Philipp Scheidemann, 1865-1939, war einer der bedeutendsten und populärsten Politiker seiner Zeit. 1919 zum ersten Reichskanzler der jungen deutschen Republik ernannt, trat er schon nach kurzer Zeit aus Protest gegen den Versailler Vertrag zurück. Für die Nazis war Scheidemann die Verkörperung des politischen Feindes schlechthin. 1933 musste er nach Morddrohungen daher sofort ins Exil gehen.
In diesem Buch wirft Scheidemann der eigenen Partei und ihrer Führung ein doppeltes Versagen vor, das zur europäischen Katastrophe von 1933 geführt hat: obwohl die SPD 1918/19 über entscheidende Machtpositionen in der jungen Republik verfügte, hat sie nicht radikal genug mit den Strukturen und einflussreichen Gruppen des Kaiserreichs gebrochen. Weil keine wirklich demokratische Reform der Verwaltungs- und Machtstrukturen im Reich durchgesetzt wurde, konnten die reaktionären Kräfte wieder an Einfluss gewinnen. 1932/33 dann hat die SPD-Führung ihre kampfbereite Anhängerschaft so lange zur "Diszipl in" gemahnt und mit dem Argument hingehalten, zum rechten Zeitpunkt werde sie den Generalstreik ausrufen, bis es zu spät war, Hitler zu verhindern.
Scheidemanns brisante Schriften aus dem Exil sind bisher nicht der Öffentlichkeit zugänglich gewesen.
In diesem Buch wirft Scheidemann der eigenen Partei und ihrer Führung ein doppeltes Versagen vor, das zur europäischen Katastrophe von 1933 geführt hat: obwohl die SPD 1918/19 über entscheidende Machtpositionen in der jungen Republik verfügte, hat sie nicht radikal genug mit den Strukturen und einflussreichen Gruppen des Kaiserreichs gebrochen. Weil keine wirklich demokratische Reform der Verwaltungs- und Machtstrukturen im Reich durchgesetzt wurde, konnten die reaktionären Kräfte wieder an Einfluss gewinnen. 1932/33 dann hat die SPD-Führung ihre kampfbereite Anhängerschaft so lange zur "Diszipl in" gemahnt und mit dem Argument hingehalten, zum rechten Zeitpunkt werde sie den Generalstreik ausrufen, bis es zu spät war, Hitler zu verhindern.
Scheidemanns brisante Schriften aus dem Exil sind bisher nicht der Öffentlichkeit zugänglich gewesen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2003Scheidemanns Abrechnung
Aus der Sicht des Ausgebürgerten hatten die Sozialdemokraten versagt
Philipp Scheidemann: Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil. Herausgegeben von Frank R. Reitzler. Mit einer Einleitung von Claus-Dieter Krohn. Verlag zu Klampen, Lüneburg 2002. 230 Seiten, 19,80 [Euro].
In der SPD zählt Philipp Scheidemann zu einer kleinen, aber feinen Spezies. Er war selbstbewußt und selbstsicher, innerlich frei. "Der Feind steht rechts", hatte er beizeiten erkannt, ohne sich in seinem Haß auf die Kommunisten zu mäßigen. Doch die sich selbst genügenden SPD-Funktionäre mochten ihn nicht. In der Führung um Friedrich Ebert und Otto Wels war sein Rat nicht gefragt.
Der Prager Emigrationsvorstand, der nach der "Machtergreifung" Hitlers immerhin die Parteikasse gerettet hatte, ließ Scheidemann keinen Pfennig zukommen. Ihm halfen erst tschechische, dann dänische Genossen. Dabei hatte er auf der ersten Ausbürgerungsliste im August 1933 ganz oben gestanden. Für die Nationalsozialisten war er Inbegriff des "Novemberverbrechers". Am 9. November 1918 hatte Scheidemann die Republik ausgerufen - um den Bolschewiken zuvorzukommen und dennoch zum Entsetzen Eberts. Sein leidenschaftlicher und hellseherischer Kampf gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags ("Welche Hand müßte nicht verdorren ...") machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Kämpferische, national gesinnte Sozialdemokraten waren im "Dritten Reich" besonders verhaßt.
Scheidemann war im Juni 1919 vom Amt des Ministerpräsidenten zurückgetreten. Er wurde Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Kassel, blieb im Reichstag und hielt Reden landauf, landab. Doch in der SPD bekam Scheidemann fortan kein Bein mehr auf den Boden. Die Bücher des gelernten Schriftsetzers, der auch selbst schreiben konnte, verbreitete die Partei nicht. Daß Scheidemann immer solidarisch mit der SPD war und nie verbitterte, daß er bei aller Kritik um Gerechtigkeit bemüht war, half ihm wenig. In der Hektik des Weimarer Endkampfes hatte Scheidemann andere Sorgen als Karriere und Publizität.
Doch in der Einsamkeit von Kopenhagen und empört über die revolutionären Phrasen, die der Exilvorstand nun losläßt, greift Scheidemann immer wieder zur Feder, hält seine letzten Weimarer Kämpfe fest, beschreibt seine Flucht, sagt den Zweiten Weltkrieg voraus und rechnet ab - mit der Politik der SPD und deren Vormann Ebert. Er schlägt den Bogen vom Kaiserreich bis ins Jahr 1923. Scheidemann, auf den zwei Wochen zuvor selbst ein Attentat verübt worden war, verlangte nach der Ermordung Walther Rathenaus am 24. Juni 1922 vergebens die Auflösung des Reichstags. Er war sicher, daß eine feste Weimarer Mehrheit "gegen die Reaktion" zustande gekommen und dann "der Münchner Hitlerputsch", der Einmarsch der Entente-Truppen ins Rheinland und die Inflation unmöglich geworden wären.
Scheidemann weiß und resümiert, daß "der Hitlerumsturz" 1933 in der Hauptsache "das Ergebnis der Kriegsnachwirkungen und der Weltwirtschaftskrise" war. Er weiß aber auch, daß "andere Ursachen persönlicher und parteipolitischer Art" mindestens hineingespielt haben. Die zu untersuchen hat ihm am trostlosen Ende seines bewegten Lebens - er starb 1939 - das Herz erleichtert. Er konnte nicht wissen, daß bis zur Veröffentlichung fast sieben Jahrzehnte vergehen würden. Denn seine Erben erhofften den sozialdemokratischen Segen. Auf den aber konnten sie lange warten.
Die Ollenhauer-SPD in der frühen Bundesrepublik stammte in direkter Linie von jener Partei ab, die Scheidemann eine Versagerin nannte. Daß aber auch Carlo Schmid und Willy Brandt die Publikation noch verhindert hätten, ist eine wichtigtuerische Unterstellung des Herausgebers. Sie schadet dem Buch ebenso wie die dürftige Einleitung. Der Herausgeber weiß offenbar nicht, daß Brandt in seiner Zeit als Parteivorsitzender eine andere Publikation förderte und mit eigenem Vorwort versah, die an Schärfe und Unnachsichtigkeit alles in den Schatten stellt, was Scheidemann je zu Papier brachte: "Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie", verfaßt von dem hingerichteten Widerstandskämpfer Julius Leber.
BRIGITTE SEEBACHER-BRANDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Sicht des Ausgebürgerten hatten die Sozialdemokraten versagt
Philipp Scheidemann: Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil. Herausgegeben von Frank R. Reitzler. Mit einer Einleitung von Claus-Dieter Krohn. Verlag zu Klampen, Lüneburg 2002. 230 Seiten, 19,80 [Euro].
In der SPD zählt Philipp Scheidemann zu einer kleinen, aber feinen Spezies. Er war selbstbewußt und selbstsicher, innerlich frei. "Der Feind steht rechts", hatte er beizeiten erkannt, ohne sich in seinem Haß auf die Kommunisten zu mäßigen. Doch die sich selbst genügenden SPD-Funktionäre mochten ihn nicht. In der Führung um Friedrich Ebert und Otto Wels war sein Rat nicht gefragt.
Der Prager Emigrationsvorstand, der nach der "Machtergreifung" Hitlers immerhin die Parteikasse gerettet hatte, ließ Scheidemann keinen Pfennig zukommen. Ihm halfen erst tschechische, dann dänische Genossen. Dabei hatte er auf der ersten Ausbürgerungsliste im August 1933 ganz oben gestanden. Für die Nationalsozialisten war er Inbegriff des "Novemberverbrechers". Am 9. November 1918 hatte Scheidemann die Republik ausgerufen - um den Bolschewiken zuvorzukommen und dennoch zum Entsetzen Eberts. Sein leidenschaftlicher und hellseherischer Kampf gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags ("Welche Hand müßte nicht verdorren ...") machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Kämpferische, national gesinnte Sozialdemokraten waren im "Dritten Reich" besonders verhaßt.
Scheidemann war im Juni 1919 vom Amt des Ministerpräsidenten zurückgetreten. Er wurde Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Kassel, blieb im Reichstag und hielt Reden landauf, landab. Doch in der SPD bekam Scheidemann fortan kein Bein mehr auf den Boden. Die Bücher des gelernten Schriftsetzers, der auch selbst schreiben konnte, verbreitete die Partei nicht. Daß Scheidemann immer solidarisch mit der SPD war und nie verbitterte, daß er bei aller Kritik um Gerechtigkeit bemüht war, half ihm wenig. In der Hektik des Weimarer Endkampfes hatte Scheidemann andere Sorgen als Karriere und Publizität.
Doch in der Einsamkeit von Kopenhagen und empört über die revolutionären Phrasen, die der Exilvorstand nun losläßt, greift Scheidemann immer wieder zur Feder, hält seine letzten Weimarer Kämpfe fest, beschreibt seine Flucht, sagt den Zweiten Weltkrieg voraus und rechnet ab - mit der Politik der SPD und deren Vormann Ebert. Er schlägt den Bogen vom Kaiserreich bis ins Jahr 1923. Scheidemann, auf den zwei Wochen zuvor selbst ein Attentat verübt worden war, verlangte nach der Ermordung Walther Rathenaus am 24. Juni 1922 vergebens die Auflösung des Reichstags. Er war sicher, daß eine feste Weimarer Mehrheit "gegen die Reaktion" zustande gekommen und dann "der Münchner Hitlerputsch", der Einmarsch der Entente-Truppen ins Rheinland und die Inflation unmöglich geworden wären.
Scheidemann weiß und resümiert, daß "der Hitlerumsturz" 1933 in der Hauptsache "das Ergebnis der Kriegsnachwirkungen und der Weltwirtschaftskrise" war. Er weiß aber auch, daß "andere Ursachen persönlicher und parteipolitischer Art" mindestens hineingespielt haben. Die zu untersuchen hat ihm am trostlosen Ende seines bewegten Lebens - er starb 1939 - das Herz erleichtert. Er konnte nicht wissen, daß bis zur Veröffentlichung fast sieben Jahrzehnte vergehen würden. Denn seine Erben erhofften den sozialdemokratischen Segen. Auf den aber konnten sie lange warten.
Die Ollenhauer-SPD in der frühen Bundesrepublik stammte in direkter Linie von jener Partei ab, die Scheidemann eine Versagerin nannte. Daß aber auch Carlo Schmid und Willy Brandt die Publikation noch verhindert hätten, ist eine wichtigtuerische Unterstellung des Herausgebers. Sie schadet dem Buch ebenso wie die dürftige Einleitung. Der Herausgeber weiß offenbar nicht, daß Brandt in seiner Zeit als Parteivorsitzender eine andere Publikation förderte und mit eigenem Vorwort versah, die an Schärfe und Unnachsichtigkeit alles in den Schatten stellt, was Scheidemann je zu Papier brachte: "Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie", verfaßt von dem hingerichteten Widerstandskämpfer Julius Leber.
BRIGITTE SEEBACHER-BRANDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Viel hält Rezensentin Brigitte Seebacher-Brandt vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, den sie zu einer "kleinen aber feinen Spezies" innerhalb der SPD zählt: "selbstbewusst, selbstsicher und innerlich frei". Seinen leidenschaftlichen und hellseherischen Kampf gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrages rühmt sie ebenso wie seine unabhängige Haltungen gegenüber Kommunisten und Rechtsradikalen. Wenig jedoch hält sie von der vorliegenden Edition mit Scheidemann-Schriften, die ihren Informationen zufolge schon in der Einsamkeit des Kopenhagener Exil entstanden sind, jedoch erst jetzt veröffentlicht wurden. Ihr negatives Urteil bezieht sich nicht auf die Schriften selbst, in denen sie Scheidemann nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland mit der Politik der SPD und "deren Vormann Ebert" abrechnen sieht und das Versagen der Partei im "Weimarer Endkampf um die Demokratie". Ihre Kritik gilt eher der "dürftigen" Einleitung von Klaus-Dieter Krohn, die sie für das Buch ebenso schädlich findet, wie die Behauptung des Herausgebers, nicht nur die Ollenhauer-SPD hätte einer Publikation jahrzehntelang den sozialdemokratischen Segen verweigert, sondern auch Carlo Schmid und Willy Brandt hätten eine Publikation verhindert, die sie als "wichtigtuerische Unterstellung" bezeichnet.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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