedrungen. So alt jedenfalls sind die Fossilienfunde aus der Grube Messel, die zu den bedeutendsten Naturdenkmälern der Menschheit gehört. Keine 30 Kilometer Luftlinie davon entfernt wurden die Autoren bei ihrer Suche nach den ältesten menschlichen Überresten fündig: Bei Kelsterbach am Main hatten Bauarbeiter Anfang 1952 die Schädeldecke einer Frau ausgebaggert, die 32000 Jahre dort verschüttet war. Die Dame aus dem Kies gilt seitdem als älteste Hessin.
Auf ihrem amüsant geschriebenen Streifzug durch die staunenswerte Geschichte des Landes stießen die Journalisten auf eine Reihe von Erfindungen, die von hier aus in alle Welt getragen wurden. Das Aluminium beispielsweise hat der Frankfurter Chemiker Friedrich Wöhler 1827 bei Experimenten mit Tonerde und Chlorgas entdeckt, die Kathodenstrahlröhre - die Grundform des Fernsehschirms - entwickelte der Fuldaer Physiker Karl-Ferdinand Braun. Dichter, Denker und andere Prominente von Goethe über die Battenberger und Oranier bis zu den Rothschilds bekommen reichlich Platz in der Sammlung der hessischen Glanzpunkte.
Dass die Hessen zu Essen und Trinken immer ein besonders inniges Verhältnis hatten, belegen nicht nur Frankfurter Würstchen, die Rindswurst und die Grüne Soße, sondern auch die rund um den Erdball verbreitete Schweppes-Brause. Der Silberschmied Jean Jacob Schweppe aus Witzenhausen bastelte 1765 eine Maschine, die aus einfachem Wasser Sprudelwasser machen konnte, ließ sich damit in London nieder und gründete eine Sodafabrik. Das Wasser dafür importierte er zunächst sogar aus seiner hessischen Heimat.
Aufgeräumt wird in dem Buch mit der weit verbreiteten Ansicht, der Apfelwein - neuerdings auch Eppler genannt - sei das hessische "Nationalgetränk". Der ganze Norden und Osten des Landes sind fast apfelweinfreie Zonen, und Rheingauer wie Bergsträßer reagieren angesichts ihrer richtigen Weinberge "auf die Erwähnung des Stöffche (Frankfurter Lokalidiom) meist mitleidig bis angewidert", wie die Autoren schreiben. Sie haben auch genau ermittelt, wo sich die unsichtbare Grenze zwischen Wein- und Apfelweintrinkern entlangzieht: "Sie verläuft kurvenreich von Groß-Umstadt nach Wicker und verliert sich dann im Dunkel der Taunuswälder."
Ganz besondere Rückschlüsse auf die Gemütslage des gewöhnlichen Hessen erlaubt ein umfangreiches Dialektwörterbuch im Anhang des Lexikons. Es zeugt auch von dem immensen Einfallsreichtum der Ureinwohner, wenn es um Schmäh- und Schimpfwörter geht. Und was die Mär vom blinden Hessen betrifft: Der genaue Ursprung wird wohl nie mehr gänzlich zu ermitteln sein. Die Frankfurter Redakteure fanden den Begriff zwar in mehreren Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, aber keine plausible Erklärung dafür. Der Sprachforscher Jacob Grimm bemühte zur Deutung sogar den Löwen im hessischen Wappen. Der sei im 16. Jahrhundert scherzhaft Katze genannt worden, und Katzen seien bekanntlich bei der Geburt blind. Andere verwiesen auf den hörbaren Gleichklang des Wortes Katzen mit den hessischen Ureinwohnern, den Chatten. Bei derart gewagten Interpretationen liegt für die Lexikon-Schreiber die Einschätzung als Vorurteil auf der Hand.
WILFRIED WILLUTZKI, dpa
Das Hessen-Lexikon, Bauer/Boehncke/Sarkowicz, 389 Seiten in alter Rechtschreibung, Eichborn-Verlag, 39,80 Mark
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