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Jessamy Harrison ist ein sensibles und phantasievolles Mädchen. Als Tochter eines englischen Vaters und einer nigerianischen Mutter wächst sie zwischen zwei Kulturen auf und fühlt sich einsam und nirgends zugehörig. Bei ihrer ersten Reise nach Nigeria lernt sie die mütterliche Großfamilie kennen und trifft in einer verlassenen Hütte TillyTilly, ein Mädchen ihres Alters. Es scheint, als ob Jessamy endlich eine Freundin gefunden hat. Aber es gibt ein Geheimnis um TillyTilly: Warum kann niemand außer Jessamy sie sehen, und ist sie tatsächlich so harmlos, wie sie wirkt?

Produktbeschreibung
Jessamy Harrison ist ein sensibles und phantasievolles Mädchen. Als Tochter eines englischen Vaters und einer nigerianischen Mutter wächst sie zwischen zwei Kulturen auf und fühlt sich einsam und nirgends zugehörig.
Bei ihrer ersten Reise nach Nigeria lernt sie die mütterliche Großfamilie kennen und trifft in einer verlassenen Hütte TillyTilly, ein Mädchen ihres Alters. Es scheint, als ob Jessamy endlich eine Freundin gefunden hat. Aber es gibt ein Geheimnis um TillyTilly: Warum kann niemand außer Jessamy sie sehen, und ist sie tatsächlich so harmlos, wie sie wirkt?
Autorenporträt
Helen Oyeyemi, geboren 1984 in Nigeria, kam mit vier Jahren nach London. Inzwischen studiert sie Politologie und Sozialwissenschaften in Cambridge.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2005

Haikus im Schrank
Helen Oyeyemi erzählt von einer Kindheit zwischen den Welten

Eine junge Frau, gerade mal achtzehn Jahre alt, schreibt ihren ersten Roman. Bloß sieben Wochen habe sie dazu gebraucht, heißt es, und sich dabei auch noch aufs Abitur vorbereitet. Ein Wurf also, dem die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit gewiß ist. Anfang dieses Jahres ist das Buch in England erschienen. Inzwischen sind Übersetzungsrechte in vierzehn Länder verkauft worden. Auch die deutsche Ausgabe liegt nun vor.

Helen Oyeyemi ist mit ihrem Roman "Das Ikarus Mädchen" ein hohes Risiko eingegangen. Sie hat ein banales Thema gewählt und sich für eine Erzählperspektive entschieden, an der schon Erfahrenere als sie gescheitert sind. Helen Oyeyemi schreibt über eine Kindheit, die der ihren vermutlich recht ähnlich ist, und sie tut es aus der Sicht einer Achtjährigen, die intellektuell ebenso frühreif wie emotional labil ist. Die Autorin kann für sich in Anspruch nehmen, daß bei ihr das Banale außergewöhnlich und das Gewagte weitgehend gelungen ist.

Helen Oyeyemi erzählt in ihrem Roman die Geschichte eines Kindes, das zwischen den Kulturen aufwächst. Der Vater ist Engländer, die Mutter stammt aus Nigeria. Die Familie lebt in Kent, verbringt aber die Ferien von Zeit zu Zeit bei der mütterlichen Verwandtschaft in Afrika. Kinder wie diese Jessamy Harrison gibt es heute viele. Sie leben wie alle andern, sie reden wie alle andern und gehören doch nirgends so richtig dazu. Helen Oyeyemi ist in Nigeria geboren und im Alter von vier Jahren nach England gekommen. Sie weiß, was es heißt, anders zu sein. In ihrem Roman dringt sie tiefer in die Abgründe gespaltener Identitäten vor, als andere dies vor ihr getan haben. Ihr zu folgen kann auch für den Leser zum Albtraum werden.

Ein Buch wie "Das Ikarus Mädchen" kann man vermutlich nur schreiben, wenn man entweder sehr unbekümmert oder sehr routiniert ist. Helen Oyeyemi ist auf geheimnisvolle Weise beides. Ihre Sprache ist frisch, ihre Erzählweise gekonnt; aber inhaltlich hält sie sich an keinerlei Regeln. Die Sicht des Kindes auf die Realität ist dermaßen subjektiv, daß sie Grenzen zu überschreiten und Naturgesetze außer Kraft zu setzen vermag. Für Jessamy Harrison gelten nur die eigene Wahrnehmung und die eigene Empfindung. Ihr Leidensweg beginnt da, wo ihre Vorstellung von der Welt mit derjenigen ihrer Umgebung kollidiert.

Am Anfang erscheint alles noch relativ harmlos: Jessamy hat sich in einem Schrank versteckt. Das tun andere Kinder auch. Daß sie über Stunden drin bleibt, ist schon eher außergewöhnlich. Und wenn man erfährt, daß die Welt außerhalb des Schranks ihr nicht gefällt, weil sich dort alles viel zu schnell bewegt, ahnt man, daß mit diesem Kind im landläufigen Sinne etwas nicht stimmt. In der Tat verhält sich Jess, wie sie von Eltern und Freunden genannt wird, nicht wie andere Kinder. Sie verfaßt Haikus, hat Wutanfälle, ist häufig krank und sieht Dinge, die andere Menschen nicht sehen.

Zum Beispiel ihre Freundin Titiola, genannt Tilly-Tilly, die sie im Haus ihres Großvaters in Nigeria kennengelernt hat und die ihr nach England gefolgt ist. Ob es sich bei dem seltsamen schwarzen Mädchen um ein Alter ego, eine schlichte Erfindung, ein Wahngebilde oder einen Geist aus dem afrikanischen Busch handelt, wird von der Autorin bewußt offengelassen. Für Jess ist die Freundin real. Sie ist glücklich, weil sie zum ersten Mal einen Menschen gefunden hat, der wie sie ist, der sie versteht und ihre Einsamkeit mit ihr teilt. Sie erfährt, daß sie eine Zwillingsschwester hatte, die bei der Geburt gestorben ist, und begreift plötzlich, warum sie sich bis jetzt immer so unvollkommen, so gespalten vorkam: ein "Halb-so-und-halb-so-Kind", wie sie es einmal formuliert. Mit Tilly-Tilly scheint sie ihre andere Hälfte gefunden zu haben und könnte nun eigentlich ganz werden. Doch das Problem der eigenen Identität und Zugehörigkeit ist damit noch nicht gelöst. Im Gegenteil, je mehr die Freundin sie in Beschlag nimmt, desto weniger weiß Jess, wer sie eigentlich ist. Tilly-Tilly wird mit jeder Begegnung aufdringlicher und beansprucht mehr und mehr Raum in ihrem Leben. Sie drängt sich in ihre Gedanken, sie bemächtigt sich ihres Körpers und läßt die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich auf immer bedrohlichere Weise verschwimmen. Die Suche nach Identität und Zugehörigkeit wird zum Kampf auf Leben und Tod.

Die Psychopathologie hat für derlei Phänomene vermutlich die passende Terminologie: Schizophrenie, Entpersonalisierung, multiple Persönlichkeit und ähnliches mehr. Helen Oyeyemi hat nur ihre Sprache, um zu beschreiben, was in dem Kind, das sie vielleicht einmal war, vor sich geht. In Kaskaden von Bildern, die längst aufgehört haben, zwischen Traum, Magie und Realität zu unterscheiden, folgt sie dem Prozeß der seelischen Desintegration: von den ersten leichten Auffälligkeiten über die allmähliche Persönlichkeitsspaltung bis hin zum fast totalen Verlust des eigenen Ich. Die Schilderung gelingt nur, weil die Autorin keinerlei Reflexion zuläßt, die sich zwischen Geschehen und Text schieben könnte. Auch für sie ist, was sie schildert, unabhängig davon, ob es sich um äußere Ereignisse oder innerseelische Vorgänge handelt.

Erzählerisch unbeschwert und sprachlich kompromißlos nähert sie sich den absonderlichsten Wahrnehmungen und Empfindungen, beschreibt sie, wie sie eine Landschaft oder ein Gespräch zwischen zwei Menschen beschreiben würde, und versetzt damit nach und nach auch den Leser in einen Bewußtseinszustand, der zwischen außen und innen, zwischen eigen und fremd, zwischen real und irreal nicht mehr klar zu unterscheiden weiß - eine höchst befremdliche Erfahrung, der man sich gerne entziehen würde. Daß es nicht gelingt, macht die Faszination des eigenartigen Buches aus.

Bis zum Ende weiß man nicht genau, was man denn nun eigentlich gelesen hat: eine Geschichte über die Schwierigkeiten der Selbstfindung eines zwischen den Kulturen hin und her gerissenen Kindes oder die Beschreibung einer Psychose, in der die europäische Denkweise mit den magischen Vorstellungen Schwarzafrikas eine verstörende Verbindung eingegangen ist. Vermutlich ist es beides, und Helen Oyeyemi hat nicht das geringste Interesse daran, die eine oder die andere Interpretation zu favorisieren. Sie gefällt sich im Verwischen der Konturen und dem Spiel der Bedeutungen. Bisweilen übertreibt sie auch, verliert den Sinn für die Ökonomie ihrer künstlerischen Mittel und strapaziert den Leser mit ermüdender Wiederholung.

Man sieht es ihr nach, weil sie jung ist und so viel Talent hat und auch, weil man spürt, daß hier etwas erzählt wurde, was erzählt werden mußte: die Geschichte einer schweren Krise, deren Ausgang alles andere als vorhersehbar war. Viel fehlte nicht, und Jessamy Harrison wäre sich endgültig abhanden gekommen. Die Tatsache, daß wir das Buch in Händen halten, deutet allerdings darauf hin, daß sie den Weg zurück in die Realität und zu sich selber gefunden hat. Sie ist durch Angst und Grauen hindurchgegangen; aber am Ende ist sie aufgewacht. Das Halb-so-und-halb-so-Kind ist ganz geworden.

KLARA OBERMÜLLER.

Helen Oyeyemi: "Das Ikarus Mädchen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anne Spielmann. Bloomsbury Berlin Verlag, Berlin 2005. 277 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Staunen und Bewunderung erntet Oyeyemis Roman bei Rezensentin Klara Obermüller. Der Autorin gelingen gleich zwei Kunststücke: Zum einen schreibe sie aus der Perspektive eines 8-jährigen Mädchens, und obendrein sei dieses Mädchen auf nahezu pathologische Weise absonderlich. Das könne eigentlich nicht gut gehen, aber die junge Autorin, so Obermüller, sei "auf geheimnisvolle Weise unbekümmert und routiniert" zugleich. Wie ihre kleine Heldin Jessamy sei auch sie zwischen Nigeria und England aufgewachsen. Das Geheimnis oder die Kunst von Oyeyemi, so Obermüller, bestehe im Weglassen aller (Erwachsenen-) "Reflexionen", in einem bilderreichen Erzählen, das keine Grenzen markiere zwischen "Traum, Magie und Realität", zwischen "außen und innen". Eines Tages erfahre die kleine Jessamy, so die Rezensentin, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, die bei der Geburt gestorben sei, und erkennt den Grund ihres Gefühls der Unvollkommenheit, "halb-so-halb-so" zu sein. Der Roman als "sprachlich kompromisslose" Darstellung dieses Gefühls, reibt sich die Rezensentin staunend die Augen, schenke dem Leser eine "höchst befremdliche Erfahrung".

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