Ein Künstler fährt los, seine abhandengekommene Fantasie zu suchen. Er übernachtet in einem alten Hotel und begegnet dabei Leuten, die ihm irgendwie bekannt erscheinen, auch wenn sie aus anderen Zeiten und Welten kommen. Woher? Wozu? Das eigentliche Rätsel aber ist, wonach sie alle so sehnsüchtig suchen.
Der Maler ist unverkennbar Roberto Innocenti selbst. Sein Suchen unter Suchenden wird so zum Detektivspiel über die seine Inspiration und über seine Lieblingsfiguren in der Weltliteratur.
Der Maler ist unverkennbar Roberto Innocenti selbst. Sein Suchen unter Suchenden wird so zum Detektivspiel über die seine Inspiration und über seine Lieblingsfiguren in der Weltliteratur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Das Hotel mit dem falschen Namen
Träume brauchen keine Texte: Roberto Innocentis Bilder der Sehsucht
Da gibt es ein Hotel, ganz am Westrand der Bretagne, wo die kargen Felsen wie verkrümmte Finger in den Atlantik tasten. Finisterre jedoch darf dieses Land nicht heißen, Fernsehen ist hier unerwünscht, denn dort ist alles Anfang, und "Hotel zur Sehnsucht" heißt das Gasthaus. Hier kehrt ein Zeichner ein, dem es an Phantasie gebricht. Vor ihm im Gästebuch stehen unter anderem Peter Pan, Oliver Twist und Huckleberry Finn.
Was tut der Zeichner hier? Er sucht Inspiration. Die mag er finden in dem Haus, das aus der Ferne klein und schmal erscheint, auf den Tableaus des Bilderbuchs jedoch im Innern wie ein Schloß gezeigt wird. Da gibt es Wintergärten und Salons, die keinen Platz im Bruchsteinhaus haben können - und doch glaubt man den Bildern, man will ihnen glauben, denn es ist soviel Anheimelndes darin.
Was aber suchten Pan und Twist und Finn? Sie suchten einen Sinn für ihre Anwesenheit. Denn den verweigert dieses Buch. Es versammelt neben dem gehemmten Zeichner zwar ein halbes Dutzend weiterer Logierende, doch warum die kleine Meerjungfrau, Long John Silver, Peter Lorre, Antoine de Saint-Exupéry und doch noch Huckleberry Finn hier sehnsuchtsvoll am Meere schmachten, das sagt uns das Autorenduo nicht.
Vielmehr, es sagt es doch. Es überzeugt nur nicht. Der eine sucht das Glück (John Silver), die andere angeblich Bücherwissen (die kleine Meerjungfrau), als dritter strebt Herr Lorre nach den Farben und Huckleberry Finn nach Wundern. Nur der Pilot, Saint-Exupéry, soll keine Träume haben. Da stößt die Konzeption des Buchs an Grenzen - oder vielleicht wurde er auch einfach nur vergessen in jener Liste, die ein Inventar der Sehnsucht schreibt: Wunder, Bücher, Glück und Farben. Dazu noch Sinn und Liebe, Ganzheit, Abenteuer, Edelmut und eben Phantasie. Viel billiger ging's wirklich nicht.
Vielleicht ist etwas schiefgegangen. Die Grundidee - deshalb die Rede vom Autorenpaar - stammt von Roberto Innocenti, die Story selbst schrieb J. Patrick Lewis. Wenn jedoch das Nachwort nicht schwindelt, hatte Innocenti all die prachtvollen Bilder dieses Buches schon gezeichnet, bevor Lewis sie durch seinen Text verband. Und dieser Text, er ist so schwatzhaft, bildungshuberisch, bedeutungsschwer (und die deutsche Übersetzung tut auch noch das ihrige dazu), mit einem Wort: kindungeeignet, daß man am besten das Gedruckte abdeckt und sich allein den Bildern stellt.
Denn dann geschieht, was wohl auch Lewis widerfahren ist: Man kommt ins Träumen. Bei Lewis wurde daraus Text, gewiß ein ganz privater, poetisch sicher auch, doch ganz erkennbar immer noch (und bloß) ein Traum. Und nichts ist unergiebiger als bloße Traumprotokolle. Der Leser selbst - in dem Fall der Betrachter - träumt für sich allemal so gut. Und das kann er auch tun bei diesen detaillierten, vor Zeichenfreude überschäumenden Bildern, wo Kleinigkeiten noch und noch zu finden sind, und jedes Kind (und manches Elternteil wohl auch) vom Schauen gar nicht lassen wird. "Traumland" mag ein schlechter Name fürs Hotelgewerbe sein, doch hier hätte er allemal besser gepaßt als "Zur Sehnsucht". Man kann um diese Bilder rund herum erzählen, zahllose Geschichten stecken drin. Daß just die eine anspielungsreiche, doch phantasiearme Fassung von Lewis ihren Weg zwischen die beiden Deckel gefunden hat, ist traurig, aber doch kein Schaden, solange sie nicht die Lust am Hinsehen tötet. Und da sind all die meisterhaften Illustrationen vor. "Hotel zur Sehsucht" hätte all das heißen sollen.
ANDREAS PLATTHAUS
Roberto Innocenti, J. Patrick Lewis: "Das Hotel zur Sehnsucht". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans ten Doornkaat. Patmos Verlag, Düsseldorf 2002. 48 S., geb., 18,- [Euro]. Für jedes Alter.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Träume brauchen keine Texte: Roberto Innocentis Bilder der Sehsucht
Da gibt es ein Hotel, ganz am Westrand der Bretagne, wo die kargen Felsen wie verkrümmte Finger in den Atlantik tasten. Finisterre jedoch darf dieses Land nicht heißen, Fernsehen ist hier unerwünscht, denn dort ist alles Anfang, und "Hotel zur Sehnsucht" heißt das Gasthaus. Hier kehrt ein Zeichner ein, dem es an Phantasie gebricht. Vor ihm im Gästebuch stehen unter anderem Peter Pan, Oliver Twist und Huckleberry Finn.
Was tut der Zeichner hier? Er sucht Inspiration. Die mag er finden in dem Haus, das aus der Ferne klein und schmal erscheint, auf den Tableaus des Bilderbuchs jedoch im Innern wie ein Schloß gezeigt wird. Da gibt es Wintergärten und Salons, die keinen Platz im Bruchsteinhaus haben können - und doch glaubt man den Bildern, man will ihnen glauben, denn es ist soviel Anheimelndes darin.
Was aber suchten Pan und Twist und Finn? Sie suchten einen Sinn für ihre Anwesenheit. Denn den verweigert dieses Buch. Es versammelt neben dem gehemmten Zeichner zwar ein halbes Dutzend weiterer Logierende, doch warum die kleine Meerjungfrau, Long John Silver, Peter Lorre, Antoine de Saint-Exupéry und doch noch Huckleberry Finn hier sehnsuchtsvoll am Meere schmachten, das sagt uns das Autorenduo nicht.
Vielmehr, es sagt es doch. Es überzeugt nur nicht. Der eine sucht das Glück (John Silver), die andere angeblich Bücherwissen (die kleine Meerjungfrau), als dritter strebt Herr Lorre nach den Farben und Huckleberry Finn nach Wundern. Nur der Pilot, Saint-Exupéry, soll keine Träume haben. Da stößt die Konzeption des Buchs an Grenzen - oder vielleicht wurde er auch einfach nur vergessen in jener Liste, die ein Inventar der Sehnsucht schreibt: Wunder, Bücher, Glück und Farben. Dazu noch Sinn und Liebe, Ganzheit, Abenteuer, Edelmut und eben Phantasie. Viel billiger ging's wirklich nicht.
Vielleicht ist etwas schiefgegangen. Die Grundidee - deshalb die Rede vom Autorenpaar - stammt von Roberto Innocenti, die Story selbst schrieb J. Patrick Lewis. Wenn jedoch das Nachwort nicht schwindelt, hatte Innocenti all die prachtvollen Bilder dieses Buches schon gezeichnet, bevor Lewis sie durch seinen Text verband. Und dieser Text, er ist so schwatzhaft, bildungshuberisch, bedeutungsschwer (und die deutsche Übersetzung tut auch noch das ihrige dazu), mit einem Wort: kindungeeignet, daß man am besten das Gedruckte abdeckt und sich allein den Bildern stellt.
Denn dann geschieht, was wohl auch Lewis widerfahren ist: Man kommt ins Träumen. Bei Lewis wurde daraus Text, gewiß ein ganz privater, poetisch sicher auch, doch ganz erkennbar immer noch (und bloß) ein Traum. Und nichts ist unergiebiger als bloße Traumprotokolle. Der Leser selbst - in dem Fall der Betrachter - träumt für sich allemal so gut. Und das kann er auch tun bei diesen detaillierten, vor Zeichenfreude überschäumenden Bildern, wo Kleinigkeiten noch und noch zu finden sind, und jedes Kind (und manches Elternteil wohl auch) vom Schauen gar nicht lassen wird. "Traumland" mag ein schlechter Name fürs Hotelgewerbe sein, doch hier hätte er allemal besser gepaßt als "Zur Sehnsucht". Man kann um diese Bilder rund herum erzählen, zahllose Geschichten stecken drin. Daß just die eine anspielungsreiche, doch phantasiearme Fassung von Lewis ihren Weg zwischen die beiden Deckel gefunden hat, ist traurig, aber doch kein Schaden, solange sie nicht die Lust am Hinsehen tötet. Und da sind all die meisterhaften Illustrationen vor. "Hotel zur Sehsucht" hätte all das heißen sollen.
ANDREAS PLATTHAUS
Roberto Innocenti, J. Patrick Lewis: "Das Hotel zur Sehnsucht". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans ten Doornkaat. Patmos Verlag, Düsseldorf 2002. 48 S., geb., 18,- [Euro]. Für jedes Alter.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Dass "Das Hotel der Sehnsucht", ein Bilderbuch für Kinder von Roberto Innocenti und J. Patrick Lewis, als "kulturgeschichtliches Puzzle" eindeutig der falschen Buchsparte angehört, findet Rezensent Jens Thiele. Schließlich rekurriere das Buch auf ein kulturelles Vorwissen, über das Kinder in keinem Fall verfügen, und sei künstlerisch viel zu anspruchsvoll, als dass die Kleinen es schon in seiner vollen Güte zu schätzen wissen könnten. Nach den Maßstäben für "Erwachsenenbücher" sei das Werk als glänzend zu beurteilen, vor allem wegen der "subtilen Vielschichtigkeit" der phantasievollen Bilder mit ihren zahlreichen Zitaten berühmter Originale wie Kommissar Maigret oder Huckleberry Finn und der "souveränen Bildinszenierung" im erneuerten Stil Innocentis. Doch als ausgewiesenes Bilderbuch für Kinder, so muss der Kritiker leider schließen, sei das Buch ziemlich ungeeignet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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