WAS SPIELT SICH ALLES IN EINER RUHIGEN STRASSE am Rande einer postkommunistischen Provinzstadt ab? Sie werden staunen, so einiges zumindest in den Köpfen der Einwohner. Entweder pensioniert oder arbeitslos, verbringen die Bewohner der Akazienstraße ihre Zeit zumeist in der Kneipe Zerknautschter Traktor, denn das Klatschbedürfnis blüht. In ihrem Leben am Rande der Geschichte wird der Zerknautschte Traktor zum Dreh- und Angelpunkt der Gerüchteküche. Dort wird eine Serie merkwürdiger Ereignisse kommentiert, dort werden fantasiereiche Zukunftspläne geschmiedet. Was verbirgt sich hinter den Gemäuern des Hauses des Obersts? Wie macht man mit Erdwürmern Geld? Diese und viele andere Fragen gilt es zu beantworten, und im Zuge der Konversation verflüchtigt sich auch schon die Realität. Zwischen den Gespenstern der Vergangenheit und dem Phantom der Zukunft entsteht eine neue Welt, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Mit dem Hühnerparadies ist Dan Lungu ein Roman gelungen, der durch Humor, Eleganz und Vitalität besticht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2008Sie wollen sich nur beschweren
Dan Lungus Notizen aus der rumänischen Provinz
Es brodelt ungut unter der Villa des Obersts. Vormals, zu kommunistischer Zeit, befand sich dort eine stinkende Kloakengrube, in der die Abwasserrohre endeten und der Hausmüll der Umgebung entsorgt wurde. Davon weiß der hochnäsige Oberst nichts; aber die missgünstigen Dörfler warten nur darauf, dass sich endlich der erste Riss in der Villa zeigen möge.
Es geht in dem kleinen, schräg vergnüglichen Roman von Dan Lungu nur um eine Straße in der rumänischen Provinz - und doch ist es die Vermessung einer ganzen rissigen Welt, der Welt der "Übergangsgesellschaft" nämlich. Da sich eine verlässliche Gegenwart nicht einstellt und die Zukunft ein Sorgenhorizont ist, erscheint die Vergangenheit im Licht der Verklärung. Der vormalige Schrecken ist inzwischen zu einer Folklore geworden. In einem grotesk liebevollen Ton wird des "Erschossenen", "Durchsiebten", "Durchlöcherten" gedacht - niemand anderes als Ceausescu ist gemeint.
In der Mangelwirtschaft bekam man für sein Geld nichts zu kaufen; trotzdem waren die Kühlschränke zumindest halb voll. Es gab einen regen inoffiziellen Tauschverkehr, der auf der spontanen Abzweigung von Gütern in der Produktion basierte: "Das gute Fleisch wurde in Gummistiefeln oder geschickt um den Körper gewickelt aus dem Schlachthaus geschmuggelt." Schelmische Zeiten waren das offenbar, verglichen mit der postkommunistischen Verarmung. Wer es nicht geschafft hat, sich hier zu bereichern, fühlt sich als "Depp der Übergangsgesellschaft", betroffen von Arbeitslosigkeit, Rentenschwund oder, als naiver Sparer, vom hinterlistigen Investmentbetrug.
Dan Lungu, der 1969 in Botosani geboren wurde und damit eher noch zur sogenannten jüngeren rumänischen Literatur gehört, arbeitet im Hauptberuf als Soziologe an der Universität. Auch sein in seinem Heimatland schon vielbeachteter Roman profitiert bei aller gewitzten Fabulierfreude unbedingt vom soziologisch geschulten Blick. Die Satire der ländlich-kleinbürgerlichen Beschwerdegesellschaft ist mit viel Sympathie und Liebe zum Detail gezeichnet. Das Erzählprinzip ist das Hörensagen - im "Zerknautschten Traktor", der Nachbarschaftskneipe, brodelt die Gerüchteküche. Aus kleinen Vorfällen werden unter Alkoholzufuhr große Geschichten. Die Akazienstraße hat, wie man es von rumänischer Literatur erwartet, ihre phantasmagorischen Momente, wenn Herr Covalciuc vom Regenwurm-wunder in seinem Garten oder von seiner atemberaubenden Vision des Hühner- paradieses erzählt.
Der Sprache ist jedenfalls, neben vielem anderen, auch die Wahrheit über die Vorzeit der Diktatur anvertraut; aber es ist die Frage, ob sie dort auch immer gut aufgehoben ist. Hier ereignet sich schließlich die Wiederkehr des Verdrängten, wenn zum Beispiel die feurigen Augen der Kellnerin des "Zerknautschten Traktors" ausgerechnet mit "zwei Gewehrläufen aus der Zeit der Kollektivierung" verglichen werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Dan Lungu: "Das Hühnerparadies". Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen. Aus dem Rumänischen übersetzt von Aranca Munteanu. Residenz Verlag, Salzburg 2007. 207 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dan Lungus Notizen aus der rumänischen Provinz
Es brodelt ungut unter der Villa des Obersts. Vormals, zu kommunistischer Zeit, befand sich dort eine stinkende Kloakengrube, in der die Abwasserrohre endeten und der Hausmüll der Umgebung entsorgt wurde. Davon weiß der hochnäsige Oberst nichts; aber die missgünstigen Dörfler warten nur darauf, dass sich endlich der erste Riss in der Villa zeigen möge.
Es geht in dem kleinen, schräg vergnüglichen Roman von Dan Lungu nur um eine Straße in der rumänischen Provinz - und doch ist es die Vermessung einer ganzen rissigen Welt, der Welt der "Übergangsgesellschaft" nämlich. Da sich eine verlässliche Gegenwart nicht einstellt und die Zukunft ein Sorgenhorizont ist, erscheint die Vergangenheit im Licht der Verklärung. Der vormalige Schrecken ist inzwischen zu einer Folklore geworden. In einem grotesk liebevollen Ton wird des "Erschossenen", "Durchsiebten", "Durchlöcherten" gedacht - niemand anderes als Ceausescu ist gemeint.
In der Mangelwirtschaft bekam man für sein Geld nichts zu kaufen; trotzdem waren die Kühlschränke zumindest halb voll. Es gab einen regen inoffiziellen Tauschverkehr, der auf der spontanen Abzweigung von Gütern in der Produktion basierte: "Das gute Fleisch wurde in Gummistiefeln oder geschickt um den Körper gewickelt aus dem Schlachthaus geschmuggelt." Schelmische Zeiten waren das offenbar, verglichen mit der postkommunistischen Verarmung. Wer es nicht geschafft hat, sich hier zu bereichern, fühlt sich als "Depp der Übergangsgesellschaft", betroffen von Arbeitslosigkeit, Rentenschwund oder, als naiver Sparer, vom hinterlistigen Investmentbetrug.
Dan Lungu, der 1969 in Botosani geboren wurde und damit eher noch zur sogenannten jüngeren rumänischen Literatur gehört, arbeitet im Hauptberuf als Soziologe an der Universität. Auch sein in seinem Heimatland schon vielbeachteter Roman profitiert bei aller gewitzten Fabulierfreude unbedingt vom soziologisch geschulten Blick. Die Satire der ländlich-kleinbürgerlichen Beschwerdegesellschaft ist mit viel Sympathie und Liebe zum Detail gezeichnet. Das Erzählprinzip ist das Hörensagen - im "Zerknautschten Traktor", der Nachbarschaftskneipe, brodelt die Gerüchteküche. Aus kleinen Vorfällen werden unter Alkoholzufuhr große Geschichten. Die Akazienstraße hat, wie man es von rumänischer Literatur erwartet, ihre phantasmagorischen Momente, wenn Herr Covalciuc vom Regenwurm-wunder in seinem Garten oder von seiner atemberaubenden Vision des Hühner- paradieses erzählt.
Der Sprache ist jedenfalls, neben vielem anderen, auch die Wahrheit über die Vorzeit der Diktatur anvertraut; aber es ist die Frage, ob sie dort auch immer gut aufgehoben ist. Hier ereignet sich schließlich die Wiederkehr des Verdrängten, wenn zum Beispiel die feurigen Augen der Kellnerin des "Zerknautschten Traktors" ausgerechnet mit "zwei Gewehrläufen aus der Zeit der Kollektivierung" verglichen werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Dan Lungu: "Das Hühnerparadies". Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen. Aus dem Rumänischen übersetzt von Aranca Munteanu. Residenz Verlag, Salzburg 2007. 207 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Wunderbar findet Rezensentin Ilma Rakusa die Satire des Soziologen Dan Lungu auf ein Rumänien, das über den Realsozialismus noch nicht hinweg und im Postsozialismus noch nicht angekommen ist: Auf einer Straße einer kleinen Stadt - die Rezensentin fühlt sich an Iasi, den Wohnort des Autors, erinnert - lebt eine bunte Bewohnerschaft. Gerüchte und Geschichten werden am liebsten in der "Cafe-Bar" "Zerknautschter Traktor" ausgetauscht. Man erzählt sich von der Müllhalde unter dem Grundstück des Obersts, Begegnungen mit "Onkel Nicu" alias Ceausescu oder erinnert an die guten alten Zeiten, als man noch nicht mit leeren Taschen vor vollen Supermarktregalen stand. Mal "phantastisch-grotesk" und dann wieder knallhart und treffend findet die Rezensentin Dan Lungus Art, das postkommunistische Chaos in ungebändigter "Fabulierlust" auf die Spitze zu treiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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