Zwei Frauen im Zug, sie kennen sich nicht, aber plötzlich verraten sie einander Geheimnisse, die man sonst nur einem Beichtvater anvertraut - oder eben einer Wildfremden. Eine Studie voller zarter Poesie über eine Eigenschaft, die zum Menschen gehört wie die Luft zum Atmen: die Kunst der Selbsttäuschung.
Sibylle Mulot geht durchs Leben und stößt dabei auf fabelhafte Geschichten. Sie muß ihre Erzählstoffe nicht erst suchen - die Stoffe drängen sich ihr auf. Mit Ironie und Gelassenheit beschreibt Sibylle Mulot eine Eigenschaft, die zu den Menschen gehört wie die Luft zum Atmen: die Kunst der Selbsttäuschung.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Sibylle Mulot geht durchs Leben und stößt dabei auf fabelhafte Geschichten. Sie muß ihre Erzählstoffe nicht erst suchen - die Stoffe drängen sich ihr auf. Mit Ironie und Gelassenheit beschreibt Sibylle Mulot eine Eigenschaft, die zu den Menschen gehört wie die Luft zum Atmen: die Kunst der Selbsttäuschung.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.1997Beichtende bahnfahrende Damen
Sieben Stunden sind noch lange kein Tag: Sibylle Mulot erstellt ein Horoskop · Von Helmuth Kiesel
Nicht selten hört man die Klage, daß die deutsche Gegenwartsliteratur besonders arm sei an gut geschriebenen und unterhaltsamen Büchern, die gedanklich gleichwohl nicht "unter Niveau" gehen. Wenn dem so sein sollte, dann wäre dies ein Grund mehr, auf Sibylle Mulot aufmerksam zu machen. In ihren beiden ersten und kleinen Romanen ("Einen Mann für sich allein", 1991, und "Liebeserklärungen", 1994) hat sie uns die Reize, aber auch die Frustrationen der freizügigen Liebe unserer Zeit vor Augen geführt. Mit ihrem dritten Roman ("Nachbarn", 1995) hat sie behutsam die bis heute spürbaren Verwerfungen aus der Zeit von Kollaboration und Résistance zur Sprache gebracht. Nun hat sie wieder ein Büchlein vorgelegt, das geeignet sein dürfte, ihren Ruf als unterhaltsame und kluge Erzählerin zu erneuern und zu festigen. "Das Horoskop" weist keine Gattungsbezeichnung auf, doch wird der Text als Erzählung oder gar als Novelle zu deklarieren sein, auch wenn er weitgehend aus Dialogpartien besteht. Es geschieht nämlich nicht viel, aber es wird viel geredet.
Zwei gepflegte und kultivierte Damen, eine ältere und eine jüngere, treffen sich zufällig im Zug von Friedrichshafen über Basel nach Paris. Man hilft sich beim Transit in Basel, kommt sich dabei etwas näher, setzt sich im Zug nach Paris vollends zusammen. Draußen ziehen, momentweise wahrgenommen, die französischen Landschaften vorbei, von der Erzählerin mit wenigen Worten treffend charakterisiert und für die Evokation der Stimmung genutzt. Im Zug gibt derweilen die ältere der beiden Damen, zunächst eine souveräne Erscheinung, ihren Lebenskummer preis: Ihr Sohn, ein Arzt, hat nach der Heirat mit einer Frau, von der sie nur einmal ein flüchtiges Bild in einer Zeitung zu sehen bekam, den Kontakt zu ihr ohne jede Erklärung abgebrochen und ihr durch einen Rechtsanwalt verbieten lassen, ihre beiden Enkelkinder auch nur anzusprechen.
Diese betrüblichen Mitteilungen werden nun für die jüngere Zufallsbekanntschaft durchaus problematisch, weil sie - nein! nicht gleich die unbekannte Schwiegertochter ist (so perfekt arbeitet das Schicksal nicht einmal in dieser novellistisch durchkonstruierten Erzählung), aber doch in einer vergleichbaren Situation steckt: Auch ihr Mann hat die Verbindung zu seinen Eltern, speziell zu seiner Mutter, abgebrochen; auch bei ihr läuft ein Riß durch die Familie, der für sie allerdings begründet ist und von ihr akzeptiert wird, wiewohl er belastend wirkt. Ein und dieselbe Situation also, aber aus zwei ganz und gar verschiedenen Perspektiven gesehen.
Von Basel nach Paris fährt man nahezu sieben Stunden: Zeit genug für vertrauliche Bekenntnisse, peinliche Selbstentblößungen und wechselseitige Entlarvungen. Was könnte da nicht alles zur Sprache kommen, zumal die ältere der beiden Damen selbstgefällig genug ist, um aus ihrem etwas naiven Herzen keine Mördergrube zu machen, und die jüngere einen scharfen analytischen Blick hat. Aber beide sind sie urban und dezent genug, um einander nicht weh zu tun. Es bleibt bei Andeutungen und vorsichtigen Fragen oder Vermutungen, in denen Kritik nur leise mitschwingt. Das aber genügt, um erkennen zu lassen, wie solche Verhältnisse zustande kommen und wie sie rationalisiert werden. Die Macht einengender Lebensmuster und böser Worte wird sichtbar, auch die Bereitschaft, über Leichen zu gehen und den Tod anderer in den Lebensplan mit einzukalkulieren. Auch der Glaube der älteren Dame an das Horoskop, dem sich der Titel der Erzählung verdankt, spielt hier eine Rolle; es läßt auf entscheidende Veränderungen hoffen.
Solche treten am Ende auch ein: In Paris wird die ältere Dame nicht, wie erwartet, von ihrem Mann abgeholt, sondern von ihrem Sohn. Der Grund dafür war freilich aus dem Horoskop nicht zu ersehen und sei hier im Interesse neugieriger Leser verschwiegen. Im übrigen bleibt alles Weitere offen, auch die Frage, welche Konklusionen die jüngere der beiden Damen aus dieser unvermuteten Spiegelung ihrer Situation für sich zieht. Sibylle Mulot vergegenwärtigt zwei bedenkenswerte Fälle familiären Dissenses, gibt aber keine Lösung, die mustergültig sein wollte. Sie ist eine kluge Psychologin und gelassene Moralistin, will aber offensichtlich nicht als Ratgeberin auftreten. Und vor allem ist sie eine geschickte Dramaturgin (wie trotz der erzählerischen Gattung gesagt sei), die es versteht, das Gespräch zwischen den beiden Damen so anregend zu gestalten, daß die siebenstündige Bahnfahrt von Basel nach Paris wie im Flug vergeht.
Sibylle Mulot: "Das Horoskop". Diogenes Verlag, Zürich 1997. 125 Seiten, geb., 29,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sieben Stunden sind noch lange kein Tag: Sibylle Mulot erstellt ein Horoskop · Von Helmuth Kiesel
Nicht selten hört man die Klage, daß die deutsche Gegenwartsliteratur besonders arm sei an gut geschriebenen und unterhaltsamen Büchern, die gedanklich gleichwohl nicht "unter Niveau" gehen. Wenn dem so sein sollte, dann wäre dies ein Grund mehr, auf Sibylle Mulot aufmerksam zu machen. In ihren beiden ersten und kleinen Romanen ("Einen Mann für sich allein", 1991, und "Liebeserklärungen", 1994) hat sie uns die Reize, aber auch die Frustrationen der freizügigen Liebe unserer Zeit vor Augen geführt. Mit ihrem dritten Roman ("Nachbarn", 1995) hat sie behutsam die bis heute spürbaren Verwerfungen aus der Zeit von Kollaboration und Résistance zur Sprache gebracht. Nun hat sie wieder ein Büchlein vorgelegt, das geeignet sein dürfte, ihren Ruf als unterhaltsame und kluge Erzählerin zu erneuern und zu festigen. "Das Horoskop" weist keine Gattungsbezeichnung auf, doch wird der Text als Erzählung oder gar als Novelle zu deklarieren sein, auch wenn er weitgehend aus Dialogpartien besteht. Es geschieht nämlich nicht viel, aber es wird viel geredet.
Zwei gepflegte und kultivierte Damen, eine ältere und eine jüngere, treffen sich zufällig im Zug von Friedrichshafen über Basel nach Paris. Man hilft sich beim Transit in Basel, kommt sich dabei etwas näher, setzt sich im Zug nach Paris vollends zusammen. Draußen ziehen, momentweise wahrgenommen, die französischen Landschaften vorbei, von der Erzählerin mit wenigen Worten treffend charakterisiert und für die Evokation der Stimmung genutzt. Im Zug gibt derweilen die ältere der beiden Damen, zunächst eine souveräne Erscheinung, ihren Lebenskummer preis: Ihr Sohn, ein Arzt, hat nach der Heirat mit einer Frau, von der sie nur einmal ein flüchtiges Bild in einer Zeitung zu sehen bekam, den Kontakt zu ihr ohne jede Erklärung abgebrochen und ihr durch einen Rechtsanwalt verbieten lassen, ihre beiden Enkelkinder auch nur anzusprechen.
Diese betrüblichen Mitteilungen werden nun für die jüngere Zufallsbekanntschaft durchaus problematisch, weil sie - nein! nicht gleich die unbekannte Schwiegertochter ist (so perfekt arbeitet das Schicksal nicht einmal in dieser novellistisch durchkonstruierten Erzählung), aber doch in einer vergleichbaren Situation steckt: Auch ihr Mann hat die Verbindung zu seinen Eltern, speziell zu seiner Mutter, abgebrochen; auch bei ihr läuft ein Riß durch die Familie, der für sie allerdings begründet ist und von ihr akzeptiert wird, wiewohl er belastend wirkt. Ein und dieselbe Situation also, aber aus zwei ganz und gar verschiedenen Perspektiven gesehen.
Von Basel nach Paris fährt man nahezu sieben Stunden: Zeit genug für vertrauliche Bekenntnisse, peinliche Selbstentblößungen und wechselseitige Entlarvungen. Was könnte da nicht alles zur Sprache kommen, zumal die ältere der beiden Damen selbstgefällig genug ist, um aus ihrem etwas naiven Herzen keine Mördergrube zu machen, und die jüngere einen scharfen analytischen Blick hat. Aber beide sind sie urban und dezent genug, um einander nicht weh zu tun. Es bleibt bei Andeutungen und vorsichtigen Fragen oder Vermutungen, in denen Kritik nur leise mitschwingt. Das aber genügt, um erkennen zu lassen, wie solche Verhältnisse zustande kommen und wie sie rationalisiert werden. Die Macht einengender Lebensmuster und böser Worte wird sichtbar, auch die Bereitschaft, über Leichen zu gehen und den Tod anderer in den Lebensplan mit einzukalkulieren. Auch der Glaube der älteren Dame an das Horoskop, dem sich der Titel der Erzählung verdankt, spielt hier eine Rolle; es läßt auf entscheidende Veränderungen hoffen.
Solche treten am Ende auch ein: In Paris wird die ältere Dame nicht, wie erwartet, von ihrem Mann abgeholt, sondern von ihrem Sohn. Der Grund dafür war freilich aus dem Horoskop nicht zu ersehen und sei hier im Interesse neugieriger Leser verschwiegen. Im übrigen bleibt alles Weitere offen, auch die Frage, welche Konklusionen die jüngere der beiden Damen aus dieser unvermuteten Spiegelung ihrer Situation für sich zieht. Sibylle Mulot vergegenwärtigt zwei bedenkenswerte Fälle familiären Dissenses, gibt aber keine Lösung, die mustergültig sein wollte. Sie ist eine kluge Psychologin und gelassene Moralistin, will aber offensichtlich nicht als Ratgeberin auftreten. Und vor allem ist sie eine geschickte Dramaturgin (wie trotz der erzählerischen Gattung gesagt sei), die es versteht, das Gespräch zwischen den beiden Damen so anregend zu gestalten, daß die siebenstündige Bahnfahrt von Basel nach Paris wie im Flug vergeht.
Sibylle Mulot: "Das Horoskop". Diogenes Verlag, Zürich 1997. 125 Seiten, geb., 29,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Kunstvoll verknüpft Sibylle Mulot die Fensterblicke auf die vorbeiziehende Landschaft mit der allmählich sich abzeichnenden, zum Teil verdorrten Landschaft dieses Frauenlebens. Als schließlich Paris in Sichtweite kommt und die Häuser immer dichter beieinander stehen, verdichtet sich auch das imaginierte Netz der familiären Bezüge und Beziehungen."
(Westfälische Rundschau)
(Westfälische Rundschau)
»Die Autorin erzählt in einer Sprache, die glänzt und glitzert wie das Meer zur Hochsommerzeit.« Nicole Hess / Tages-Anzeiger Tages-Anzeiger